Der "Westen" als Einheit existiert nicht

Ein Gespräch über Patriotismus und Sportfaszination, über universitäre Bildung und College-Sport, über die Idee des Westens und das Schurkenstaat-Image, das Amerika derzeit in aller Welt genießt

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Hans Ulrich Gumbrecht ist Autor unzähliger Bücher und schreibt für fast alle großen deutschsprachigen Zeitungen und Magazine, vorwiegend und regelmäßig für die FAZ und die NZZ, den „Merkur“ und die „Literaturen“. Neben Jürgen Habermas und Peter Sloterdijk dürfte Sepp Gumbrecht mittlerweile zu den bekanntesten und einflussreichsten Intellektuellen Deutschlands zählen. Seit seiner Übersiedlung in die USA, seinem glühenden, auch öffentlich bekundeten Bekenntnis zum „Amerikanertum“ und seiner Parteinahme für das „Neue Rom“ ist „unser Mann in Stanford“, wie er gern, häufig auch ironisierend, bezeichnet wird, aber auch zum Gegenstand erregter und hitziger Debatten und Anklagen in Deutschland geworden. Weder fühlt er sich als deutscher oder gar europäischer Außenposten, noch will er mit alteuropäischen Kalamitäten in Zusammenhang gebracht werden. Telepolis hat Sepp Gumbrecht in seiner neuen Heimat, in Stanford/California, besucht. Er spricht zum ersten Mal ausführlich und öffentlich über seine (persönlichen) Motive, „Amerikaner“ zu werden, und nennt Gründe, warum er stolz auf sein Land ist.

Hans Ulrich Gumbrecht, von Freunden „Sepp“ genannt, wurde 1948 in Würzburg geboren. Nach dem Abitur, das ihm ein Stipendium der Stiftung Maximilianeum (Bayerische Höchstbegabtenförderung) einbrachte, legte er eine Bilderbuchkarriere hin. Er studierte Germanistik, Romanistik, Soziologie und Philosophie an den Universitäten München, Regensburg, Salamanca und Pavia, promovierte mit dreiundzwanzig in Konstanz und wurde als Sechsundzwanzigjähriger Professor in Bochum. In Siegen wurde ihm vom damaligen Bundesminister für Bildung und Wissenschaft, Jürgen Möllemann, das erste nicht-naturwissenschaftliche Graduiertenkolleg Deutschlands anvertraut. Seit 1989, dem Jahr des Mauerfalls, lehrt er an der Stanford University Vergleichende Literaturwissenschaft.

Sowohl in der Siegener Zeit als auch in Stanford hat er den geisteswissenschaftlichen Diskurs im In- und Ausland, also Diskursanalyse und Systemkonstruktivismus, Dekonstruktivismus und Medienarchäologie, maßgeblich vorangetrieben und aktiv und an vorderster Front an ihm mitgeschrieben. Seit Ende der 1990er Jahre, spätestens aber seit seinem „Präsenzbuch“, ist eine „metaphysische Kehre“ bei ihm auszumachen. Es geht Gumbrecht nun um die Suche oder die Aufdeckung eines Vorbegrifflichen, mithin um das, was nicht in Text oder Sinn, Medientechnik oder Kommunikation aufgeht, was die philosophische Tradition mit dem „Leben“ oder besser: dem „Erleben“ umschreibt, er aber lieber das „Nicht-Hermeneutische“ nennt.

Sepp Gumbrecht ist Autor unzähliger Bücher und Textsammlungen, sie alle aufzuzählen, dafür dürfte der Platz hier kaum ausreichen. Zuletzt hat er sich dem Sport und seiner ihm eigenen Faszination zugewandt. Zudem schreibt er für fast alle großen deutschsprachigen Zeitungen und Magazine, vorwiegend und regelmäßig für die FAZ und die NZZ, den „Merkur“ und die „Literaturen“. Gumbrecht ist Mitglied des so genannten „Scientific Board“ der Auto-Uni, die vom Volkswagenkonzern getragen wird, und des Rats der Universität Greifswald. Zugleich ist er bekennender Football- und Fußballfan, der für Baseball und Eishockey schwärmt. Neben Jürgen Habermas und Peter Sloterdijk dürfte Sepp Gumbrecht mittlerweile zu den bekanntesten und einflussreichsten Intellektuellen Deutschlands zählen.

