Wunschmaschinen-Pop im Raumpatrouille-Design

Trotz Drogenexzesse und diverser Trennungsgerüchte feiern Depeche Mode ihr fünfundzwanzigjähriges Bandjubiläum vor ausverkauften Konzerthallen

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Die 1980er gelten gemeinhin als Dekade des Stillstands, der Erstarrung und des "Rien ne va plus". Ökologische Krisen, eine gescheiterte und leer drehende Revolution, das Menetekel einer atomaren Verlichtung der Erde - all das sorgt dafür, dass sich eine endzeitliche Stimmung ausbreitet. "Posthistoire" lautet die griffige Formel für diesen Stillstand von Zeit und Bewegung, in der nach Meinung von Beobachtern nichts wesentlich Neues mehr passieren wird.

You'll stumble in my footsteps
If you try walking in my shoes

Walking in my Shoes

Nichts geht mehr

Während ein Teil der Jugend auf "No-Future" macht, Häuser besetzt und mit der Polizei Räuber und Gendarm spielt, ein anderer mit Deprimo-Look, Coolness oder dem exzessiven Konsum von Markenartikeln die Zeit "totschlägt", werden Intellektuelle von Selbstzweifeln und tiefer Skepsis erfasst. Zeigen sich die einen von einer auf Dauer gestellten Apokalypse eigentümlich berührt, entwickeln andere eine seltsame Liebe für Ruinenfelder, Trümmerlandschaften oder gefallene Engel. Weit davon entfernt, sich auf eine "offene" oder gar "strahlende Zukunft" hin zu bewegen, präsentiert sich die Gegenwart als leer und unendlich breit. Die Geschichte scheint zum Eisberg erstarrt, die Kultur in kristalline Formen gegossen.

Dem Eindruck, dass die Ideengeschichte abgeschlossen und die historische Zeit an ihr Ende gekommen ist, schleudert die "Postmoderne" alsbald ihr heiter-ironisches (für manche auch zynisch-frivoles) "Anything goes" entgegen, das rasch zu einer Art parodistischen Reflex auf die Welt des "Als ob" umgebogen wird, in der nur noch Zyklen der Reprisen und des Samplings, des Zitierens und Collagierens einander ablösen.

In der Gefahr wächst das Rettende

Was für den "philosophischen Diskurs der Moderne" gilt, gilt nicht, oder nur sehr eingeschränkt, für Rock & Pop. Gewiss wird die Postmoderne auch hier für einige Zeit stilbildend, insofern sie zum Träger eines popkulturellen Diskurses wird, dem traditionelle Distinktionen wie High and Low, E und U, sakral und profan gleich gültig werden, der divergente Moden, Stile und Lebensformen gnadenlos miteinander vermengt und sie auf die Prints und Screens einer schnelllebigen Interfacekultur zwingt.

Im Nachhinein muss man jedoch feststellen, dass es auch Jahre der Umorientierung, der Innovation und des Aufbruchs sind. Abzulesen ist das unter anderem auch an neuen Musikgruppen wie New Order und The Cure, Rapid Eye Movement und U2, die trotz oder gerade wegen dieses emotional abgekühlten Umfeldes ihre besten Alben veröffentlichen und wachsende Fangemeinden um sich scharen. Diese Bands saugen nicht nur die düstere Stimmung der Zeit auf und tauchen sie in neue Rhythmen, Beats und Soundformen, sie erweisen sich auch zunehmend als Trend setzend für eine orientierungslose Jugend, die nach neuen Sinnangeboten, Identifikationsmustern und symbolischen Ausdrucksformen sucht, um im Alterungsprozess der Moderne zu überleben.

Moden, Bewegungen und Lebensstile mit initiiert zu haben, Avantgarde in Pop verwandelt und sie in die Mitte der Gesellschaft geführt zu haben - dieses Kompliment muss man auch und vor allem Depeche Mode machen. Fünf blassgesichtige Jungs, die der Produzent Daniel Miller 1980 von ihren Bürosesseln lockt und die inzwischen zu den bedeutendsten und einflussreichsten Formationen der Popgeschichte zählen. Dies beweisen nicht nur diverse wie Pilze aus dem Boden schießende Schreihälse und Newcomer-Bands, die sich auf ihren Sound berufen oder sich von ihnen beeinflusst zeigen, Marylin Manson, Linkin Park, Cypress Hill, Air usw.; dies bekundet auch die Welle der DJs, Remixer und Sänger, die ihre Songs covern, samplen und neu abmischen; und dies belegt nicht zuletzt ihre aktuelle Welttournee, die binnen Stunden ausverkauft ist und deren Karten auf dem Schwarzmarkt zu Höchstpreisen verhökert werden.

