Worüber man nicht reden darf ...

Darren Bowsmans "Saw 2" und die Schweigepflicht des Kritikers

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In "Saw 2" nimmt Darren Bowsman die Erzählfäden des ersten Teils wieder auf und spinnt die Geschichte weiter. Doch sein Film lebt vorrangig von seinen Plot-Mysterien und davon, dass man sie nicht weiter verraten soll.

Anmerkung der Filmemacher: "Wie der Vorgänger ist Saw II ein Suspense-Thriller, dessen Erfolg beim Publikum von Überraschungen und unerwarteten Handlungswendungen abhängt", mahnen Autor-Regisseur Darren Bowsman und Ko-Autor Leigh Whannell den deutschen Filmkritiker im Presseheft und bitten ihn, über eben diese "Überraschungen" nicht zu schreiben. "Saw 2" ist - ebenso wie sein Vorgänger, James Wans "Saw" (vgl. Der Serienmörder als Superheld) - keineswegs ein Suspense-Thriller, sondern sogar genau das Gegenteil davon, denn einen solchen zeichnet nach Alfred Hitchcock ja gerade aus, dass das Publikum stets mehr weiß als die Helden, was in beiden Filmen nicht so ist; dennoch hat der Film einiges gemein mit einem Werk Hitchcocks, von dem gleich die Rede sein wird. Doch zunächst, um das Dilemma einzugrenzen, folgt ein kurzer Handlungsabriss, in dem nur gesagt wird, was gesagt werden darf:

Jigsaw lebt! Und er hat sich neue Spiele ausgedacht. Nachdem ein Mordopfer entdeckt wird, an dem Jigsaw deutlich seine Handschrift hinterlassen hat, nimmt Detective Eric Mathews (Donnie Wahlberg) seine Spur auf. Erstaunlich schnell schafft er es, Jigsaw (Tobin Bell) zu finden - nur um festzustellen, dass der Fahndungserflog nur Teil eines mörderischen Spiels ist. Denn das Mastermind hält Mathews' Sohn und sieben weitere Menschen in einem Haus gefangen. Sie haben nur zwei Stunden, um die versteckten Hinweise zu entschlüsseln und der Todesfalle zu entkommen. Und Mathews muss das mörderische Spiel ohnmächtig auf einem Videomonitor mit ansehen ..."

Presseheft

Sag kein Wort!

Ob es nun Agatha Christie in ihrem Theaterstück "And than there were none" (1943, auch bekannt unter dem politisch weniger korrekten Titel "Ten little Niggers") oder Alfred Hitchcock mit seinem Film Psycho (1960) war, deren/dessen Spoiler-Verbot die Identität des Mörders betreffend sich nachhaltiger auf die Kriminal-Erzähl-Kultur ausgewirkt hat, ist unentscheidbar. Letzterer jedoch hatte die Geheimniskrämerei zu einem veritablen Marketing-Konzept ausgebaut.

Auf Plakaten lancierte Hitchcock bei der Premiere von "Psycho", dass man nicht verraten sollte, was etwa ab der Hälfte des Films mit der Protagonistin passiert und erst recht nicht, welches Geheimnis den Mörder umgibt. Um die Wirkung seiner Plot-Twists zu garantieren, verfügte Hitchcock, dass niemand nach Filmbeginn in die Kinosäle gelassen werden durfte und damit bis zum Start der nächsten Vorstellung warten musste. Es bildeten sich Schlangen von Kinobesuchern, die alle wissen wollten, was es mit den seltsamen Vorgehensweisen und Andeutungen auf sich hatte. Und die den Film sehen wollten.

Hatte "Psycho" über diese PR-Gags hinaus noch einige sehr ausgeklügelte filmästhetische Trümpfe im Ärmel (etwa das Schnitt-Stakkato des Duschmordes oder die originellen Kamerafahrten im Bates-Haus), so wartet "Saw 2" nur noch mit seiner Story auf, die es - darum die Ermahnung des Autorenteams - umso sorgsamer vor Spoilern zu bewahren gilt. Verrät man die zwei, drei der im übrigen völlig unmotivierten Plottwists des Films, so ist fast die gesamte Luft auf dem Werk heraus und übrig bleibt ein reichlich zynischer Film mit einer eins zu eins wiederholten Botschaft seines Vorgängers. Sicherlich: "Saw 2" dreht das Schräubchen in puncto Gewalt, Überraschungen und Selbstreflexivität noch ein bisschen weiter als das Prequel. Es ist aber immer noch dasselbe Schräubchen.

"Haben wir ein Recht auf Dummheit?"

Dies fragte Anfang Januar Peter V. Brinkemper in seinem Artikel über Spoiler (vgl. Spoiler!!! Harry Potter stirbt! Spoiler!!!). Er leitet pointiert her, was sich anhand von "Saw 2" als Marketingmasche der Kulturindustrie enttarnen lässt. Neuigkeitswert ist ihrzufolge noch der einzig verbliebene Wert. Das wissen nicht nur die Produzenten, sondern auch die Rezipienten. Warum sonst werden Raubkopierer von Kinofilmen so gnadenlos von den Rechteinhabern (die eben auch das Recht, die Geschichte als erste zu erzählen für sich verbuchen) verfolgt und mit so harten Strafen belegt?