Es ist praktischer, von zwei verschiedenen Kulturen auszugehen

Obwohl du in Deutschland vor einer blendenden Karriere gestanden bist, hast du 1989 das Land verlassen und bist nach Stanford gegangen. Was waren die Beweggründe damals?

Sepp Gumbrecht: Ich hatte das Gefühl, in Deutschland mit vierzig meine berufliche Karriere bereits hinter mir zu haben. Viel von dem, was mir persönlich wichtig war, hatte ich schon erreicht: Ich war sehr jung Ordinarius geworden, zu zwei der damals sehr angesehenen „Poetik und Hermeneutik“-Kolloquien eingeladen worden, ein Bundesministerium hatte mir den Modellversuch für das erste geisteswissenschaftliche Graduiertenkolleg anvertraut; und ich hatte bei Suhrkamp publiziert und für die FAZ geschrieben. Gereizt hat mich gerade deshalb die völlig andere Universitätssituation in den USA.

Die größte Herausforderung lag darin, dass das College eine akademische Einrichtung ist, die es ausschließlich in England und in den USA, aber nicht in Europa gibt. College-Studenten zu unterrichten, verlangt vom Lehrer eine völlig andere Haltung und Form der Vorbereitung. Sie sind im Durchschnitt nicht nur deutlich jünger als „Fachstudenten“ in Deutschland, man muss vor allem auch ihre Motivation für bestimmte Lehrveranstaltungen verstehen lernen – denn grundlegend ist das College eine auf Allgemeinbildung im traditionellen Sinn angelegte Institution. Es hat bestimmt zehn Jahre gedauert, bis ich College Kurse so vorbereiten und geben konnte, dass ich erfolgreich war.

Ein anderer Grund für den Wechsel in die Vereinigten Staaten war, dass ich seit meiner ersten amerikanischen Gastprofessur 1980 in Berkeley eine Art von „Liebe auf den ersten Blick“ zu dem Land entwickelt hatte. Vom ersten Tag an bemerkte ich, dass das „mein Ding ist“ – worauf ich am Anfang als Alt-68er beinahe mit einem schlechten [politischen] Gewissen reagiert habe. Im Nachhinein hat sich aber für mich – Politik hin oder her – bewahrheitet, dass ich mich auch langfristig enorm wohlfühle in diesem Land. Mit der deutschen Universitätslandschaft hatte das eigentlich wenig zu tun, schon gar nicht damit, dass ich in Deutschland vielleicht schlecht behandelt worden wäre. Das Gegenteil war der Fall gewesen. Dennoch hatte ich einfach das Gefühl, dass Amerika und ich noch besser „zusammenpassen“.

Sicher gab es auch einen spezifisch deutschen historischen Grund für meine Entscheidung. Ich gehöre jener deutschen Generation an, in der sich viele entschlossen haben, jene historische Verantwortung oder gar Schuld auf sich zu nehmen, welche die Generation, die verantwortlich oder schuldig war, nicht auf sich genommen hatte. Ich empfand es deshalb als Befreiung und vor allem als eine Entlastung, mich in einem anderen kulturellen Kontext und Klima als dem deutschen bewegen zu können. Beispielsweise hatte ich vor meiner Ankunft in den USA tatsächlich nie auch nur eine Zeile Heidegger gelesen. Erst ab 1989, meinem ersten Jahr in Stanford, wurde es plötzlich leichter, mich von diesem selbstverhängten Verdikt zu befreien und Heidegger zu lesen. In Deutschland war mir das zuwider.

Object of Desire

Mittlerweile bist du amerikanischer Staatsbürger und hast deine alte „Identität“ gegen eine neue eingetauscht. Was hat dich zu diesem Schritt bewogen?

