"Die Saat des Teufels der Zerstörung"

DFG-VK-Bundessprecher Jürgen Grässlin über die Verbreitung so genannter "Kleinwaffen" und Killerspiele in Zeiten atomarer Drohungen

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Jürgen Grässlin scheut keine Auseinandersetzung. Der Freiburger Lehrer und Sachbuchautor (aktuell „Das Daimler-Desaster“) engagiert sich nicht nur als Sprecher der Kritischen AktionärInnen DaimlerChrysler, sondern ist auch der Bundessprecher der Deutschen Friedensgesellschaft – Vereinigte KriegsdienstgegnerInnen (DFG-VK) und in gleicher Funktion beim Deutschen Aktionsnetz Kleinwaffen Stoppen (DAKS) aktiv.

Also ist er der richtige Experte für einen kritischen Umgang mit und ein Gespräch über so genannte Kleinwaffen. Folgt man seinen Schilderungen, dann sind diese Waffen eine mindestens genau so große Gefahr wie die klassischen Massenvernichtungswaffen – aber es geschieht nicht wirklich etwas gegen sie.

Frankreichs Präsident Jacques Chirac hat – um es vorsichtig auszudrücken – daran erinnert, dass sein Land Atomwaffen hat. Der Jahresbericht von amnesty international für 2005 zeigt, dass es noch ein ganz anderes Problem gibt: So genannte Kleinwaffen, mit denen Sie sich in den letzten Jahren beschäftigt haben. Was sind am Anfang des Jahres 2006 aus Ihrer Sicht die wichtigsten Probleme bei diesem Thema?

Jürgen Grässlin: Zurzeit zirkulieren mehrere hundert Millionen Gewehre in Afrika, Südamerika und der Golfregion. Bisher passiert das völlig unkontrolliert und ist nahezu unkontrollierbar. Das Gewehr ist mit Abstand die effizienteste Tötungswaffe in Kriegen und Bürgerkriegen. Nach Berechnungen des Internationalen Roten Kreuzes (IRK) sterben von zehn Menschen auf den Schlachtfeldern der Welt neun durch so genannte „Kleinwaffen“, davon der höchste Anteil durch Gewehrkugeln. Das IRK hat berechnet, dass zwei Drittel der Opfer Gewehrschüssen erliegen.

Das Gewehr ist die Massenvernichtungswaffe par excellence, was der Öffentlichkeit kaum bekannt ist, weil es Journalisten und Fotografen schwerlich möglich ist, so nahe an die Kombattanten heranzugehen, um das Geschehen aufzuzeichnen – ohne dabei umzukommen. Ein klassisches Beispiel war der Bürgerkrieg der türkischen Armee gegen die kurdische Guerillaorganisation PKK, der zugleich auch einen massiven Gewaltakt gegen die Zivilbevölkerung darstellte. Von 1984 bis 1999 war die Tötungsrate von Journalisten und Fotografen in Türkisch-Kurdistan weltweit am höchsten.

Was versteht man genau unter dem Begriff „Kleinwaffe“?

Jürgen Grässlin: Am besten nachvollziehbar ist die Erklärung, dass es sich um eine Waffe handelt, die von einem oder zwei Menschen getragen werden kann. Dazu gehören insbesondere Revolver, Pistolen, Maschinenpistolen, Schnellfeuergewehre, Maschinengewehre und Mörser.

Welche Länder sind die wichtigsten Produzenten?

Jürgen Grässlin: Allen voran ist Russland mit der Kalaschnikow zu nennen, das eine Vielzahl von Lizenzen dieses Gewehrtyps vergeben hat, zum Beispiel an China. Zu nennen wäre auch die USA mit dem M16-Gewehr und allen möglichen Derivaten. An dritter Stelle steht die Bundesrepublik Deutschland mit dem weithin bekannten G3-Gewehr, das rund 40 Jahre die Standardwaffe der Bundeswehr war. Nachbaurechte für das G3 der Oberndorfer Waffenschmiede Heckler & Koch (H&K) haben die Türkei, Saudi-Arabien, der Iran, Pakistan, Mexiko und viele andere erhalten. In einigen Ländern wird das G3 bis heute produziert, obwohl die Lizenzen in den sechziger, siebziger und achtziger Jahren vergeben worden sind.

Deutsche Gewehre sind „berühmt“ für ihre hohe „Qualität“. Diese führt dazu, dass sie im Schnitt 40 bis 50 Jahre im Einsatz sind. Die Lizenz an den Iran stammt aus dem Jahr 1967, sie ist theoretisch zurücknehmbar – in der Praxis ist das jedoch nie passiert. Gibt es einen Regierungswechsel, gar einen Putsch, der fundamentalistische Kräfte an die Macht bringt, verfügen diese auch über die Möglichkeit, Schnellfeuergewehre in großer Stückzahl zu produzieren. So war es möglich, dass das G3 über die iranische Exporte der Lizenz-G3 im Nahen Osten und in Afrika zur Standardwaffe bei vielen Kriegen und Bürgerkriegen wurde.