Neuerfindung durch Selbstzitat

Stil-Bewusstsein und Stil-Sicherheit beweist das Quintett aus dem mittelenglischen Basildon schon bei der Namensgebung, wo es sich auf Vorschlag ihres Sängers Dave Gahan von der französischen Modezeitschrift "Mode Dépêche" inspirieren lässt. Von Kritikern anfangs noch verächtlich als Synthie-Popper für neuromantische Teenie-Seelen abgestraft, mausert sich die Band, nachdem Martin Lee Gore von Vince Clark das Songwriting übernimmt, alsbald zu einer auf Stil und Aussehen bedachten Glamourtruppe, die Elemente von Soul und Blues, von Gospel und Rhythm’n’Blues mit Discobeats mixt und diese später mit elektronischen Samples und derben Gitarrenriffs rockig anreichert. Anders als vergleichbare Elektro-Popper wie die Kollegen von Human League oder Soft Cell, Spandau Ballet oder Duran Duran, die nach Abebben der Synthie-Welle alsbald in der Versenkung verschwinden, sich auflösen oder ein Schattendasein führen, zeigen sich Depeche Mode für musikalische Neuerungen stets aufgeschlossen und offen.

Rückblickend lässt sich vielleicht sagen, dass ohne diese Neigung zur permanenten Neuerfindung ihre Erfolgsstory kaum möglich gewesen wäre. Immer wieder zeigen sie Gespür für innovative Produzenten, die ihrem Sound den neuesten Schliff geben, die aber, und das macht vielleicht das Geheimnis ihres Erfolges aus, zugleich auch streng auf die Beibehaltung bewährter Stil- und Musikformen achten. Ein altbekanntes Prinzip erfolgreichen Marketings also, ein neues Produkt mit einer Assoziation zu Althergebrachtem zu versehen. So gelingt ihnen, was anderen häufig misslingt: der Spagat zwischen Neuem und Erprobtem, Ungehörtem und Bekanntem, Avantgarde und Mainstream.

Die Band zeigt sich, wenn man so will, als Beherrscher des bekannten Hase-Igel-Spiels. Während Hasen ständig zu neuen Ufern aufbrechen und danach entweder enttäuscht, geläutert oder ausgepumpt zurückkehren, schleudern Igel den Erschöpften nach ihrer Ankunft jenes berühmte: "Ich bin schon da" entgegen. Dass ihr Sound auch im neuen Jahrtausend so frisch und aktuell klingt wie vor über zwanzig Jahren, technisch simpel gestrickte Synthie-Nummern wie "Everything Counts" oder "Just Can’t Get Enough" immer noch auf der Bühne funktionieren, hat sicher auch mit der Fähigkeit der Band zu tun, sich dem Wechsel der Zeiten anzupassen, ohne dabei auf Publikum und Kritiker anbiedernd zu wirken.

Brüchen Kontinuität abringen

An ihren verschiedenen Schaffensperioden lässt sich dieses Talent gut ablesen. Nach dem Abgang von Vince Clark führt die Band als eine der ersten überhaupt die Sample-Technologie in die Popgeschichte ein. Resultat dieses Experiments sind "Construction Time Again" und, vor allem, das Meisterwerk "Some Great Reward" mit den metallisch daherkommenden Hitsinglen "People are People" und "Master und Servant" sowie, quasi im perfekten Kontrast dazu, das gefühlvoll komponierte "Somebody" und das höchst ambitioniert instrumentierte "Blasphemous Rumours", womit sie den Durchbruch in Europa schaffen und sich als Vorreiter, Wegbereiter oder Förderer für den Sound der 1990er, für Techno, House und Ambient präsentieren.