Sepp Gumbrecht: Das ist mir erst in dem Moment klar geworden, als ich eine beruflich wirklich interessante Möglichkeit hatte, nach Deutschland zurückzukehren. Da erst bemerkte ich, dass ich nicht mehr dauerhaft in Europa oder Deutschland leben wollte. Und als mir das definitiv klar war, machte es auch mehr Sinn, zusammen mit meiner Familie die US-Staatsangehörigkeit zu erwerben.

Schließlich habe ich trotz und in der jetzigen politischen Situation in den Vereinigten Staaten eine große Bewunderung für diese sehr alte Demokratie, von der ich immer noch neue Aspekte und wahre Stärken im Alltag entdecke, weniger in der Politik-Szene in Washington. Demokratisch wird Amerika in seiner sehr eigenen Weise zum Beispiel da, wo sich Eltern täglich intensiv für die Schulen ihrer Kinder engagieren und dabei zu großen – vor allem finanziellen – Opfern bereit sind. Sich zu entschließen, in einem Land zu leben, ist etwas anderes, als in dem Land zu leben, in dem man geboren worden ist. Ich wollte Amerikaner werden, während mich nie jemand gefragt hatte, ob ich Deutscher sein wollte. Mit meiner Entscheidung bin ich nach wie vor zufrieden – aber ich bin es zugleich leid, sie so diskutieren zu müssen, als hätte ich sie im Sinne des kantschen Imperativ als eine auch für andere vorbildlich oder gar potentiell bindende Entscheidung gemeint.

Natürlich gibt es beim Wechsel der Staatsangehörigkeit auch groteske oder doch mindestens ironische Effekte. Einen zeigt diese kleine Anekdote: Wenige Tage nachdem ich meinen amerikanischen Pass bekommen hatte, musste ich eine Gruppe amerikanischer Studenten aus Stanford auf einer Tour nach Hiroshima begleiten. Für mich war das wie eine Wiederholung der vertrauten, deutschen Situation. Auch wenn die Parallelen zwischen Hiroshima und dem Holocaust meiner Meinung nach sehr deutliche Grenzen haben, fand ich mich in einer Situation wieder, wo die Erinnerung an die nationale Geschichte Beklommenheit schuf – und schaffen sollte. Andererseits ist es, seit ich Amerikaner bin, für mich einfacher, über bestimmte Dinge nachzudenken und sie zu kritisieren, die mir in den USA nicht gefallen oder mit denen ich nicht einverstanden bin. Als Amerikaner kann ich versuchen, einen Beitrag dazu zu leisten, dass sich genau dies verändert.

Würdest du, bezogen auf deine Situation, sagen, dass der „Schmelztiegel“ noch funktioniert? Oder würdest du denen Recht geben, die nur noch einen„gemischten Salat“ erkennen wollen?

Die Latinos assimilieren sich von Hector Ruiz

Sepp Gumbrecht: Schmelztiegel war die alte Metapher, die seit einiger Zeit als politisch unkorrekt disqualifiziert worden ist. Seitdem spricht man lieber vom salad bowl – was mich immer an den hier gänzlich unpassenden Geruch und Geschmack von Salatsoße erinnert. Ich würde das Thema jedenfalls anders angehen.

Bei der Zeremonie der Einschwörung neuer Staatsbürger hält ein Vertreter des Rechtssystems eine Rede. In meinem Fall war es eine Staatsanwältin aus San José. Für sie lag das Besondere der US-Staatsbürgerschaft darin, dass man in dem Moment, wo man rechtlich Amerikaner wird, man im vollen Sinn „citizen“ ist, second nobody else, to no other long-term citizen. „Citizenship“ meint vor allem, dass man Mitglied in einem Rechtssystem ist, das einem Rechte und Pflichten einräumt.

