Die "Ragemachine" läuft und läuft

Und über allem hängt die knalligste aller Vokabeln: der Kulturkampf

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"Cartoongate", "Cartoon Intifadah": der Karikaturenstreit hat ein paar knallende Namen hinzugewonnen und läuft und läuft und läuft: Topstory Nummer 2 bei Google News Deutschland gestern abend, Nummer 1 „à la une“ bei Google Actualités France und Top-World-News Number One bei den amerikanischen Google News zum selben Zeitpunkt. Und über allem hängt die knalligste aller Vokabeln: der Kulturkampf.

Grafik: Alois Maierl

Die Meinungsproduktion in den westlichen Medien ist erstaunlich. Ein Überblick über all die Kommentare zum Karikaturenstreit der letzten beiden Wochen allein in den großen Publikationen hierzulande ist unmöglich. Zur Kenntnis nimmt man schließlich nur mehr das, was einem am lautesten entgegen schreit: Brandsätze und Brandreden seitens der muslimischen Eiferer und andrerseits immer nachdrücklichere Hinweise darauf, wie wichtig es ist, Flagge zu zeigen, die Meinungsfreiheit im Geiste der Aufklärung hochzuhalten gegen simplizistische, repressive Religionsfanatiker, selbst, wenn sie beleidigend ist.

Provokation heißt Stärke in diesem Katechimus; Zurückhaltung, so wird suggeriert, bedeutet Schwäche, die Bereitschaft zum faulen Frieden, die Einwilligung zu einem allmählichen Rückfall ins Barbarische, Vorzivilisierte. Dem Lagerstreit ist wenig Neues hinzuzufügen, aber in der Sache selbst gibt es Perspektiven, die es lohnt, dem Nachrichten- und Kommentar-Overflow zum Trotz vorzustellen.

Ein dummer Sturm

Es hat lange Zeit gedauert, bis sich zwei Fachleute, die sich in wichtigen Forschungsfeldern des zeitgenössischen Islam einen Namen gemacht haben, zum Karikaturenstreit zu Wort gemeldet haben. Beide, Marc Lynch, der amerikanische Experte für Öffentlichkeiten in der gegenwärtigen islamischen Welt, und der Franzose Olivier Roy, einer der weltweit führenden Theoretiker des politischen Islam, teilen die Einsicht, dass der Karikaturenstreit kein Kampf der Kulturen ist.

„A Stupid Storm“, ein dummer Sturm sei mit dieser Affäre entfacht worden, so Lynch, der den Radikalen in die Hände spiele. Ursache und Wirkung werden seiner Sicht nach vertauscht:

Die Karikaturen-Krise „beweist“ nicht, dass es einen „Kampf der Kulturen“ gibt: sie stellt Möglichkeiten für jene auf beiden Seiten zur Verfügung, die einen „Kampf der Kulturen“ wollen, die ihnen dabei helfen, ihn Wirklichkeit werden zu lassen.

Marc Lynch

Würden die dänischen Karikaturen nicht existieren, so hätte Al-Qaida gutes Geld bezahlt, um sie zu schaffen:

Sie sind das ideale Mobilisierungsthema für radikale Islamisten, maßgeschneidert, um Leidenschaften anzufachen und moderate Stimmen auszuschalten und damit jeden Dialog.

Marc Lynch

Nach Lynchs Beobachtungen ist der Begriff „Clash of Civilisations“ in diesen Tagen nicht nur in westlichen Medien sehr populär, sondern auch in Kommentaren und Talkshows der arabischen Medien. Besonders von Al-Dschasira zeigt sich der Medienexperte enttäuscht: Man habe dort für das Thema Moderatoren ausgesucht, welche die Stimmung eher anheizen würden, aufgeladene Bilder von Demonstrationen gezeigt, die sich von der Art und Weise, wie sie Fox-News präsentiert, nicht unterscheiden lassen, und Entschuldigungen von dänischen Repräsentanten einfach ignoriert. Al-Dschasira habe das populistische Spiel mitgespielt. Der Sender blieb mit dieser Tour allerdings nicht alleine:

The current "most read" and "most emailed" story on al-Arabiya is about an Italian cabinet member calling for the use of force against Muslims and for a "Crusader" war - not inflammatory at all, right? All in all, not a great couple of weeks for the "new Arab public."

Wütende Reaktionen im Mittelpunkt

Egal ob Al-Dschasira oder CNN, die Medien würden eine negative Rolle in dem Karikaturen-Sturm spielen, wenn sie nur die wütenden Reaktionen in den Mittelpunkt stellen würden (z.B. wie MEMRI dazu noch die Hälfte eines Statements unter den Tisch kehren, das den Aufruf zur Gewaltlosigkeit enthält) und dabei ignorieren, dass viele Muslime eben nicht mit Gewalt reagiert haben.

Yes, most Muslims I know are angry and genuinely offended, but they aren't violent about it. If a similar cartoon had been run about Jesus, or Anne Frank (and I blasted the Iranians for their part in this StupidStorm), or Martin Luther King, lots of Americans would be angry and genuinely offended. By focusing on the extreme voices, the media really does an injustice to the legitimate, human feelings and ideas of that vast majority of Muslims who deserve the right to be heard without being reduced to some cliche of Muslim rage.