Depeche Mode sind auch schon da, als der Remix hoffähig wird und kommerzielle Bedeutung erlangt. Die berühmtesten Remixer der Szene, William Orbit, Timo Maas, François Kervorian oder Goldfrapp nehmen sich später die meisten ihrer Songs vor. Den besten Remix der Band zu kreieren, gerät fürderhin zum sportiven Wettbewerb unter DJs und Abmischkünstlern. Sogar als der Remix längst fester Bestandteil der Dance-Kultur wird und er ein künstlerisches Eigenleben führt, pflegt die Band die Kunst des Remix noch weiter. Die Beziehung "Depeche Mode und der Remix" wäre eine Geschichte, die vermutlich selbst erst noch erzählt werden müsste.

Zeitgleich beginnt die Band, dem Zeitgeist und seinen modischen Accessoires folgend (wer erinnert sich nicht an "Das heimliche Auge" aus dem Konkursbuchverlag der Tübinger Verlegerin Claudia Gehrke), auf der Bühne mit extravaganten Outfits zu experimentieren. Gore, der geniale Songwriter, legt sich ein androgynes Double zu, er lackiert sich die Fingernägel schwarz und spielt mit Homoerotik und S/M-Symbolen, während Gahan den virilen Gegenpart dazu simuliert. Ergebnis solcher gegenpoliger Spielchen ist unter anderem "Black Celebration", ein insgesamt recht düsteres Werk, das den Hörer eher zum Veranstalten schwarzer Messen als zum rast- und hemmungslosen Raven in Clubs einlädt, und meist von dichten, atmosphärischen Klängen getragen wird, die vor allem die Gothic- und Gruftie-Bewegung inspiriert und mit ins Leben ruft.

Erneut variieren sie ihren Stil. Um der Düsternis und der Melancholie Herr zu werden und ihr nicht zu viel Raum zu geben, lassen sie fortan Gitarrenriffs sprechen. Auf ihren beiden wohl besten Longplayern, dem anspielungsreichen "Music for the Masses" von 1987 und "Violator" von 1990 liefert die Band mit "Never Let Me Down Again", "Personal Jesus" und "Enjoy the Silence" jene Hammer-Hymnen ab, die fortan zum Pflichtprogramm jedes Live-Konzerts gehören. Sie versetzen die Fans in selbstvergessene Ekstasen und lassen auch noch den mäßigsten Act in Jubelstürmen enden.

Ende der 1980er sind Depeche Mode auf dem Zenit ihrer Karriere. Legendär gerät ihr Auftritt im "Rose Bowl Stadion" von Pasadena vor 60 000 Menschen, den DA Pennebacker, der schon für Jimi Hendrix und John Lennon gearbeitet und mit Bob Dylan den Konzertfilm "Don’t look back" gemacht hat, auf Zelluloid und später auf DVD brennt. Der über dreistündige Film gibt nicht nur einen luziden Einblick in das fragile Innenleben der Band, ihre Nervosität vor und emotionale Ausgepumptheit nach dem Konzert, er zeigt auch die innige Liebesbeziehung, die sich zwischen Band und Publikum mittlerweile entwickelt hat.

Geschundener Marsyas

Danach stürzt die Band in eine tiefe Krise. Während Martin Gore sich in religiöse Symbolsprachen verirrt, "Faith" und "Devotion" den Bandmitgliedern verordnen will, verfällt der Sänger Dave Gahan den Drogen. Den Seelentrip, den er "stripped down to the bone" auf der Bühne zelebriert, den Veitstanz, den er mit Teufel, Hexen und Dämonen führt, sowie das ständige Singen von Tod und Erlösung, Schuld und Sühne, Verrat und Hingabe, die Martin Gore ihm auf den Körper schreibt, führen fast zum Exitus. Im Herbst 1993 kollabiert er während eines Konzerts in New Orleans auf der Bühne; zwei Jahre später scheitert ein Selbstmordversuch in Los Angeles; ein Jahr später fällt er ins Koma, nachdem er einen Speedball, eine Mischung aus Crack, Heroin und Kokain, einwirft. Nur mit Mühe können ihn die Ärzte wieder ins Leben zurückbefördern.

Entnervt von dem Geschehen verlässt Alan Wilder die Band, die mutig als Trio weitermacht, dabei aber zwei eher durchschnittliche Alben abliefert, das vertrauter Stilmittel sich bedienende "Ultra", sowie das sehr versponnene, von digitalen Click’n’Cut Elementen bestimmte "Exciter". Obwohl die sich daran anschließende Tournee zum Erfolg wird, machen Trennungsgerüchte die Runde. Umstritten ist, wer bei Depeche Mode künftig das Sagen hat und die Richtung bestimmt, Gore oder Gahan. Beide nehmen Soloalben auf. Während Gore Kurt Weill und alte Bluesklassiker ausgräbt, Brecht, Son House und Robert Johnson neu vertont, versucht sich Gahan als Stückeschreiber. Es scheint, als ob die Band ihre "silberne Hochzeit" nicht mehr erleben wird.