Die Frage der ethnischen Zugehörigkeit ist weitgehend neutralisiert. Demografisch gesehen gibt es ethnisch heute ohnehin keine klare, absolute Mehrheit mehr in der Vereinigten Staaten, vielleicht nicht mal mehr im wirtschaftlichen oder politischen Sektor. Dazu muss man sich nur das gegenwärtige Kabinett und die vorhergehenden Kabinette ansehen. Vielleicht würden die WASPs absolut gesehen immer noch knapp vorne liegen, aber eines der von der amerikanischen [und ohnehin von der internationalen] Linken bestgehütetesten Geheimnisse ist, dass das gegenwärtige Kabinett Bush multi-ethnischer ist als irgendein vorheriges Kabinett in der amerikanischen Geschichte – und an zweiter Stelle dieses „all-time rankings“ folgt das erste Kabinett Bush.

Langfristig kommt dabei wohl auch der Effekt der affirmative action an den Universitäten zum Tragen. Manche behaupten zwar, die affirmative action sei de facto Rassismus, weil sie von ethnischen [„rassischen“] Kriterien ausgehe. Ich habe aber täglich die positiven Auswirkungen im Blick. Stanford, als private Universität, leistet sich wie fast alle anderen privaten Top-Universitäten affirmative action. Ich sehe die vielen, zum großen Teil, aber nicht ausschließlich afro-amerikanischen Studenten, die ohne affirmative action, einfach aufgrund ihrer Highschool-Abschlussnoten nie hätten nach Stanford kommen können – und nun wesentlich zur Intensität unseres intellektuellen Klimas beitragen. Deshalb würde man aus solchen Gründen heute und unter amerikanischen Bedingungen gewiss nicht mehr die Frage stellen, was denn die nationale „Leitkultur“ sein sollte.

Aber Huntington wirft die Frage auf – mit guten Gründen. Und er liefert auch gewichtige Argumente für die Existenz einer solchen Leitkultur, nämlich den Bezug auf den American Creed, der das Land erst zu jener Größe gemacht hat, die es aktuell besitzt.

Sepp Gumbrecht: Auch wenn ich Huntingtons Bücher wegen ihres trockenen historischen Realismus durchaus schätze, wer sagt denn, das seine Einschätzungen für die Zukunft zutreffen müssen? Im Gegensatz zu ihm meine ich – wie er als American citizen – dass es die natürlichste Fortsetzung der Traditionen meines in seiner Identität noch nie ethnisch definierten Landes wäre, wenn, um nur eine mögliche Entwicklung positiv hervorzuheben, wir bald zwei Nationalsprachen haben werden: Englisch und Spanisch eben.

Guckt man sich den Aufstand in den französischen Banlieues oder die Geschehnisse nach der Springflut in New Orleans an, dann muss man aber ernüchtert feststellen, dass Einbürgerung, doppelte Staatsbürgerschaften und Staatsbürgerkunde „Rassismus“ und/oder den „Kampf der Kulturen“ kaum verhindern.

Sepp Gumbrecht: Ich glaube, dass, was den „Rassismus“ angeht, die Dinge in Europa und in den Vereinigten Staaten anders liegen. Nicht, dass es keinen Rassismus gäbe in den USA. Aber für den Durchschnittsamerikaner, auch den weniger gebildeten, ist es viel normaler als für den durchschnittlichen Europäer mit Menschen zusammenzuleben und zusammenzuarbeiten, die eine andere Hautfarbe haben und vielleicht auch eine andere Muttersprache. Es gibt eben glücklicherweise keine Leitkultur. Dass europäische Intellektuelle ab und an, den Klu-Klux-Klan romantisierend, den USA ihren „Rassismus“ vorwerfen, so als wäre Europa Rassismus-frei, ist einfach lächerlich. Es ist, könnte man polemisch sagen, das wishful thinking der europäischen Intellektuellen, die die Erfahrung nicht verschmerzen können, dass ihr Kontinent die internationale Führungsrolle verloren hat. Vielleicht war ja die Moralisierung des Irak-Kriegs ein letzter, ungeschickter Versuch, diese Rolle zurück zu gewinnen.

Du lenkst ab und weichst dem Problem aus! Die Frage ist, so lehrt zumindest die jüngste Erfahrung in Europa (siehe Niederlande, Frankreich, Dänemark …), dass die Gewährung von Rechten und Pflichten die Kluft zwischen den Kulturen nicht überbrücken kann.

