"Wenn es nicht anders geht, müssen wir eben ohne die palästinensische Seite weitermachen"

Israels Politik muss sich mühsam mit der neuen Realität abfinden

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Dem vorläufigen Endergebnis zufolge kommt die "Wechsel und Reform"-Bewegung der Hamas auf 76 der 132 Sitze und wird damit in den kommenden vier Jahren die absolute Mehrheit im palästinensischen Parlament in Ramallah haben. Die Fatah-Partei von Präsident Mahmoud Abbas ist nur noch die unbedeutende Nummer Zwei.

Sie erhielt nur 43 Sitze. In den Tagen vor der Wahl war zwar mit einem Kopf-an-Kopf-Rennen gerechnet worden, doch einen derart überragenden Sieg hatten sich auch die Hamas-Kandidaten in ihren kühnsten Träumen nicht ausgemalt: Es war dass erste Mal, dass sich die radikalislamische Organisation, die für viele der blutigsten Bombenanschläge in Israel verantwortlich gemacht wird, um Regierungsverantwortung auf nationaler Ebene bewarb; Amerikaner und Israelis hatten sich bis zur letzten Minute bemüht, dies zu verhindern. Dort sitzt der Schock jetzt tief: Unter Hochdruck bemüht sich die internationale Gemeinschaft, auf diese neue Realität im Nahost-Konflikt einzustellen.

Am Ende einer langen Nacht des bangen Wartens wurden am Donnerstag in Ramallah, Gaza, Jerusalem, Washington, New York und den Hauptstädten Europas die Hoffnungen der Einen und die Befürchtungen der Anderen Realität: In den Morgenstunden wachten Politiker und Journalisten überall auf der Welt zu je nach Zeitzone immer dramatischeren Meldungen von einem Sieg der radikalislamischen Hamas bei den palästinensischen Parlamentswahlen am Mittwoch auf: 63 der 132 Sitze habe die "Wechsel und Reform"-Liste der Bewegung errungen hieß es zunächst; dann wurden 65, 69, 72 Mandate daraus.

Als der Vorsitzende der Zentralen Wahlkomission am Abend in der palästinensischen Übergangshauptstadt Ramallah das vorläufige Endergebnis bekann gab, war die Sensation (Hamas), die Katastrophe (alle anderen Politiker), das Erdbeben (Journalisten) perfekt: 76 Abgeordnete werde "Wechsel und Reform" künftig stellen; die Fatah kommt auf nur 43 Sitze.

Israelischer Geheimdienst überrascht

Es ist ein neuer Naher Osten, doch noch weiß niemand, was für Einer: Wird die Hamas künftig auf Gewalt verzichten, mit Israel sprechen? Wird sie versuchen, den palästinensischen Gebieten nach ihrem islamischen Wertesystem zu prägen? Und wie werden die Fatah, Präsident Mahmoud Abbas auf die neue Realität reagieren? Fragen, auf die am Donnerstag in vielen Sitzungen, Telefonaten und Gesprächen auf dem Gang überall auf der Welt eine Antwort gesucht wurde: Die Lage sei Besorgnis erregend, sagte ein Sprecher des amerikanischen Außenministeriums und forderte, die Hamas solle umgehend ihre Waffen niederlegen – eine Forderung, die auch in vielen europäischen Hauptstädten geäußert wurde.

Auf ein Glückwunschtelegramm müsse die neue palästinensische Regierung leider verzichten, so das Bundespresseamt in Berlin. Bundeskanzlerin Angela Merkel bleibe allerdings bei ihrem Vorhaben bald die palästinensischen Gebiete zu besuchen. Man sei auf alle Szenarien vorbereitet, hieß es aus Jerusalem, doch die Sprecher der israelischen Regierung konnten nur schwer verbergen, dass man in der Tat auf gar nichts vorbereitet war: Israels Geheimdienste hatten es nicht geschafft, das Wahlergebnis auch nur annähernd vorherzusagen.

So muss sich Israels Politik mühsam mit der neuen Realität abfinden: Während die Rechte den Wahlsieg flugs für eine flinke Wahlkampfattacke ausnutzte und die Siedlungsräumungen dafür verantwortlich machte, die der mittlerweile wegen eines schweren Schlaganfalls ausgeschiedene Ministerpräsident Ariel Scharon im vergangenen Sommer durchgesetzt hatte, schlossen fast alle anderen politischen Parteien Kontakte mit einer Hamas-geführten Regierung aus: "Wir werden auf keinen Fall mit einer Führung verhandeln, die sich nicht eindeutig von Gewalt distanziert", sagte auch Amir Peretz, Vorsitzender der sozialdemokratischen Arbeiterpartei.