Beide Seiten wissen, dass sich der Gewinn nicht mehr vollständig an der Kinokasse abschöpfen lässt, wenn der Film bereits zuhause gesehen wurde. Derzeit wird sogar überlegt, diesem Phänomen vorzugreifen und Filme zeitgleich im Kino und auf DVD zu veröffentlichen. Nur Cineasten gehen dann trotzdem noch ins Kino, um den Film im Originalformat anzuschauen.

Diejenigen, die das Kinoerlebnis schmähen, tun dies angeblich deshalb, weil sie schon "wissen, worum es geht". Und damit wären wir wieder bei "Saw 2". Ein Film, der seinen Plot derartig in den Vordergrund stellt und alles andere - wie sich im eingangs zitierten Satz der Autoren lesen lässt - davon "abhängig" macht, diffamiert sich selbst als audiovisuelles Kunstwerk. Übrig bleibt so etwas wie eine Bilder-Geschichte, die man nicht mehr selbst zu lesen braucht und deren Bilder sich praktischerweise auch noch bewegen. Film ist aber etwas anderes.

Schon der erste Teil schien sich allein auf die "Pointiertheit" seiner Geschichte zu verlassen. Der Erfolg von "Saw" war - schaut man sich die Meinungen in einschlägigen Fanforen und Kritiken an - nur mäßig. Die Überraschungen kamen zu unverhofft und das Gefühl, es mit einem Film zu tun zu haben, der nichts anderes kann, als Wichtiges zu verschweigen, ließ sich aus etlichen Rezensionen und Meinungen heraus lesen. Wenn dem Publikum etwa die Pointe, dass der "Tote" in der Zelle gar nicht tot, sondern in Wirklichkeit der lebendige Täter war, bewusst wurde, machte sich genervtes Seufzen im Kinosaal breit:

Das ist ja unrealistisch, dass der die ganze Zeit da gelegen haben soll, ohne dass er sich bewegt hat.

Was hier als simple Plot-Falle aufzutreten schien, war - bei genauerem, besser gesagt zweiten Hinsehen - eine recht ausgeklügelte Fußangel. Denn er hat sich ja bewegt. Fast in jeder Einstellung, die den vermeintlichen Leichnahm zeigte, lag dieser irgendwie anders. Das hätte man bemerken können - wenn man es vorher gewusst hätte - und hätte daraufhin einen ganz anderen Film gesehen.

Mehr wissen hilft auch nichts

Wie bei "Saw" habe ich mir auch bei "Saw 2" von jemandem, der den Film (in Australien) bereits gesehen hatte, alle Plottwists und Pointen vorher "verraten" lassen. Das erleichtert mir die Arbeit als Kritiker (eben weil ich dann die Augen frei für all die anderen Dinge habe). Doch im Gegensatz zum ersten Teil war es nun so, dass sich dadurch lediglich entblätterte, dass "Saw 2" ein recht routiniert herunter gekurbeltes Genrewerk darstellt, das sich vor allem aus seinen Bezügen zum wesentlich stärkeren ersten Teil speist - ein Phänomen, das etliche Sequels (von "Halloween 2" bis "Blair Witch 2") mit ihm teilen.

Das nahezu gleiche Filmteam dreht noch einmal den nahezu selben Film. Die Darsteller liefern keineswegs so "überzeugende Charaktere", wie die PR sie anpreist; vielmehr sind die Gefangenen im Haus - insgesamt ein Setting, das schon nach kurzer Zeit auch wegen des "Finde die versteckten Hinweise"-Plots wie ein Computerspiel wirkt - die reinsten Funktionsgehilfen und ihr Schicksal wird dem Betrachter vom ersten Moment an klar, wo er sie sieht. Wer das ganze überlebt, ist eigentlich auch sofort klar, darf aber hier ein Geheimnis bleiben. Und dass sich die Polizeitruppe das Szenario im Haus keineswegs über "Videomonitore", sondern über Computermonitore anschaut, bildet eine interessante medientheoretische Fragestellung, die sich am Film entzünden könnte - aber auch dazu müsste ich spoilern.

Die Aufgabe der Filmkritik ist es nicht, auch wenn das über Schweigegebote und Sperrfristen immer wieder versucht wird, den Arm der PR in die Filmzeitschriften und Internetmagazine zu verlängern. Filmkritik kann auf Basis der Gegebenheiten entweder ein ästhetisches Urteil über ein Werk aussprechen (zu- oder abraten) oder den Film als Kulturprodukt mit anderen kulturellen Diskursen engführen. An "Saw 2" zeigt sich die Misere, in der sich sowohl der eine als auch der andere der Kritiker wiederfinden kann.

Es ist ja nicht seine Aufgabe, dem Publikum - zumal dem, das mit der Filmindustrie d'accord geht und einen Film auf dessen Plot reduziert - den Spaß zu verderben, indem er "spoilert". Dann ist er aber angesichts solcher Filme wie "Saw 2" zum Schweigen verdammt, kann entweder ein paar von der PR-Agentur als unbedenklich vorgegebene Statements ("mörderisches Spiel", "atemberaubende Twists", "Ja, es wird Blut fließen!") kolportieren oder sich eben darauf beschränken zu sagen: "Saw 2" ist kein guter, aber ein routinierter Film. Glaubt es mir einfach.

Hinweis: Es gibt nun ein neues allgemeines Telepolis Film-Forum für Tipps, Diskussion oder was auch immer zum Thema gehört.