Sepp Gumbrecht: Ich sehe nicht, wo das prinzipielle Problem für uns liegen sollte. Natürlich gibt es unterpriviliegierte Gruppen, gibt es Ghettos, gibt es Frustrationen. Aber ich bin dennoch überzeugt, dass die ethnische und die kulturelle Komponente in der Identität und Rolle des amerikanischen Staatsbürgers keine oder eine nur sehr untergeordnete Position einnimmt. Man ist hier noch nie davon ausgegangen, dass zum Beispiel alle Nachbarn oder alle Kollegen Weihnachten feiern. Und seit einiger Zeit hat dieses schon so lange existierende Wissen auch seinen Niederschlag in der Sprache und im Verhalten der Institutionen und Individuen gefunden, worin eine positive Auswirkung der inzwischen abebbenden political correctness liegen könnte. Aber die Vorstellung, dass eines Tages die eine oder andere Gruppe, die heute eine Minderheit ist, die Mehrheit oder die dominierende Schicht sein könnte, die löst in Amerika gewiss weniger Panik aus als in den europäischen Ländern.

Nationales Ergriffensein

Warum hast du dann deine feierliche Initiation zum Amerikaner mit so großem emotionalen Pathos beschrieben und Privates damit öffentlich gemacht? Zumal du genau wusstest, dass Nationalstolz in Deutschland alles andere als gut ankommt.

Sepp Gumbrecht: Lust an der Provokation ist bei meinen Texten und Äußerungen immer dabei. Positiv formuliert: Denken wird produktiv, wenn bestimmte Positionen überzogen werden, um damit Widerspruch hervorzurufen. In dieser Rolle fühle ich mich sehr wohl. Ich will mich zwar nicht total isolieren, aber solange man zum Widerspruch reizt und damit Reaktionen bei anderen auslöst, finde ich das ganz in Ordnung.

Möglicherweise macht es aber die Einklammerung der ethnischen Komponente leichter, Nationalstolz zu zeigen. Mögen Afroamerikaner oder Latinos sozial auch unterprivilegiert sein, so haben sie doch die amerikanische Staatsbürgerschaft – oder haben sie erworben. Von da an gibt es im Normalfall einfach keinen Zweifel mehr, dass sie innerhalb der gesetzlich festgelegten Rechte und Pflichten funktionieren und eben Amerikaner sind. Mich hingegen fragt man in Europa tatsächlich beständig, ob ich denn – wie man annimmt – nach meiner Emeritierung [schon die ist in den USA inexistent] nach Europa zurückkomme, um dort meinen Lebensabend zu verbringen und – oh Gipfel der Rührung – begraben zu werden.

Es ist nun schon eine Zeitlang her seit dem Erwerb meiner Staatsbürgerschaft. Doch etwas von dem Pathos spüre ich immer noch, wenn ich etwa nach Virginia fliege, wo die Väter der Verfassung: Washington, Jefferson, Monroe und Madison gelebt haben. Man sieht dort ihre zum Teil winzigen Farmen und Häuser und man spürt sofort eine „Unwahrscheinlichkeit“ im Luhmannschen Sinn, die darin liegt, dass aus dieser Kolonie, die keine politische Macht hatte, aber wirtschaftlich funktionierte, das Land geworden ist, das es heute ist.

Die optimistische Version, die von dieser Geschichte zu erzählen wäre, ist die einer gewissen Treue gegenüber gewissen Prinzipien. Es fällt mir leichter: „I’m proud to be an American“, oder: „I’m proud of this Country“ zu sagen, selbst im Bewusstsein vieler Probleme, als es mir fallen würde, zu sagen: „Ich bin stolz, ein Deutscher zu sein“. Das mag vielleicht einfach idiosynkratisch sein und nicht von Gründen abhängen, die andere übernehmen könnten oder sollten. Aber es ist für mich faktisch so. Und wenn sich europäische, vor allem deutsche Leser wirklich darüber aufregen sollten, dass ich in Amerika meine Fähigkeit zum Nationalstolz einer anderen Art von Nationalstolz entdeckt habe, so wundert mich das zunächst. Ist mein Einzelfall denn so wichtig? Und dann frage ich manchmal weiter, wofür denn diese Aufregung bei einigen meiner Leser ein Symptom sein könnte.