So ist nun die Wahrscheinlichkeit gestiegen, dass Israel in der nahen Zukunft weitere unilaterale Schritte unternehmen wird, die den Siedlungsräumungen ähneln: "Wenn es nicht anders geht, müssen wir eben ohne die palästinensische Seite weitermachen", sagte Peretz: "Einen Stillstand können wir uns nicht erlauben."

Größte Befürchtung: Rücktritt von Abbas

Am Abend traf sich das Kabinett mit den Chefs der israelischen Geheimdienste für mehrere Stunden, um über die weitere Vorgehensweise zu beraten. Die größte Befürchtung: Ein Rücktritt von Präsident Mahmoud Abbas. "In diesem Fall würden uns ohne einen Gesprächspartner dastehen," so ein Mitarbeiter im Büro des Premierministers: "Der absolute Super-GAU."

In der Tat hat Abbas in den vergangenen Tagen mehrmals davon gesprochen, er werde zurücktreten, falls Abgeordnete der Hamas in der Regierung sitzen sollten. Nun ist dies eine sehr wahrscheinliche Option geworden: Sollte er weitermachen, als sei nichts geschehen, wäre er nahezu handlungsunfähig und letzten Endes vermutlich doch zum Rücktritt gezwungen. Außerdem hat er die Möglichkeiten, das Parlament direkt nach seiner Formierung aufzulösen, um bei den Neuwahlen auf ein für ihn und die Fatah besseres Ergebnis zu hoffen, oder per Notstandsverordnung ohne Parlament weiterzuregieren. Beide Szenarien sind unwahrscheinlich, weil sie in der Bevölkerung als undemokratisch gelten und vermutlich den gewaltsamen Widerstand des bewaffneten Flügels der Hamas nach sich ziehen würden.

Im Moment scheint Abbas aber eher geneigt, es damit zu versuchen, im Amt zu bleiben: Unter dem Eindruck einer drohenden internationalen Isolation bemühen sich sowohl Fatah als auch Hamas darum, einen Mittelweg zu finden: Zwar schlug die Fatah das Angebot der Hamas aus, gemeinsam eine "Regierung der nationalen Einheit" zu bilden: "Wir wären in einem solchen Kabinett nur Marionetten", sagte Erekat. Doch beide Seiten scheinen sich bereits darauf geeinigt zu haben, dass der künftige Regierungschef nicht aus den Reihen der Hamas-Fraktion stammen wird: Im Gespräch für den Posten ist derzeit der bisherige Finanzminister Salam Fayyad, der bei beiden Parteien sehr beliebt ist.

"Protestwahl"

In Gaza, Hebron und Nablus feierten derweil Anhänger der Bewegung Freudenfeste, während die Gesichter der Funktionäre der Fatah-Partei von Präsident Mahmoud Abbas immer länger wurden. "Das ist sehr ernst," sagte der palästinensische Verhandlungsführer Saeb Erekat: "Damit haben wir nicht gerechnet." 40 Jahre lang, seit ihrer Gründung, in ihrer Zeit im Exil und später als führende Kraft in den palästinensischen Autonomiegebieten, schien die Vorherrschaft der Fatah in den palästinensischen Gebieten in Stein gemeißelt; jetzt wird sie nicht einmal mehr für eine Koalition gebraucht.

Beobachter werten das Ergebnis vor allem als Protestwahl: "Ich kann keine Anzeichen dafür erkennen, dass die palästinensische Gesellschaft stark nach Rechts gerückt ist," sagt Khaled Abu Toameh, Ramallah-Korrespondent der Zeitung Jerusalem Post: "Die Hamas hat sich den Wähler als Alternative zur Fatah angeboten." Ein Prozess, der allerdings nicht ganz freiwillig vonstatten ging.

Die Zäsur war die Explosion von zwei Raketen bei einer Hamas-Kundgebung im Flüchtlingslager Jabaliya im Gazastreifen Ende September. Die Bewegung, die ihre Unterstützer bislang im armen, erzkonservativen Gazastreifen und in den gleichermaßen von islamischen Werten geprägten Städten Nablus und Hebron im Westjordanland fand, musste lernen, dass blutige Anschläge in Israel, ein islamisches Wertesystem und soziale Angebote von Suppenküchen bis zur kostenlosen Krankenversorgung keinen Freifahrtschein mehr bedeuten.

