Kiemenatmung auf dem Sofa

Peter Praschl über gehauchte Texte, Kommunikation im Aquarium und die schwankende Qualität von Kohlenstoff-Verbindungen

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Peter Praschl, Jahrgang 1959, ist Journalist, unter anderem für die Jungle World, die Amica und das SZ-Magazin. Der Österreicher mit Wohnsitz in Hamburg gründete im Jahr 2000 eines der ersten deutschen Weblogs, sein sofa, dessen Flair seitdem viele Leser zum Verweilen einlädt.

Herr Praschl, was hat die Welt davon, zu wissen, ob Sie gestern Abend Sushi, Spaghetti oder Spätzle aßen?

Peter Praschl: Erzähle ich das in meinen Weblog-Texten? Wahrscheinlich hat die Welt davon genauso viel oder wenig, wie wenn irgendwelche Journalisten Spätzle mit Sushi zu Paris Hiltons Leibgericht erklären.

Diese Journalisten machen sich aber nicht selbst zu Prominenten. Während Sie nicht nur ihre Essgewohnheiten öffentlich machen, sondern auch noch Fotos der eigenen Kinder selbst ins Netz stellen und auf dem sofa, Ihrem Weblog, vom Brustumfang der Gattin berichten. Exhibitionismus, Eitelkeit und Euphorie - warum gibt man soviel Persönliches preis?

Peter Praschl: Nichts davon. Ich spiele in meinem Weblog mit den Vorstellungen und Grenzen von Privatheit und Intimität, indem ich mich selbst zum Objekt mache. Der klassische Journalismus zelebriert häufig Pseudo-Intimität und will dadurch Aufmerksamkeit erzeugen. Dabei ist jedem klar, dass man etwa eine Person wie Paris Hilton nicht kennt, wenn man mit ein paar Intimitäts-Fragmenten gefüttert wird. Personen wie sie, ohne die auch der seriöse Journalismus nicht auszukommen scheint, sind so etwas wie die Summe von völlig unverbundenen Authenzitäts-Trümmern. In meinem Weblog will ich unter anderem das Konstrukt „Intimität“ und dessen Vermarktung in den Medien untersuchen und in Frage stellen.

Auf solche Vermarktungsstrategien beziehen Sie sich wohl auch, wenn Sie dem Journalismus vorwerfen, die Realität zu missbrauchen?

Peter Praschl: Genau. Vor allem aus ökonomischen Gründen gestattet der Journalismus ein schludriges Verhältnis zu sich selbst und zu seinen Gegenständen. Er tut immer noch ungebrochen so, als ginge es ihm darum, seine Konsumenten sachlich und nüchtern über die Welt aufzuklären. Und er hütet sich panisch davor, diese Aufklärung auf seine eigenen Entstehungsbedingungen auszudehnen.

Wenn Sie etwa einen Testbericht über ein neues Mercedes-Modell lesen, können Sie sicher sein, dass alle Beteiligten so tun, als sollte nur der Chronistenpflicht Genüge geleistet werden. In Wahrheit wollte die Anzeigenabteilung, dass wieder einmal etwas für einen guten Anzeigenkunden getan wird. Journalismus klärt also nicht so solide über die Welt auf, wie er es ihr und auch sich selbst einredet. Stattdessen formatiert er sie, bis sie für den Leser spannend, aufregend, kribbelig wird. Der Leser soll schließlich das Magazin und die darin beworbenen Produkte aufregend finden.

Weblogs dagegen finden meistens jenseits ökonomischer Zwecke statt. Deswegen haben sie die Freiheit, auf solche Formatierungen zu verzichten oder mit ihnen zu spielen. Und deswegen sind sie oft viel näher am Leben als viele Produkte, die sich selbst als „Reality“ ausgeben und die Realität nur foltern. Zugespitzt gesagt: eine Sat1-Gerichtsshow verachtet ihre Zuschauer, ein Weblog nimmt seine Leser ernst.

Journalisten können von Bloggern einiges lernen

Als Journalist publizieren Sie in verschiedenen kommerziellen Medien, unter anderem in der Frauen-Zeitschrift Amica. Bereitet Ihnen Ihr Brotjob in Anbetracht der vorangegangenen Überlegungen denn keine Kopfschmerzen?