Was vermutest du?

Sepp Gumbrecht: Hm – mit dieser Nachfrage hatte ich nicht gerechnet. Vielleicht ist der durchschnittlich gebildete [andere treffe ich leider kaum] Europäer einfach verunsichert genug, um sich die Vorstellung verbieten zu müssen, dass einer wie ich ganz einfach lieber und besser in Amerika leben kann als in Europa. Und deswegen pathologisiert man das dann gerne. Amerikaner hingegen sind kaum je verwundert – sondern in vielen Fällen einfach voll von Bewunderung –, wenn sich einer ihrer Landsleute entschließt, lebenslang in dem [aus ihrer rührenden Sicht: so sehr kultivierten] Europa zu bleiben.

Handelt es sich da nicht einfach auch um eine Verschiebung. Weil man aus historischen, ideologischen, politischen oder welchen Gründen auch immer faktisch nicht stolz sein kann und darf, Deutscher zu sein, kommt das Proud to be an American gerade recht.

Sepp Gumbrecht: Warum nicht? Es gibt eine Kontinuität des amerikanischen Staates und seiner Prinzipien seit 1776, sodass der Referenzgegenstand des „Proud to be an American“ ein anderer ist als etwa in Deutschland, wo eine solch lange Kontinuität eben nicht existiert. Immerhin handelt es sich um fast 250 Jahre Kontinuität, den Unabhängigkeitskrieg mit eingerechnet.

Auch in Frankreich ist die Referenz des Nationalstolzes eine bestimmte Staatlichkeit, eine bestimmte Tradition der Institutionen, bestimmte demokratische Verhaltensformen, die langfristig existiert haben. Das mag dort sehr stark mit einer bestimmten Existenz und bestimmten ethnischen Zugehörigkeit verknüpft sein. Doch es gibt auch diese Komponente, von Liberté, Egalité, Fraternité, 1789 im Sinne einer staatsbürgerlichen Mitgliedschaft und Kontinuität. Da braucht man nur über die Grenze nach Frankreich zu fahren.

François Furet, der große französische Historiker, hat einmal gesagt, dass jeder politische Alltag in Frankreich bis heute, halbbewusst oder bewusst, sich als Allegorie der französischen Revolution versteht. So ist es bei Entscheidungen des Supreme Court in den Vereinigten Staaten eigentlich auch. In Deutschland sagt man: Was sagt und wollte der Gesetzgeber? – Was dann zu Recht so kommentiert wird, dass „der Gesetzgeber“ eben eine notwendige Fiktion des Rechtssystems sei. Wenn man hingehen vom Supreme Court spricht und dann weiter sich fragt, was The Framers of the Constitution wohl mit dieser oder jener Formulierung in unserer Verfassung gemeint und gewollt haben, dann sieht man dabei durchaus auch historische Gesichter.

Glorifizierst du da nicht zu sehr? Etwa in dem Sinn, dass du bestimmte Symbole oder Events extrem überbetonst, historische oder soziale Aspekte oder Kontexte aber bewusst ausklammerst? Schließlich ist das „Nation-Building“ der USA, wie Martin Scorsese zuletzt in „Gangs of New York“ eindrucksvoll gezeigt hat, auch auf Blut, Mord und Opfer gebaut.

Sepp Gumbrecht: Natürlich betone ich eine positive Tradition, die es so in Deutschland nicht gibt. Wenn ich nicht in einem Atemzug die Auslöschung der amerikanischen Ureinwohner erwähne, so heißt das nicht, dass ich dieses schreckliche historische Faktum in Abrede stelle. Damit hat sich die amerikanische Nation [vor allem in ihrem Erziehungssektor] auseinanderzusetzen.

