Rückkehr des Streiks?

Der fortschreitende Sozialabbau und die gefühlte Zunahme der Unruhe

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Infineon, Gate Gourmet, AEG, der öffentliche Dienst auf Länderebene, die baden-württembergischen Universitätskliniken haben etwas gemeinsam: Sie wurden in letzter Zeit bestreikt. Ist ein Ende der typisch deutschen Streikfaulheit in Sicht?

Oder gar, wie die kleine, anarchosyndikalistische Gewerkschaft FAU hofft, eine Wiederkehr des Streiks als Kampfmittel in der Auseinandersetzung zwischen den Klassen? Vielleicht muss man nicht gar so dick auftragen, aber es wirkt tatsächlich zunächst so, als treffe die versuchte Zurücknahme aller sozialen Errungenschaften, die in den letzten Jahrzehnten erkämpft wurden, auf wachsenden Widerstand.

Das mag damit zu tun haben, dass die Arbeiter und Angestellten jetzt bemerken, dass nicht nur verschmerzbare Reallohneinbußen im Bereich von wenigen Prozent auf dem Spiel stehen, sondern dass es ums Eingemachte geht, und zwar an allen Fronten, vom tatsächlichen Einkommen über die Rente bis zur Krankenversicherung. Die Rede von den "Besitzständen", die die Gewerkschaften und die Arbeitnehmer sichern wollten, ist offenbar bei den Gemeinten angekommen, sie sehen, was sie noch haben, merken, dass es immer weniger wird, und beschweren sich.

Das Lied der bescheidenen 18 Minütchen

Allzu deutlich sind die Widersprüche, die sich plötzlich in der deutschen Ecke der globalisierten Wirtschaft auftun. Dass florierende Unternehmen Tausende von Angestellten entlassen, um ihre Rentabilität zu steigern, hat man zwar noch nicht als inhärentes Entwicklungsmoment des Kapitalismus selbst zu begreifen gelernt, aber man schüttelt schon einmal den Kopf darüber. Dass bei ständig steigenden Arbeitslosenzahlen die Lebens- und die Wochenarbeitszeit verlängert werden soll, ist für viele ebenfalls nicht mehr richtig nachvollziehbar.

Auf das Fußscharren der Beschäftigten reagieren die öffentlichen und privaten Arbeitgeber mit der üblichen Dummdreistigkeit. Zum Konflikt im öffentlichen Dienst hört man, dass eine Aufstockung der Wochenarbeitszeit von 38,5 auf 40 Stunden ja wohl nur 18 Minuten unbezahlte Mehrarbeit am Tag bedeute, wobei in typischer Manier von der Tatsache der unbezahlten Mehrarbeit ab- und auf die für sich vernachlässigbar wirkenden 18 Minuten hingelenkt wird.

Dass diese bescheidenen 18 Minütchen aber Teil einer Salamitaktik sind, die aus 18 Minuten flugs eine halbe und dann später ganze Stunden machen will, ist dann doch mittlerweile durchgesickert. Zu deutlich sind noch die Sprüche aus den letzten Jahren in Erinnerung, die Wochenarbeitszeiten von 48 bis 72 Wochenstunden für die Zukunft in Aussicht stellten.

Beim Rotenburger Ersatzteilelager von AEG, wo demnächst nicht mehr die Bedingungen für Metaller, sondern die für den Einzelhandel gelten sollen, entblödet sich die Unternehmensführung nicht, eine Verschlechterung der Lohnsituation durch diese Maßnahme in Abrede zu stellen: Einbußen gebe es für die Beschäftigten ja nicht, sie müssten halt nur dreieinhalb Stunden mehr pro Woche arbeiten. Offenbar traut man den Leuten dort die einfachsten Formen der Bruchrechnung nicht mehr zu.

Wenn es schon um Werksschließungen geht, und die demnächst arbeitslosen Arbeiter nur noch um größere Krümel aus der Konkursmasse von dem streiken, was sie erarbeitet haben, behauptet man rotzfrech, die Gewerkschaften hätten nur viel früher einer Ausdehnung der Überausbeutung zustimmen müssen, und es wäre gar nicht so weit gekommen.

Was letztendlich auf das Argument hinausläuft, dass die Arbeiter nur komplett auf ihren Lohn verzichten müssten, um ihre Arbeitsplätze für immer zu sichern.

Medien: Verschärfung des Spektakelaufkommens

Die Medien spielen bei all dem eine ganz eigene Rolle. Entweder übernimmt man unkommentiert die Pressemeldungen der Arbeitgeberseite und säuselt das Publikum mit dem Lied von den 18 Minuten an, oder man berichtet zwar von den Konflikten, aber in der sattsam bekannten, ritualisierten und abgedroschenen Form: Die eine Seite sagt das, und die andere sagt das, sie sitzen beide an einem Tisch, und bald einigt man sich. Der stattfindende Kampf, bei dem es um die Lebensqualität von Millionen Menschen geht, wird nie deutlich. Immer schwebt die Kamera über den Köpfen, eine direkte Beschäftigung mit den Lebensbedingungen der Betroffenen überlässt man Nischenformaten, die spät in der Nacht für die Eulen senden.

Dass sich auch die Polizei auch in Deutschland schon einmal an Streikposten vergreift, dass es durchaus erfolgreiche Streiks in den letzten Monaten gegeben hat, wie in den europäischen Häfen, dass der Streik bei Gate Gourmet, bei dem es übrigens auch um Arbeitszeitverlängerung und die Kürzung von Urlaubsansprüchen geht, mittlerweile seit 129 Tagen andauert (Stand 13.2.06) - das alles fällt dann unter den Tisch oder wird in die besagten Nischen abgeschoben.

Manchmal fragt man sich, was wäre, wenn über all diese Dinge genau so intensiv berichtet würde wie über das Privatleben von Paris Hilton. Wo kämen wir hin, wenn täglich in klaren Worten der seltsame Widerspruch zum Ausdruck gebracht würde, dass am angeblichen Ende der Arbeitsgesellschaft immer weniger Beschäftigte für immer weniger Geld immer mehr Arbeitsleistung erbringen? Wo kämen wir hin, wenn immer wieder nach den Werten gefragt würde, die auf diese Weise entstehen? Überflüssige Hoffnungen.

Wo Gefahr ist, wächst das Rettende auch, das gilt leider schon immer für den Kapitalismus, und wenn er tatsächlich gerade eine Verschärfung der sozialen Auseinandersetzungen provoziert, dann hat er auf der anderen Seite doch auch mit einer Verschärfung des Spektakelaufkommens in nächster Zeit aufzuwarten, die den Medien eine gute Gelegenheit bietet, jede Form von Realitätswahrnehmung in Springfluten von Blödsinn zu ertränken: Dem "Karikaturenstreit", der Winterolympiade, der kommenden Fußball-WM sei's gedankt.