Doch nichts davon bewahrheitet sich. Mit "Playing the Angel", ihrem elften regulären und jüngsten Album, kehren sie zum analogen Musizieren zurück und erleben ein fulminantes Comeback. Als die Ankündigung öffentlich wird, liegt ihnen die Presse zu Füßen. Aller Gerüchte zum Trotz feiern Depeche Mode nun doch ihr Bandjubiläum mit einer Welttournee. Eine schon für tot erklärte Band, deren Sänger das Leben auf der Rasierklinge gesucht hat, ist wie Phönix aus der Asche wiederaufgetaucht und hat ihre Karriere nochmals getoppt.

Weltweit operierendes Unternehmen

Längst ist Depeche Mode keine Band mehr, die, wie ein Kritiker meint, eine angelsächsische "Antwort auf die deutschen Kraftwerk" sucht, sondern eine global operierende Firma, deren Mitglieder mit Privatjets zum Konzert einfliegen und sich währenddessen in Suiten von Luxushotels einmieten. Als sie beispielsweise im Sommer letzten Jahres ihr neues Album der Weltöffentlichkeit vorstellen, buchen sie dafür die LTU-Arena in Düsseldorf.

A propos Deutschland. Dass sie dafür ausgerechnet das Land in der Mitte Europas wählen, nicht London oder, wie die Stones, New York City, hat natürlich Gründe. Nirgendwo anders liegen die Fans den Briten mehr zu Füßen als in Deutschland. Hier werden "DM-Partys" veranstaltet oder "DM-Nights" per Mundpropaganda weitergereicht. Als sie die Sample-Technologie für sich entdecken, beginnen, Loop über Loop zu legen, weilen sie in Westberlin. Sie profitieren gleichermaßen vom in den Startlöchern steckenden Techno-Sound, den Lärmkulissen der Einstürzenden Neubauten sowie von der düsteren Stimmung, den der Nato-Doppelbeschluss verbreitet.

Auf die Spaßes halber gestellte Frage, wer wohl die größte deutsche Popband aller Zeiten wäre, nennt ihr Entdecker und erster Produzent Daniel Miller "Depeche Mode". Auch dass die Truppe den Auftakt ihrer Deutschlandtournee ausgerechnet nach Dresden verlegt, kommt nicht von ungefähr. Vor allem in der ehemaligen DDR genießen sie quasi Kultstatus. Der Mix aus düsterem Elektrosound und metallenen Industrieklängen, aus Deprimo-Look, dunkler Kleidung und stylischer Performance bietet der dortigen Jugend einen ästhetischen Gegenentwurf zur biederen Blauhemdenkultur, den die SED verordnet.

Verschworene Fangemeinde

Überhaupt ihre Fans. Auch bei ihnen handelt es sich, wie bei denen von U2, The Cure oder New Order, um eine verschworene Community, die ihre drei Lieblinge abgöttisch liebt, sie kultisch verehrt und damit dem Rang einer Sekte gefährlich nahe kommt. Vorwiegend in schwarz gekleidet, organisieren sie Club- und Aftershow-Events, küren den besten Gahan-Imitator oder reisen der Band von Konzert zu Konzert hinterher. Auf Websites und entsprechenden Foren kann man diese rege Reisetätigkeit nachlesen.

Dabei hat ein echter DM-Fan folgendes zu leisten: Einerseits muss er die einschlägigen Texte auswendig kennen. Schließlich muss und will er sie im Konzert auch lauthals mitgrölen. Außerdem erwartet er, dass seine Lieblinge ständig ihre Jugendzeit zitieren und ihre alten Gassenhauer auspacken. Andererseits darf das nicht in Selbstzufriedenheit oder Selbstgenügsamkeit ausarten, wie es nach Ansicht des DM-Fans etwa bei U2, Coldplay oder REM der Fall ist.