Bewegung Richtung Mitte?

Das Ergebnis der "Wechsel und Reform"-Liste ist nicht vor allem auf einen Rechtsruck der palästinensischen Wähler, sondern auf eine langsame, aber nachweisbare Bewegung der Hamas in Richtung Mitte zurückzuführen. Spätestens seit dem Unfall in Jabaliya konnte sich die Führung der Organisation der immer größer werdenden Abneigung der Bevölkerung gegen den Militarismus, der die palästinensische Gesellschaft seit dem Beginn der zweiten Intifada erfasst hat, nicht mehr verschließen; zu stark war die Kritik auch an ihrem eigenen Vorgehen geworden.

Nach der Räumung der israelischen Siedlungen im vergangenen Sommer hatte sich die Organisation als wahre Machthaberin im Gazastreifen gebärdet und sich einen blutigen Machtkampf mit den al-Aksa-Brigaden geliefert, einem losen Netzwerk von bewaffneten jungen Männern, die sich als wahre Helden des Kampfes gegen Israel betrachten und nun ein Stück vom Kuchen abhaben wollen. Als die Hamas dann auch noch Israel für die Explosionen in Jabaliya verantwortlich machte, Dutzende Raketen auf die israelischen Städte und Gemeinden in der Nachbarschaft zum Gazastreifen abfeuerte und damit einen heftigen Gegenangriff heraufbeschwor, drohte die Bewegung auch in ihren Hochburgen an Unterstützung zu verlieren.

Waffen und Gewalt sind in großen Teilen der palästinensischen Gebiete zum Teil des täglichen Lebens geworden: Eine nahezu unüberschaubare Zahl von bewaffneten Gruppen und Familien-Clans nimmt in den palästinensischen Städten und Dörfern das Recht, oder das was jeder davon hält, in die eigenen Hände. Eine Nichtigkeit reicht aus, um in einer Schießerei mit Toten und Verletzten zu enden; zudem wurden in den vergangenen Wochen im Gazastreifen mehrere Ausländer entführt, um Forderungen an die palästinensische Autonomiebehörde Nachdruck zu verleihen, oder einfach nur Geld zu erpressen.

Die schlecht ausgerüsteten Sicherheitskräfte haben dem kaum etwas entgegenzusetzen: Als Ende November eine Polizeistation im Süden des Gazastreifens von Kämpfern der al-Aksa-Brigaden angegriffen wurde, starb ein Offizier, weil den Polizisten die Munition ausgegangen war. Die Autonomiebehörde in Ramallah hatte schlicht vergessen, Nachschub zu bestellen. Stattdessen: Viele der Fatah-Funktionäre unterhalten von gepflegten Gärten umgebene Villen, die die Strandpromenade von Gaza säumen, während der Rest der von hoher Arbeitslosigkeit und Armut geplagte Bevölkerung in einem grauen, unwirtlichen Moloch lebt.

Keine Niederlegung der Waffen

Zudem kam der Hamas das Wahlsystem zur Hilfe, das erst im vergangenen Frühjahr unter dem Protest der Hamas geändert worden war: Statt für landesweite Listen stimmen die Wähler nun für eine Landesliste und für einen Direktkandidaten – das Parlament besteht je zur Hälfte aus Listen- und Direktkandidaten. 46 von ihnen gehören nun "Wechsel und Reform" an.

Hamas-Sprecher Scheich Jassir Mansour kündigte am Donnerstag an, die Hamas werde als Erstes gegen Korruption und Gewalt vorgehen: "Wir werden alles tun, um die Lebensbedingungen zu verbessern." Auch Gespräche mit Israel schloss er nicht aus, nachdem er noch am Tag zuvor betont hatte, der Kampf werde weitergehen: "Wir werden alles unterstützen, was unserem Volk nutzt." Doch er schloss auch aus, dass die Organisation ihre Waffen niederlegen wird: "Diese Waffen gehören dem palästinensischen Volk, niemand kann uns vorschreiben, was wir zu tun haben" - eine Aussage, die vor allem den rechten Rand besänftigen solle, erklärt Ali Waked von der israelischen Zeitung Jedioth Ahronoth:

Die Hamas hat in den vergangenen Monaten in vielen Punkten moderatere Haltungen eingenommen. Wenn sie jetzt zu schnell zu viele ihrer militanten Positionen aufgibt, droht ihr ein Auseinanderbrechen.