Marc Lynch

Eine ähnliche These bringt auch Olivier Roy in seinem Essay zum Ausdruck:

In fact, most Muslims are neither more nor less concerned about abuses of that freedom than Christians or Jews. Except for a small fringe of radicals who presume to speak for Islam, mainstream Muslims, especially in Europe, have reacted with impressive moderation to what they rightly see as an outrage.

Olivier Roy

Ruf nach Gleichheit und Integration?

In einer etwas verblüffenden Perspektive erkennt Roy im Karikaturenstreit etwas, was wohl kaum ein anderer Kommentator so sehen will: Die Proteste würden für den Mainstream der europäischen Muslime einen Ruf nach Gleichheit und Integration repräsentieren - und eben nicht nach Abschottung oder einer besonderen Behandlung.Entsprechend würden sich die europäischen Muslime gegen zweierlei Maß wehren:

As these modern Muslims see it, the Danish cartoonists in effect have contributed to a wave of Islamophobia and Muslim-bashing sweeping Europe. Islam, they believe, is increasingly a victim of double standards.
Free expression is a right, to be sure. But Europe imposes many legal and social limits on expression. Anti-Semitic cartoons would almost everywhere be liable to legal prosecution. More and more European countries have passed laws banning homophobia or protecting minorities from degrading insult.
Would cartoons mocking dwarfs or blind people be published in respectable European newspapers? No. Why, then, the social acceptance for mocking Muslims, which sometimes verges on racism?

Olivier Roy

Provozierend sei für viele Muslime in Europa nicht so sehr die Abbildung des Propheten gewesen, sondern seine Abbildung als Terrorist, was der gängigen Klischee-Gleichung Muslim=Terrorist weiteres Gewicht verliehen habe. Dies trat in den vielen Erörterungen der letzten Wochen, die sich auf das altvordere und nicht einmal stringente Verbot der Abbildungen von Muhammed konzentrierten, in den Hintergrund.

Spaltungen innerhalb der muslimischen Gemeinschaft

Übersehen wurde auch, dass der Streit um die Karikaturen weniger die Spaltung zwischen westlicher und östlicher Kultur als diejenige innerhalb der muslimischen Gemeinschaft deutlich mache. Dass die Gewaltakte bei Demonstrationen in Syrien, im Libanon, in den Palästinensergebieten, in Afghanistan und Iran von den dortigen politischen Regimes bzw. von radikalen muslimischen Gruppierungen politisch instrumentalisiert werden, um die islamische PR-Waffe und die Kontrolle darüber in der Hand zu behalten, ist ein Gedanke, der in der letzten Woche des Karikaturenstreits öfter zu lesen war. Doch Roy dehnt ihn noch weiter aus.

Die autoritären Machthaber wollen auch die Kontrolle über ihre jeweiligen „Auswanderer-Communities“ in Europa behalten. Die Freiheiten, welche diese dort im Gegensatz zu ihren Heimatländern genießen, könnten sich als gefährlich für das arabische Mutterland herausstellen.

Schon jetzt gebe es hier genug Konfliktpotenzial. Roy illustriert dies am „Culture Clash“ zwischen der berühmte Kairoer Al-Azhar Universität und des European Council of Fatwa. Al Azhar bietet die Ausbildung von moderaten Imams für Europa an, die Imams sollen Fatwas erlassen können, die speziell auf europäische Muslime abgestimmt sind. Als Gegenstück haben europäische Muslime in London ein European Council of Fatwa errichtet, dem soll die Anschauung zugrunde liegen, dass muslimische Minderheiten sich an die Gemeinschaften anpassen sollen, die sie aufgenommen haben und nach diesen neuen Regeln leben: eine Art „Islam Lite“, wie der französische Forscher dies nennt.

Generell stoße die Einmischung vom arabischen Mutterland auf immer größeren Unwillen seitens der europäischen Muslime, egal ob konservativ oder liberal:

In fact, many Muslim leaders and intellectuals suggest that Europe is an opportunity for Islam to modernize, precisely because Muslims there enjoy freedoms unknown in Egypt, Tunisia, Syria or Saudi Arabia. That fact figures large in their response to the cartoon flap: they understand that the price to be paid for this freedom is to accept its use by others, however repellent its expression.

Olivier Roy

Und genau diese Freiheiten wollen die arabischen Regierungen unterdrücken. Unter dem Vorwand, den Islam zu beschützen. Politik spiele dabei die größere Rolle als die Religion.

Die schlimmste Schlussfolgerung aus dem Lärm („brouhaha“) der letzten Woche ist die am allermeisten verbreitete: dass er einen fortgeschrittenen „Kampf der Kulturen“ repräsentiert. Falsch. Statt die Einheit der muslimischen Welt zu demonstrieren, unterstreicht der Protest ihre Zersplitterung: eine rückfällige alte Garde, die dazu entschlossen ist, ihre Macht und ihre versteckten Interessen gegen eine wachsende Gemeinschaft von modernistischen Muslimen zu beschützen, die sich vor allem und zuerst als Europäer begreifen –und ganz einfach nicht als Einwanderer behandelt oder beleidigt werden wollen.

Olivier Roy