Welche Versuche hat es in den letzten zehn Jahren gegeben, die Bewegung dieser Waffen in irgendeiner Weise zu kontrollieren?

Jürgen Grässlin: In Deutschland war es schwierig, das Thema zum Thema zu machen! Als ich 1982 begann, mich „vor Ort“, also am Sitz des G3-Produzenten Heckler & Koch, mit der Problematik der Kleinwaffenproduktion zu beschäftigen, waren wir nur sehr wenige, die das getan haben. Die Medien haben sich schwerlich für dieses Thema interessiert. Durch jahrelange Recherche und entsprechende Publikationen hat sich die Situation deutlich verbessert: Wir haben inzwischen eine kritischere Öffentlichkeit in der Kleinwaffen-Diskussion.

Verschiedene Friedens-, Menschenrechts- und Dritte-Welt-Organisationen haben das „Deutsche Aktionsnetz Kleinwaffen Stoppen“ (DAKS) gegründet, das seinen Sitz beim RüstungsInformationsBüro (RIB e.V.) in Freiburg hat. Von hier aus versuchen wir, bundesweit den Widerstand zu organisieren und kooperieren dabei auch mit dem Internationalen Netzwerk IANSA.

Heutzutage ist das Thema endlich zum Thema geworden, es wird international wahrgenommen und auch UN-Generalsekretär Kofi Annan hat durchaus sehr kritische Worte über die Verbreitung und den Einsatz von Kleinwaffen gefunden.

Aber in Abrüstungsverhandlungen ist der Durchbruch bei den Gewehren noch nicht geschafft?

Jürgen Grässlin: Das ist der Unterschied zu den Landminen, mit denen wir uns auch befassen. Diese sind international leichter zu ächten, weil man sagt, dass man auf Landminen definitiv verzichten kann und muss. Das gestehen sogar Militärs ein, die erkannt haben, dass ihr Image durch Landminen geschädigt wird. Bei der eigentlichen Massenvernichtungswaffe - den Gewehren - ist das anders. Ihr Einsatz ist häufig öffentlich positiv besetzt: Maschinenpistolen werden auch gegen Terroristen eingesetzt, der Polizist benutzt die Pistole, um einen Ganoven von seiner Straftat abzubringen, der Soldat kämpft mit dem Gewehr scheinbar für die Humanität - das jedenfalls wollen uns Regierungspolitiker weismachen.

Man muss aber feststellen: Ein Kleinwaffenproduzent kann nicht allein von nationalen Beschaffungsaufträgen leben, er braucht Auslandsbestellungen. Man muss der Rot-Grünen – und ich befürchte auch der Rot-Schwarzen – Bundesregierung vorwerfen, dass sie entgegen ihrer Versprechungen offensive Rüstungspolitik betrieben hat bzw. betreiben wird.

Also sind die Genehmigungen nach dem Kriegswaffenkontrollgesetz erteilt worden?

Jürgen Grässlin: Relevant sind das Außenwirtschaftsgesetz (AWG) und das Kriegswaffenkontrollgesetz (KWKG). Diese Kontrollgesetze sind leider bei Waffenlieferungen an Demokratien, Schein-Demokratien und Diktaturen ausgehebelt worden.

Wie handhaben das andere Länder, etwa Amerika?

Jürgen Grässlin: Da sind Rüstungsexporte auf gesetzlicher Ebene wesentlich laxer und weniger restriktiv geregelt. In Deutschland haben wir weltweit die striktesten Regularien! Auf dem Papier hätte man hierzulande, viel leichter als in den USA, verhindern können, dass solche Waffen und Rüstungsgüter in Krisen- und Kriegsgebiete geliefert werden.

Die gesetzlichen Rahmenbedingungen sind in Deutschland positiv zu bewerten, die praktische Umsetzung dagegen ausgesprochen negativ, denn man hat das Instrumentarium nicht angewandt, höchstens im Sinne der Rüstungsindustrie.

In Amerika geht es ja zusätzlich noch um die Bewaffnung der Zivilbevölkerung. Gibt es zuverlässige Schätzungen, wie viele „Kleinwaffen“ in Privathaushalten „marodieren“?

Jürgen Grässlin: Man spricht von mehr als 100 Millionen Waffen, manche sagen 220 Millionen. Man kann das nur schätzen. Bei uns sollen es 20 Millionen Kleinwaffen sein, was ja auch hieße, dass im Durchschnitt jeder Fünfte - jedes Kind und jeden älteren Menschen mit eingerechnet – eine Waffe hat. Rechnet man nur die Erwachsenen, kann man fast sagen, dass in jedem zweiten, dritten Haushalt „Kleinwaffen“ existieren – und zwar ganz legal! Häufig haben auch Unberechtigte Zugang, was beispielsweise beim Schulmassaker in Erfurt zu sehen war.

Man wird widersprechen und sagen, diese Waffen seien geschützt und weggeschlossen – die Praxis ist häufig eine andere. Waffen üben auf Kinder und Jugendliche eine enorme Attraktivität aus. Sie sind hochtechnische Geräte, die ihrem Besitzer Macht verleihen, die sie über andere ausüben können. Ob das der Clanführer in Somalia oder der schießwütige Waffennarr in den USA oder der Jägersohn in Deutschland ist – das Bedürfnis scheint vor allem in Männern zu stecken, dass man mit Waffen gerne protzt, prahlt und sie auch einsetzt.