Tourshirt: Schmerzen und Leiden in diversen Ländern (Bild: W.D.Roth)

Würden Gahan oder Gore zum Beispiel wie Bono den Gutmenschen mimen und plötzlich für "fair trade" oder "Schuldenerlass" öffentlich eintreten, würden die Fans ihnen das nie verzeihen. Im Gegenteil, die Band hat gefälligst das Image der inneren Selbstzerrissenheit zu pflegen und zu bedienen. DM-Fans sind "Damaged People" mit "disturbed souls", die "suffer and pain in various themes" erleiden. Weshalb die Band das Tragische repräsentieren, ständig zwischen Schmerz und Pein, Demut und Hingabe, Hölle und Paradies oszillieren muss und diese Gefühle mit möglichst großer Geste zur Aufführung zu bringen hat.

In Gahan hat die Band ein willfähriges Opfer, der in Selbstkasteiungen schwelgt, den "Schmerzensmann" zur perfekten Stil-Ikone stilisiert und stellvertretend für sein Publikum mit messianischen Posen den Märtyrer abgibt. Er gibt dem Fan, was bei Vierzigjährigen längst (ab)geklärt sein sollte: das pubertäre Pendeln zwischen "Himmelhochjauchzend" und "Zu-Tode-betrübt-Sein".

Lost in Maschines

Schwer zu erklären ist, warum Depeche Mode, obwohl sie in der Mitte des Establishments angekommen sind und sogar einen Auftritt bei "Wetten dass" absolvieren, bei ihren Fans immer noch im Ruf stehen, eine Truppe von Quertreibern und Außenseitern zu sein. Vermutlich haben wir es hier mit einer klugen "Politik der strikten Ambivalenz" (D. Kamper) zu tun, erneut eine geschickte Form des Marketings und des Public Relations, die Anziehung und Abstoßung, Tradition mit Innovation verbindet und gerade deswegen so perfekt funktioniert, weil es darin kracht, raucht, knirscht und stinkt.

Unvermittelt sind wir bei der Antwort auf die Frage, was den Erfolg des Trios ausmacht, bei den Wunschmaschinen angelangt, die Deleuze & Guattari beschreiben. Im Gegensatz zu ihrem Antipoden Jacques Lacan, der das Begehren aus der Erfahrung eines Mangels und der Not ableitet, wird der Wunsch bei D & G von einer eigensinnigen Qualität getragen. Ihm fehlt es praktisch an nichts, er ist unmittelbar real und will, was er will. Ungeachtet aller Ideologien, Mythen und Bilder (das Imaginäre), aber auch jenseits aller Buchstaben, Formeln, Zahlen (das Symbolische) durchstreift er ziellos, aber nonstop pulsierend den Körper, ständig auf der Suche nach Verausgabung und exzessiver Selbstverschwendung (G. Bataille).

Zur Maschine wird der Wunsch, wenn sich die kapitalistische Produktion seiner Produktivität besinnt, der moderne Kapitalismus alle Waren-, Geld- und Datenströme entfesselt und das Maschinelle von der Psycho-Physiologie des Körpers Besitz ergreift. Dann erst kann die Maschine so weit ins Innere des Körpers eindringen, dass es zur Ko-Extension von Mensch und Natur, von Biologie und Technik kommt, und der Wunsch fortan nicht mehr von der Ordnung der Maschine getrennt werden kann.

Solche "animistischen Maschinen", die zugleich Produzent, Werkzeug und Ergebnis ihrer selbst sind, unterscheiden sich diametral von herkömmlichen diskreten Maschinen. Laufen diese störungsfrei, funktionieren Affektmaschinen nur als gestörte; brauchen technische Maschinen meist jemanden, der den Schalter umlegt, sie zum Laufen oder Stoppen bringt, stellen jene ihren Halt in Eigenregie her. Damit verhalten sich animistische Maschinen auch völlig konträr zur Turingmaschine, die bekanntlich das Modell für alle künftigen Rechenmaschinen abgibt. Folgt diese einem Kalkül, der sie in allen ihren möglichen Zuständen determiniert, operieren affektive Maschinen im unbezeichneten Leer- und Zwischenraum, der dem Klipp-Klapp des Binären vorgeschaltet ist und diesen rechnenden Raum zuallererst eröffnet und konstituiert.

