Rassismus, Spanien und die arabische Welt

Juan Goytisolo: Nomade und Grenzgänger

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Wie lange noch wird die Globalisierung primär mit Grenzenlosigkeit in Verbindung gebracht? Mehr als 15 Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer wird diese Frage immer drängender. Immer deutlicher zeichnet sich ein gegenläufiger Trend ab zu dem, was man mit dem Fall der Berliner Mauer verbindet. Spätestens seit dem 11. September werden Mauern immer vehementer eingefordert, immer höher gezogen, immer strenger bewacht. Einer der scharfsinnigsten Kritiker dieser Entwicklung ist Juan Goytisolo, ein spanischer Intellektueller, der in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in erster Linie als Schriftsteller weltberühmt wurde, in letzter Zeit allerdings mehr denn je in politische Debatten eingreift.

Juan Goytisolo. Bild: Universidad de Oviedo

Bei der gepriesenen freien Zirkulation, die durch den globalen Kapitalismus möglich wird, zirkulieren nur die Dinge frei, während die Zirkulation von „Personen“ immer stärker kontrolliert werde. Darin bestehe, so der slowenische Philosoph Slavoi Zizek, die wahre „Dialektik der Globalisierung“: Das absondern von Menschen sei die Realität der ökonomischen Globalisierung. So ähnlich hat es vor knapp einer Dekade auch schon Juan Goytisolo gesagt, als er forderte:

Wir können nicht im Namen des Neoliberalismus die freie Zirkulation des Kapitals und der Waren zulassen und die der Menschen verhindern.

Goytisolo hatte dabei nicht zuletzt Spanien vor Augen, als er dies sagte, doch wer hätte gedacht, dass das worst case scenario, also das Absondern von Menschen, ausgerechnet in Zeiten der liberalsten Regierungsperiode geschieht, die Spanien seit langer Zeit erleben darf? Anfang Oktober letzten Jahres brachte der Zustrom afrikanischer Immigranten, die versuchten in das winzige, spanische Territorium gegenüber Gibraltar einzudringen, die im europäischen Kontext als äußerst progressiv und liberal einzustufende Zapatero-Regierung in schwere Not, so dass sie sich gezwungen sah, drastische Maßnahmen zu ergreifen: Zwischen der spanischen und der marokkanischen Grenze musste die Mauer aus Gesetzen erhöht und die bestehende Absperrung aufgerüstet werden.

Die Bilder erinnerten auf unheimliche Weise an die der Berliner Mauer, „nur in umgekehrter Richtung, da die neue Mauer die Leute am Hereinkommen, nicht am Hinausgehen hindern soll“ (Zizek). Diese Entwicklung zeichnet sich nicht erst seit gestern ab. Im Grunde gehen ihre Ursprünge auf die Zeit zurück, als die Berliner Mauer fiel. Nahezu exakt zum gleichen Zeitpunkt begann die maghrebinische Masseneinwanderung nach Spanien. Das Land träumte damals noch als Nachwirkung der Franco-Diktatur einen künstlichen Homogenitätstraum. Der umso künstlicher anmutete, als dass die iberische Halbinsel zutiefst durchdrungen war und bis heute durchdrungen bleibt von kulturellen Einflüssen, die nun in Form von Einwanderern ein ausländisches Gesicht bekamen. War nicht vor allem die Südküste des Landes bereits vor 1492 durch und durch arabisiert und islamisiert worden?

Grenzanlage bei Ceuta. Foto: Alfred Hackensberger

Goytisolos Zukunftsbild von Spanien

Die Homogenitätsbestrebungen gehen auf die Zeit der Reconquista und Conquista zurück. Das „Arabische“, „Islamische“, schlichtweg das Andere an sich, wurde mit den Jahren systematisch zurückgedrängt – eine frühe Form des Nationalismus, der im so genannten Siglo de Oro (Goldenes Zeitalter) seinen ersten dubios-glanzvollen Höhepunkt erreichte. Mit Blick auf diese Zeit, in der nicht nur Cervantes mit seinem legendären Werk „Don Quixote“ hervortrat, sondern auch ein Überfluss an berauschend kreativer Literatur entstand, weiß Goytisolo Erstaunliches zu berichten.

Erstaunlich vor allem, weil er die Idealisierung und Instrumentalisierung der in dieser Epoche gedeihenden Kultur durch sein Heimatland nicht verurteilt. Stattdessen zeigt sich auch das moralische Gewissen Spaniens begeistert, ja: berauscht. Nicht allein von dem literarischen Reichtum, sondern auch von der Tatsache, dass er nur entstehen konnte, weil die maßgeblichen Akteure nicht aus dem Zentrum, sondern aus der Peripherie heraus agierten. Ihre schöpferische Kraft und ihren Weitblick bezogen sie aus der individuellen Außenseiterposition. Aus dem Umstand, nicht wirklich dazuzugehören, zumindest nicht zu jenem Spanien, das als ideologisches Phantasma im Zentrum imaginiert wurde. Die Kraft der Negation, der kreative Nährboden der Peripherie und die Konturen eines heterogenen Spaniens – das sind die Eigenschaften, die Goytisolo im Siglo de Oro angelegt findet und die er in der Gegenwart mobilisieren möchte.

Nicht zuletzt weil dadurch die Idee des „mudejarismo“, also des Vermischens von christlichen und islamischen Kulturelementen, eine Renaissance erleben könnte. Ohne die Epoche der convivencia zu stilisieren, in der diese Idee kultiviert wurde, unterstreicht Goytisolo, dass Spanien die in Europa einmaligen Vorraussetzungen dafür habe, zwischen den Kulturen zu vermitteln. Zwischen Europa und der islamischen Welt, aber noch allgemeiner: zwischen Europa und der Dritten Welt. Wohlgemerkt würde in dieser Dialogsituation nicht nur die arabischen Staaten, sondern auch der lateinamerikanische Kontinent bedacht werden. Und wenn Spanien als Land für dieses Potenzial steht, dann ist es sicherlich Goytisolo, der als Mensch, Intellektueller und Schriftsteller diese Position einnimmt.