So gesehen ist ja auch diese Frage nach dem ersten Platz auf der Weltrangliste aller Menschheitsverbrechen obsolet – jede Nation sollte sich vorrangig mit den Problemen in ihrer Geschichte befassen. Ist, aus diesem Blickwinkel betrachtet, die Besorgnis, vor allem der deutschen Intellektuellen, man könnte in den Vereinigten Staaten die Auslöschung der nativa Americans vergessen oder verdrängen, nicht etwas befremdlich? Und will man wirklich argumentieren, dass dieser historische Prozess einer Auslöschung das Äquivalent der programmatischen und industrialisierten „Endlösung“ der Nazi-Jahre war? Aber genau diese Frage sollte ich ja als Amerikaner gerade nicht stellen.

Will Wilson: Wehmut amerikanischer Ureinwohner

Mein Eindruck ist eher ein umgekehrter. Gerade weil sich die Deutschen mit dem Holocaust so akribisch und schuldbewusst auseinandersetzen (man findet kaum eine Kultursendung im deutschen Fernsehen, kaum ein Feuilleton, in dem nicht täglich daran irgendwie erinnert oder darauf verwiesen wird), haben sie das Recht, vielleicht sogar die historische Verpflichtung, auch andere Nationen darauf aufmerksam zu machen.

Sepp Gumbrecht: Wieso? Ich bin mit dir einverstanden – und meine [im Gegensatz zu vielen deutschen Intellektuellen und Kritikern außerhalb Deutschlands], dass man in deinem und dem Land meiner Väter wohl tatsächlich das Menschenmögliche unternommen hat und noch unternimmt, um die Erinnerung an Verbrechen wach zu halten, die zum großen Teil auf deutschem Boden stattgefunden haben [es ist in dieser Hinsicht übrigens interessant, die Topologie der großen Konzentrationslager zu studieren] – und vor allem im Namen des deutschen Staates. Aber das bedeutet doch nur, dass die Deutschen getan haben, was dringend nötig war. Es rechtfertigt keinesfalls dieses Verhältnis von Musterschüler, die nun andere Schüler beim Lehrer verpetzen wollen. Diese selbstgefällige moralische Beflissenheit erinnert mich immer an Heinrich Manns großen Roman „Der Untertan.“

So will es Gott

Zwischen Amerikanern und Europäern wird ständig eine gemeinsame Wertegemeinschaft beschworen. Erst in den letzten Jahren merken wir, dass die Unterschiede zwischen beiden Kulturen möglicherweise größer sind als das Verbindende. Wo würdest du denn die größten Differenzen verorten?

Sepp Gumbrecht: Ich bin unter der Prämisse nach Amerika gegangen, dass das „auch“ eine westliche Kultur ist. Was ich vorhin über Colleges und Undergraduates gesagt habe, darüber, dass ich lange gebraucht habe, um das zu verstehen, gilt viel allgemeiner, als ich mir das zunächst vorgestellt hatte. Jeder, der sich langfristig in die eine oder andere Richtung verändert, wird diese Erfahrung wohl machen. Das geht Amerikanern in Paris oder Europa kaum anders – falls sie nicht, wie sehr viele von ihnen, so eingeschüchtert sind von der vermeintlichen „kulturellen Überlegenheit Europas“, dass sie sich fürchten, einzugestehen, wie wirklich anders Europa zumindest heute wirklich ist.

Pragmatisch wäre es also vielleicht angebrachter, oder eben einfach praktischer, von zwei verschiedenen Kulturen auszugehen. Dann hat nämlich keine der beiden Seiten mehr das moralische Recht, der anderen Seite vorzuwerfen, dass sie die eine Kultur „falsch“ auslegt oder praktiziert. Geht man von der Verschiedenheit aus, kann man auch eher Gemeinsamkeiten entdecken, die man interessant findet und über die man sich freut. So einfach könnte das vielleicht sein.