Die Begriffe, die dafür im Umlauf sind, sind vielfältig. Was die Romantik "Natur" nennt, wird in der Informationstheorie zum "Rauschen" und in der Physik zum "Chaos". Und was die Philosophen "Sein", die Soziologen "Umwelt" und die Demoskopen "Kaffeesatzleserei" bezeichnen, nennt die Musiktheorie schlichtweg "Sound".

Im Maschinenraum des Lebens

Wenn wir davon ausgehen, dass Depeche Mode in ihren genialsten Momenten gelingt, was animistische Maschinen versprechen, der Pop im letzten Vierteljahrhundert aber immer wieder verfehlt hat: ein "richtiges Leben im falschen", sprich: die Versöhnung des Menschen mit der unmenschlichen Welt der Maschinen (Jens Balzer), dann kommen wir den Heimat-, Trost- und Wonnegefühlen, die DM-Fans bei der Musik oder den Konzerten der Band empfinden, schon sehr nahe.

Die Briten geben, woran Elektroniker, Komponisten und Ingenieure wie Stockhausen, die Einstürzenden Neubauten oder Kraftwerk ständig scheitern: Leidenschaft, Sehnsucht und Schmerz in Beats und Loops, Riffs oder Grooves zu packen. Sie verstehen es, starke und heftige Emotionen in Ingenieurskunst zu tauchen und sie mit den Maschinen zu verschalten. Es sind genau diese Hörstürze und inneren Wallungen, die Friedrich Kittler beim Hören von Jimi Hendrix und Pink Floyd empfunden und genossen hat, während seine Kameraden Barrikaden gebaut und den Straßenkampf gesucht haben, die Depeche Mode ins Leben rufen.

Dem Materie-Strom folgen

Und dieses Empfinden ist es auch, warum sie so vergöttert werden. Depeche Mode folgen jenem Weg, den D & G in "Mille Plateaux", ihrem Alterswerk, beschritten haben. Sie setzen einen "Materie-Strom", der zugleich Medium und Botschaft ist. Auf ihm bilden sie Milieus und Rhythmen (Sample, Grooves), die sie zu Gefügen, Schichten und Ordnungen (Loops) verfestigen und mit metallisch scheppernden, später digital errechneten Geräuschen anreichern oder untermalen. Anschließend zerschneiden (de-territorialisieren) sie diesen Strom wieder, stellen Zugehörigkeiten, An- und Ausschlüsse her, womit sie Verkettungen in Gang setzen und neue Territorien abstecken (re-territorialisieren).

Indem sie Territorien für Andere oder Anderes öffnen, für das Molekulare genauso wie für das Kosmische, stellen sie Schnittstellen zum Publikum her, zu Hörern und Fans, die beim Genießen der Beats und Grooves n+1 Plateaus erklimmen und sich dadurch neue Sphären (P. Sloterdijk) und Sounderlebnisse erschließen.

Heilige Messen

Ein Konzert von Depeche Mode bekommt dadurch stets den Charakter einer Heiligen Messe. Auch wenn ihre Fans längst nicht mehr in "schwarzen Klamotten" auflaufen, nach Alter und Schichtzugehörigkeit bunter gemischt und diversifiziert erscheinen und sie sich bei Pizza, Caipirinha und Bratwürsten die "Zeit des Wartens" (W. Benjamin) auf das Kommen des Messias vertreiben, läuft eine halbe bis Viertelstunde vor Beginn des Konzerts alles nach einem strengen Ritual ab.

Die Halle ist zu diesem Zeitpunkt bereits bis auf den letzten Platz besetzt. Vereinzelte Pfiffe werden laut, dem sich leichtes, rhythmisches Klatschen anschließt. House, Technosound und Discobeats werden allmählich lauter. Die Front of Stage beginnt, die "LaOla" Welle zu initiieren, die nach kurzer Zeit wie geplant die Ränge erreicht und mit lautem Hallo, Klatschen und Jubelschreien mehrmals um die Halle fegt. In München gelingt das Manöver am Valentinstag etwas mühsam und holprig. Fünf Jahre zuvor, bei der "Exciter-Tour", gelang das perfekter und stimmungsvoller. Vielleicht ein später Tribut ans Alter. Danach nimmt der Technosound an Fahrt und Intensität zu. Das Publikum beginnt zu tänzeln, es stampft mit den Füßen, klatscht fordernd und kreischt wild. Als die Stimmung endlich am Siedepunkt ist, uns dazu Georges Bataille einfällt, und die Beats dröhnen, geht pünktlich um neun das Licht aus.