Eine Migrationsbiografie zwischen den Welten

Sein Standpunkt leitet sich nicht zuletzt aus seiner Biografie ab. Die Peripherie ist spätestens seit der Franco-Diktatur Goytisolos ständige Heimat. Auf der Flucht vor den Repressalien des Staates ging er zunächst nach Frankreich. Es folgten später Stationen in Kalifornien, Boston und New York, wo er als Literaturdozent arbeitete. Obwohl New York in seinen Erzählungen immer wieder auftaucht, bleibt Frankreich auf dieser Odyssee wohl die prägendste Erfahrung. In dem Pariser Stadtviertel Sentier erlebte er ein Nebeneinander von Kulturen, das ihn nachhaltig prägen sollte. Es war schließlich die Zeit, in der, trotz Spaltungen in der französischen Gesellschaft, Gastarbeiter aus Algerien mit großenteils offenen Armen aufgenommen wurden. Goytisolo eröffnete sich im Zuge dessen die Kultur der arabischen Welt, die bis heute zu seinen primären Inspirationsquellen zählt.

Nach dem Militärputsch in der Türkei sah er sich in Sentier wiederum von türkischen Exilanten umgeben, die sich so zahlreich in seiner Nachbarschaft niederließen, dass ihre Anwesenheit zunächst nur befremdlich auf ihn wirkte. Bald näherte er sich seinen neuen Nachbarn jedoch an und fragte einen exilierten Poeten, wo er Türkisch lernen könne. Jener verwies ihn auf eine politische Organisation von türkischen Einwandern, die zu Goytisolos neuen Freunden avancieren sollten. Von ihnen bekam er an den Abenden Lektionen in der türkischen Sprache. Ohne sie hätte er Türkisch sicherlich niemals gelernt.

Goytisolos Zeit in Sentier machte ihn aber auch zu einem Zeugen des aufkeimenden Rassismus. Der arabisch-israelische Krieg (1973), dann die muffigen 1980er Jahre, in denen die gesellschaftlichen Widersprüche unübersehbar wurden: offener Fremdenhass, Illegalisierung der Einwanderung, Xenophobie. Und schließlich die Vorfälle in den Pariser Banlieus zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Für jemanden, der die Entwicklung der letzten Dekaden hautnah miterlebt hat – eine unvermeidbare Konsequenz. Zumal Goytisolos Blick auf die Geschehnisse einmal mehr durch seine Position in der Peripherie geprägt wird: Seit geraumer Zeit ist die marokkanische Wüstenstadt Marrakesch sein Erstwohnsitz.

Lektüren der arabischen Welt

Der weltweit anerkannte Autor, dem der internationale Durchbruch mit dem Roman „Identitätszeichen“ gelang und der von Carlos Fuentes als der „bedeutendeste lebende Schriftsteller Spaniens“ bezeichnet wird, hat 1996 das vom Krieg verwüstete Tschetschenien besucht (Landschaft des Krieges). Während des Balkankrieges reiste er durch Bosnien in einem Schützenpanzer und verarbeitete seine Eindrücke in dem kontrovers diskutierten Roman „Das Manuskript von Sarajevo“ (1999). Als einziger unter seinen spanischen Zeitgenossen beherrscht er arabisch und macht in letzter Zeit vor allem durch seine essayistisch-literarischen Ausflüge in die arabische Welt von sich reden.

Erzählungen, die um den Ramadan kreisen. Aufsätze zum Werk von Rauf M. Basta oder Tayyeb Saleh. Oder schlichtweg kluge Randnotizen, wie sein polemischer Vorschlag, den Terminus islamisch durch christlich zu ersetzen – polnischer Katholizismus, irischer Protestantismus, die orthodoxe Kirche Serbiens würden damit sträflicherweise über einen Kamm geschoren. Besser kann man die haarsträubenden Generalisierungen, die über die „andere“ Weltreligion in Umlauf sind, kaum ad absurdum führen. Und mit einem Hinweis auf die Geschichte des europäisch-islamischen Dialogs, unsere Islam-Phobie eigentlich auch kaum besser lokalisieren.

Schließlich haben es im Gegensatz zu buddhistischen oder hinduistischen Völkern lediglich islamisch geprägte Kulturen gewagt, europäischen Raum zu erobern. Für ein Expansionsunternehmen wie Europa die größte Schmach und sicherlich eine Ursache für die anhaltende Feindlichkeit, die wir gegenüber der islamischen Welt hegen. Aber solche Einblicke, so Goytisolo, könne man nur haben, wenn man einen exzentrischen Standpunkt einnimmt, sich selbst und sein prägendes Umfeld beispielsweise aus der Peripherie betrachtet: “La posibilidad de ver la otra cultura a la luz de otras culturas es muy importante, porque la escala de valores cambia completamente.“

In einer Zeit, in der Mauern zu den architektonischen Ikonen des Zeitgeists avancieren, ist Goytisolo nicht nur als schonungsloser Kritiker jener Globalisierungstendenzen von Bedeutung, die sowohl die (neuen) Grenzen hervorbringen. Der aus Barcelona stammende Intellektuelle bietet mit seinem literarisch-essayistischen Werk darüber hinaus die beste Medizin gegen die selbstverständlich werdende Festungsmentalität dieser Tage. Alles in allem Angebote, die Grund genug sind, um ihm zum 75. zu gratulieren, statt seinen Geburtstag zu ignorieren, wie in den Medien hierzulande großenteils geschehen.