Peter Praschl: Erstens habe ich noch nie einen Artikel geschrieben, für den ich mich hätte schämen müssen. Zweitens ist klassischer Journalismus, wenn er sich selbst ernst nimmt und seine Spielregeln – die Recherche, das cross checking usw. - befolgt, ganz großartig und unersetzlich. Ich bin sehr gerne Journalist, ich glaube aber, dass Journalisten von Webloggern einiges lernen können. In der Blogosphäre entwickeln sich zum Beispiel viel kreativere Arten, über die Welt zu berichten und Geschichten zu erzählen, als sie der Journalismus bisher kannte. Außerdem sind Blogger ohnehin häufig so etwas Ähnliches wie Journalisten. Wenn etwa jemand, der in einem Chemielabor arbeitet, über seine Chemielabor-Existenz berichtet, ist er sozusagen ein Korrespondent in eigener Sache.

Da Blogger sich dabei aber nicht an die genannten journalistischen Regeln zu halten haben, entstehen Subjektivität und Kreativität in den Weblogs oft auf Kosten der Faktizität. Unter solchen Umständen ist es doch bedenklich, wenn nun die Leute ihre tägliche Zeitungslektüre durch das Lesen solcher Texte von „Korrespondenten in eigener Sache“ ersetzen, oder?

Peter Praschl: Problematisch ist es nur, wenn man sein Wissen über die Welt nur aus wenigen Quellen bezieht. Während sich aber die meisten Zeitungsleser nur aus einer einzigen Zeitung informieren, konsumieren Weblog-Leser in der Regel sehr viele Weblogs, die wiederum für sich nie beanspruchen, vollständig und erschöpfend zu sein. Ich gehe davon aus, dass Weblog-Leser wissen, wie relativ eine jeweilige Weltauffassung ist, und dass sich ein einigermaßen „wahres“ Bild von Welt ohnehin nur zusammenbasteln lässt, quasi aus vielen Korrespondentenberichten, die alle untereinander hochgradig vernetzt sind.

Publizieren in Echtzeit

Führt die Entwicklung von Weblogs zurück zu den Wurzeln des Internets, zur kommunikativen Vernetzung?

Peter Praschl: Im Gegensatz zu den meisten Formen des Publizierens im Netz, vor allem zu den herkömmlichen Homepages klassischer Medien, haben Weblogs begriffen, dass das Internet ein Netz ist und dass man es am produktivsten benutzt, wenn man die Netz-Struktur ernst nimmt. Weblogs wollen keine Ziele sein, sondern Knoten, Passagen, die einen immer weiterleiten. Gleichzeitig findet ein interaktiver Prozess statt, denn jeder Weitergeleitete kann auch wieder andere weiterleiten, indem er sich am Bau der Passagen beteiligt.

Sie sprechen von den Bedingungen des Hypertextes. Wie wirken sie sich auf die Art des Schreibens aus?

Peter Praschl: Formatierter Journalismus gibt oft vor, wie ein Leitartikel, eine Glosse oder eine Reportage auszusehen haben. Als Weblog-Autor ist man solcher Zwänge entledigt. Das alleine sorgt schon für Texte, die es im Journalismus schwer hätten. Dazu kommt die Möglichkeit, das Geschriebene beinahe in Echtzeit zu publizieren und als Leser darauf auch ohne Verzögerung zu reagieren. Wenn ich in meinem Weblog kryptische Einträge vornehme, die aus zwei bis drei Wörtern bestehen, ist es, als würde ich einen Kieselstein in ein Meer werfen. Während er in einer Zeitung unterginge, tauchen auf dem Weblog Fische auf, die diesen Kieselstein umhertragen und damit etwas beginnen.

Als Sie im Jahr 2000 das sofa als eines der ersten deutschen Weblogs gründeten, konnten Sie sich sicher noch nicht vorstellen, wie viele Fische je bei Ihnen auftauchen würden. Wie kam es denn zu des sofas Geschichte(n)?

Peter Praschl: Stefan Knecht, mein Co-Blogger, und ich waren neugierig auf dieses neue Werkzeug, das zur freien Benutzung im Internet herumlag. Knecht ist zwar ein ganz solider Berater, aber hat sich auch diese jungenhafte Faszination für neue Tools bewahrt. Und dass mich als Schreiber alles interessiert, womit man Texte veröffentlichen kann, versteht sich von selbst.

Wir hatten das Glück, früh zu beginnen – es gab damals wenige Weblogs, an denen wir uns hätten orientieren können, und so blieb uns nichts anderes übrig, als selbst herauszufinden, was man mit Weblogs tun kann. Im Lauf der Zeit sind zwei weitere Autoren dazu gekommen, eine Lyrikerin und ein Verlagslektor. Sie hatten als sofa-Leser immer wieder so grandiose Kommentare zu unseren Texten hinterlassen, dass wir sie zu regulären Contributors gemacht haben. Wir haben ihnen gleichsam den Schlüssel zu unserer Wohnung in die Hand gedrückt.