Spielten sie in München nicht: Die SM-Hymne (Bild: W.D.Roth)

Danach kennt die Halle kein Halten mehr, sie wird zum tobenden Ungetüm. Die Basslines wummern, der Sound hämmert, die Hochtöner klirren. Der Schrei der Masse nach ihren Lieblingen will nicht enden, bis endlich Fanfarenstöße einsetzen, die Trompeten von Jericho. Noch ist nichts von den "heiligen drei Königen" zu sehen. Plötzlich nimmt, was man kaum glauben kann, die Phonstärke noch einmal zu. Erste Bewegungen sind auf der Bühne zu erkennen. Das Personal, Andy Fletcher und, endlich, kommt auch Martin Gore auf die Bühne. Die Halle erstickt in einem einzigen hysterischen Schrei. Er will auch dann nicht enden, als das Knirschen und Kettensägen von "Playing The Angel" einsetzt und das tiefe Rumoren der Bässe "A Paint That I’m Used to" ankündigt. Der Schrei nach Erlösung hebt, unglaublich, aber wahr, noch einmal an, als Dave Gahan seine sonore Stimme erklingen lässt und ins Rampenlicht tritt.

Die ersten Songs gehen im Geschrei und Gekreische fast völlig unter. Als sich Publikum und Band allmählich auf eine Kommunikationsform einigen, merkt man erst, dass der Sound glasklar ist, der Bass manchmal etwas übersteuert scheint, und die Stimme Gahans ob der vielen Termine schon etwas angegriffen ist. Als nach dem ersten Teil die Stimmung etwas abzuschmieren droht, packt die Band, wie es sich für Berufsmusiker gehört, ihre Gassenhauer aus. Jetzt dominieren die Klassiker, die bislang noch jedes Konzert aus dem Feuer gerissen haben.

Maske, Schminke, Mimikry

Auf der Bühne gibt Gahan wie gewohnt den Propheten, Priester und Messias. Er beschwört die Massen, entfacht eine messianische Stimmung im Saal und durchleidet stellvertretend für alle Anwesenden Marter, Höllenqualen und Glücksgefühle zugleich. Bei "I Feel you" entledigt er sich unter dem Gejohle der weiblichen Fraktion endlich auch des Oberteils. Er zeigt seine Tattoos, schwingt die Hüften sexy, lässt aber Muskeln und Drahtigkeit vermissen, die Iggy Pop oder Billy Idol auszeichnen. Ist es Zufall, dass Gahan in Aussehen, Posen oder gesanglichem Part wie weiland der allseits verehrte Freddy Mercury wirkt?

Andy Fletscher und den zweiten Keyboarder hat Anton Corbijn, der für das Bühnenbild zeichnet, in kleine runde Raumkanzeln verpackt. Sie sehen wie Riesenschwimmreifen aus und entfalten neben dem Schlagzeug eine eigentümliche Art von Komik. Gegenüber ist eine Raumkapsel platziert, auf der immer wieder die Themen der Band eingeblendet werden: regret, voe, sex, deteriorate, absolution, control usw. Was den SZ-Kollegen zu einer wahren Feier auf das Bühnenbild motiviert hat, bleibt wohl sein Geheimnis (Schmerz und Leiden im unterschiedlichen Tempo). Die Bilder, die auf die Videowände projiziert werden, sind dagegen okay. Der Catwalk, der mitten in die Arena führt, wird viel zu wenig genützt. Wie überhaupt die Band sich mitunter schnöselig gibt und mit ihrem Publikum zu selten kommuniziert.

Martin Gore obliegt es, passend zur CD und Tour, "den Engel zu spielen". Er steckt in einem schwarzen Gockelkostüm mit aufgesetztem Hahnenkamm, an dessen Rücken zwei Flügel montiert sind. Mit diesen schwarzen Federn wirkt er in Zeiten von H5N1 eher wie ein dämonisches, nicht mehr für den Kochtopf geeignetes albernes Suppenhuhn. Nachdem er vor fünf Jahren noch in blütenweißer Montur aufgetreten ist, trägt er diesmal schwarz, was uns an ein trotziges Kind erinnert, das ständig das Gegenteil von dem macht, was man von ihm erwartet. Obwohl er frei auf der Bühne agieren darf, nur ab und an hinter dem weißen Schwimmreifen die Tasten drückt, beginnen wir, ihn schon heftig zu bedauern. Offensichtlich ist er auf der Tour der echte "Schmerzensmann", der in Schweiß ertränkt werden soll.