Waffen als faszinierendes Gerät, leisten Killerspiele dem Vorschub?

Jürgen Grässlin: Nach meinen Erfahrungen, die ich als Realschullehrer in Unterrichtseinheiten mit Kindern und Jugendlichen im Alter zwischen zwölf und 14 Jahren sammeln konnte, spielen die meisten Mädchen und die Hälfte der Jungs äußerst selten Killerspiele am Computer. Dennoch tobt Tag für Tag der Krieg in unseren Kinder- und Jugendzimmern: Ziemlich genau die Hälfte der Jungs spielen täglich zwischen drei und sieben Stunden Killerspiele – eine Tatsache, die in Schulen und Elternhäusern weitgehend ignoriert oder verdrängt wird.

Geht das Verhalten Ihrer Schüler quer durch alle Schichten?

Jürgen Grässlin: Als Lehrer habe ich bei den Kids nicht feststellen können, dass der sozialen Herkunft eine entscheidende Rolle zukommt. Auch Jungs aus der Mittel- und gebildeten Oberschicht schießen tagtäglich am PC. Gerade sie sind finanziell in der Lage, sich die neuesten Games zu kaufen. Zudem werden viele Killerspiele illegal, also „unter der Schulbank“, gehandelt. Übers Wochenende treffen sich die Kids zu Computersessions, bei denen Mannschaften gegeneinander antreten – Terroristen morden Counterterroristen und umgekehrt, die Grenzen sind fließend.

Und was hat das mit der Problematik der „Kleinwaffen“ zu tun?

Jürgen Grässlin: Der Weg vom virtuellen Kriegsspiel zum Schlachtfeld ist näher, als Politiker, Rüstungsproduzenten und Militärs eingestehen möchten: In den Killerspielen wird mit den neuesten Kleinwaffentypen, beispielsweise dem G3-Nachfolgegewehr G36, geschossen und reihenweise gemordet. Das G36 ist bereits bei der Bundeswehr eingeführt und soll in Zukunft zum Verkaufsschlager für andere Armeen avancieren. Unsere Kinder praktizieren genau das am Bildschirm, was sie später einmal ausüben können oder gar sollen, zumindest wenn sie bei einer Armee dienen: den hemmungslosen Einsatz von Gewehren. Auch wenn selbstverständlich nicht jeder Killerspieler gleich zum Massenmörder wird, so verharmlosen diese Computerspiele doch das Töten von Menschen. Killerspiele senken die Hemmschwelle und lassen das Undenkbare zum Alltagsgeschäft verkommen.

Noch einmal zurück zu den Kleinwaffen. Wie viel Geld wird durch sie sinnlos gebunden?

Jürgen Grässlin: Die Vereinten Nationen müssen beträchtliche Summen in den Wiederaufbau von Infrastrukturen investieren, die durch Kriege zerstört worden sind. In Somalia und Türkisch-Kurdistan habe ich mit eigenen Augen gesehen, wie lange der Wiederaufbau dauert: In Somaliland wurden erst mehr als ein Jahrzehnt nach Kriegsende wieder neue Stromnetze installiert. Dort wurden und werden Soldaten zu Elektrikern umgeschult, die im Krieg Leben und Wohnraum zerstörten. Heute legen sie Steckdosen und Stromkabel. Kofi Annan sagte zu Recht, dass die Kosten des Wiederaufbaus in Nachkriegsgesellschaften um ein Vielfaches höher sind als die Einnahmen einer Gesellschaft durch die Sicherung von Arbeitsplätzen in den waffenproduzierenden und -exportierenden Staaten.

Man kann klar sagen: Die Kleinwaffen sind die Saat des Teufels, der absoluten Vernichtung. Sie haben menschheitsgeschichtlich wesentlich größeren Schaden als Nutzen angerichtet.

Das klingt nicht so, als würde sich so schnell etwas ändern …

Jürgen Grässlin: Solange die UN nicht massiv an die führenden Gewehrproduzenten USA, Russland, Deutschland, Belgien, Großbritannien und Frankreich herantreten, wird sich nichts ändern. Genau diese Ländernamen verraten viel über die Machtpolitik in den Vereinten Nationen: Die fünf ständigen Mitglieder im Sicherheitsrat zählen zu den führenden Produzenten von Kleinwaffen. Sie wollen sich nicht selbst den Ast absägen, auf dem sie sitzen.

Im Sommer treffen sich die Vertreter der UN zur Kleinwaffenkonferenz in New York. Dort wird sich weisen, wohin die Reise geht. Bis dato – und sicherlich lange darüber hinaus - bedarf es eines enormen, gesellschaftlichen Drucks, um die führenden Nationen der Welt dazu zu bringen, sich neben der illegalen Verbreitung von Kleinwaffen auch der überwiegenden Masse ganz legal exportierter Gewehre zuzuwenden.