Manchmal treten in die Weblog-Wohnung auch Menschen ein, die unschöne Ereignisse mit sich bringen. Sie hatten mal eine Art Stalkerin, die sich in „praschl“, ihr Autoren-Ich auf dem sofa, verliebt hatte. Was ist da passiert?

Peter Praschl: Es gab eine Leserin unseres Weblogs, die psychisch krank war, psychotische Schübe hatte, in denen ihr Realitätssinn sie verlassen hat. Sie hat sich wohl in meine Texte verknallt - und dabei gedacht, sie wären nicht von mir, sondern von jemand anderem, den sie von früher her kannte und der sich nur als „praschl“ ausgab. Wenn ihre Dämonen sie jagten, fand sie in meinen Texten Zeichen dafür, dass ich nur für sie geschrieben hätte, mit ihr auf diese Weise kommunizieren wollte.

Auf Reisen ist mein Laptop der wahrste und wärmste Ort

Ist es denn nicht grundsätzlich eine Gefahr von Weblogs, dass sich Fiktives und Reales vermischen, dass ein Realitätsverlust entstehen kann und hierbei vor allem reale Kontakte vernachlässigt werden?

Peter Praschl: Was heißt schon real? Warum gilt eine Beziehung, die über Brieffreundschaft, Mails, Handys, Telefone, Chats, Weblogs oder Flaschenpost funktioniert, als weniger wirklich als eine Beziehung von Körpern in physikalisch eindeutig definierbaren Räumen? Es kommt mir merkwürdig vor, dass Menschen, deren Verkehr zum allergrößten Teil Austausch von Wörtern ist, dann doch immer wieder diese Unterschiede zwischen virtuellem und „realem“ Leben machen.

Ich selbst habe durch mein Weblog viele enge Beziehungen zu Leuten aufgebaut, die mir unter den Bedingungen des Realen – sozusagen als carbon units - nie begegnet wären. Wie hätte ich einen Marcel-Proust-Leser, der gerade in Ecuador für die Unesco arbeitet, je kennen lernen können? In der Blogosphäre entstehen Freundschaften zwischen Menschen, die einander durch Wörter, Texte näher kommen als viele Körper, die sich aufeinander einlassen. Ich komme mit Menschen zusammen, weil sie ähnliche Weltbilder und Psychen haben wie ich, und nicht nur, weil sie einfach in derselben Straße in Bahrenfeld wohnen.

Hängen Sie denn dann lieber auf dem virtuellen sofa herum als zu Hause auf der Couch in Bahrenfeld?

Peter Praschl: Diese Frage ist für mich im Augenblick wirklich schwierig und merkwürdig zu beantworten. Da ich in letzter Zeit sehr viel herumreise, um für verschiedene Redaktionen zu arbeiten, komme ich mir häufig seltsam heimatlos vor. Wenn ich mich dann abends in irgendeinem Hotelzimmer wiederfinde, ist mein Laptop der wahrste und wärmste Ort. Er transportiert das Leben: Musik, Freunde, Links, Weblogs – die gesamte Kommunikation steckt in ihm.

Einer ihrer sofa-Sätze sagt, dass das Weblog-Schreiben ist, als wenn man sich einen Spiegel unter die Nase hielte. Beschlägt ihr Spiegel noch?

Peter Praschl: Ja, das tut er. So wie der Spiegel in Kriminalfilmen beweist, ob jemand noch lebt, so beweist mir das mein Weblog. Wenn man sich selbst als einen schreibenden Menschen mit einer schreibenden Existenzform begreift, dann ist es notwendig, über alles, was mit dem Verfassen von Texten zu tun hat, immer wieder mikroskopisch nachzudenken.

Anders als im Journalismus offenbart sich in der Blogosphäre die Möglichkeit der Selbstreflexion und der Reflexion über das Schreiben. Dadurch, dass Weblog-Texte näher an ihren Autoren dran sind als journalistische Artikel, sind sie oft beinahe so etwas wie eine Körperäußerung. Als wären sie Atem.

Das Gespräch führte Carolin Wiedemann, 22. Sie studiert Journalistik und Kommunikationswissenschaft sowie Soziologie. Nach dem Interview mit Peter Praschl weiß sie um das Vergnügen, auf dünnen Fäden zwischen den Knoten des Netzes zu flanieren, und warum dieser Drahtseilakt zwischen Bloggen und Journalismus so wichtig ist.

Das Interview ist eine Vorveröffentlichung aus dem neuen Netz-Magazin WebWatching (ab 01.02.2006), das Studierende des Hamburger Instituts für Journalistik und Kommunikationwissenschaft entwickelt haben. Herausgeber: Bernhard Pörksen, Universität Hamburg. 1