Doch so schlimm ist es offenbar nicht. Bald legt er die Kappe ab und zeigt uns seinen blondierten und toupierten Haarschopf. Im Gesicht, vor allem unterhalb der Augenpartien, entdecken wir Spuren von Engelsgold. Oder sind es Tränen des Selbstmitleids? Gore, der gefallene Engel? Haben Depeche Mode ihr Gefühl für Stil-Sicherheit verloren? Der SZ-Klatschreporter wird am anderen Tag schreiben, dass Martin Gore beim "Andechser am Dom" in einen heftigen Disput über Ästhetik mit Eckart Nickel verwickelt ist.

Auch Gore’s Bühnenleben hat offenbar nichts mit seinem realen Leben zu tun. Statt sich in einschlägigen Clubs der Stadt herumzutreiben, goutiert er mit Andy Fletcher lieber "bayrischen Lifestyle" und erfreut sich an Schuhplattlern, während Dave Gahan das Hotelbett vorzieht. Dies ist beileibe keine singuläre Erscheinung, wie wir dem Interview mit Roger Daltrey über Gitarrenzertrümmerungsexzesse der Who, den Whiskey-Abuser Keith Richards oder den braven, Golf spielenden Papa Alice Cooper entnehmen (Wir haben vermutlich einen Weltkrieg verhindert).

Erhabene Spiritualität

Rummel, biederes Spießerleben und ästhetische Meinungsverschiedenheiten ändern aber nichts daran, dass Depeche Mode uns großartige Popsongs geschenkt haben, Songs, die für die Ewigkeit bestimmt sind. Einerseits solche ruppigen Stampflieder wie "Halo", "Nothing", "Pleasure, Little Treasure" oder das bereits erwähnte "Enjoy the Silence"; andererseits so gefühlvoll instrumentierte und in dunkle Trauer gehüllte Balladen wie "Little 15", "Waiting for the Night", "Sometimes", "Home" oder das geniale, den Kitsch umschmeichelnde "Somebody". "Alle Lust will Ewigkeit" - dieser Spruch Nietzsches in den Gedenkstein von Sils-Maria gemeißelt, dort, wo die "Ewige Wiederkehr des Gleichen" ihn einst wie ein Hammerschlag traf. Niemals ist er wahrer als hier.

Botho Strauss (Der Konflikt), der jüngst die Spiritualität der Mullahs und Imame preist, den Verlust des Sakralen in satten Gesellschaften beklagt, und diese "schwache Zeit" zu Ende gehen sieht, sollte mit Frank Schirrmacher, seinem freundlichen Beipflichter und Unterstützer (Vorbereitungsgesellschaft), demnächst zu einem Depeche Mode Konzert kommen. Dort würden beide eine Sakralität entdecken, die sie vor Ehrfurcht zittern macht und zum Verstummen bringt. Auch wenn es sich hierbei um Rituale handelt (ist die Wut der islamistischen Ikonoklasten, das Verbrennen westlicher Symbole und Codes, so fragen wir, nicht auch längst zum Ritual erstarrt?), religiös indifferent sind sie nicht. Folgen wir Walter Benjamin (Kapitalismus ist Kult), dann werden Dinge und Phänomene erst durch ihre Ritualisierung zur Religion.

Für bellizistische Zwecke taugen Depeche Mode-Messen hingegen nicht. Dafür sind die Band und ihr Publikum auch zu unheroisch. Die Soft Power, die sie ausstrahlen, und die Messages, die sie verbreiten, sollten unsere beiden Kulturkrieger deswegen aber nicht gering- oder gar unterschätzen. Ein Text wie "Never Let Me Down Again" kann auch Selbstmordbomber inspirieren. "We're flying high/we're watching the world pass us by/never want to come down/never want to put my feet back down on the ground." Auch hier kommt es auf "Differenzierungsvermögen" und "Schönheitsverlangen" an. Selbst Muslime, assimilierte oder bekennende, hören MTV und bedienen sich bei Tauschbörsen "like all soul sisters and soul brothers", wie es in "Goodnight Lovers", dem Rausschmeißer der Tour liebvoll heißt. Das stimmt uns doch mutig und froh.