Die zentralste aller Verschiedenheit liegt für mich in dem international gesehen wirklich erstaunlichen empirischen Befund, dass 95 oder 97 Prozent meiner Landsleute offenbar an einen persönlichen Gott glauben, der sie persönlich liebt. Und zwar nicht im Sinne eines intellektuell gelebten Christentums, sondern auf eine Weise, wie es sie vielleicht vorher nur im Mittelalter gegeben hat. Gott ist für die meisten Amerikaner anscheinend so real wie die Existenz von Freeways und vielleicht realer als die Existenz eines Rechtssystems. Es gibt Gott „einfach“ für sie.

Bei all meiner Begeisterung für das Land und trotz der siebzehn Jahre, die ich dort lebe, habe ich mich mittlerweile etwas zähneknirschend damit abgefunden, dass ich an einem Sonntagmorgen kaum einen Kollegen am Telefon erreichen kann. Derselbe Kollege, mit dem ich dann am nächsten Abend bis in die frühen Morgenstunden über Dekonstruktion oder was auch immer diskutieren kann, glaubt oft in dieser ontologischen Weise an Gott und zieht daraus auch weitgehend Konsequenzen. Das bleibt mir wohl für immer fremd – und ist selbst für intellektuell-religiöse Europäer, der ich nicht bin, nicht immer leicht nachzuvollziehen.

Für Amerikaner aber sind auf der europäischen Seite, und das ist für mich die zweite zentrale Unterscheidung unserer Gegenwart, der Wert der Freizeit und die Dichotomie „Freizeit/Arbeit“ in Europa sehr auffällig. Der Neid von Amerikanern auf die vielen Ferien, die Europäer, insbesondere die Deutschen, pro Jahr haben, ist wohl nicht so groß. Sehr viele Amerikaner scheinen stolz darauf zu sein, was sie aus ihrem Beruf machen, meist ganz unabhängig davon, ob sie einen akademischen oder einen proletarischen Beruf ausüben. Es ist existentiell wichtig, „etwas in seinem Beruf zu leisten“ – so wie die „Bildungsferien“ (das Wort lässt sich kaum übersetzen!) in Europa existentiell wichtig geworden sind. Dagegen haben für Amerikaner die Bildung und Ausbildung der Kinder oberste Priorität, mit oft extremen finanziellen Konsequenzen und Belastungen. Das hat wohl damit zu tun, dass sehr viele Amerikaner [teilweise aus protestantisch-religiösen Gründen] ein Leben, das sich im Beruf erfüllt, für das höchste Gut halten.

Mithin eine spezifische protestantische Ethik, die Max Weber 1904 nach seiner Rückkehr aus Amerika beschrieben hat?

Sepp Gumbrecht: Es ist, modern gesehen, sicher eher eine protestantische Ethik als eine katholische, aber sie hat andererseits eine Bedingungslosigkeit, die man eher mit einem archaischen oder stereotypen Katholizismus assoziieren würde. Sagt Gott seinen Gläubigen morgen, dass sie X oder Y tun sollen, würden sie das, auch wenn sie es insgeheim für ethisch verwerflich hielten, ausführen. In jenem Protestantismus, auf den Weber sich bezieht, ist die Ethik gewiss stärker säkularisiert und mithin rationalisiert. Es gibt zwar Gott, doch, so jedenfalls mein Eindruck, die protestantische Ethik käme auch ganz gut ohne ihn aus, denn sie ist ohnehin alltäglich plausibel.

Ein interessantes Beispiel dafür sind die Mormonen, die derzeit reichste religiöse und am schnellsten wachsende religiöse Gruppe der USA [und vielleicht sogar in der Welt]. Ihr Glaube ist in vielerlei Hinsicht nicht mit ihrem sehr erfolgreichen Verhalten im Beruf vermittelbar. Mormonen verbringen Jahre ihres Lebens als Missionare im Ausland, ohne im Hinblick auf ihr eigenes Vermögen produktiv zu sein – da setzt also der Glaube absolute Grenzen für die Säkularisierung des Lebens. Als ich in Salt Lake City vor Jahren ein Seminar über Derrida und die Dekonstruktion hielt, entschuldigten sich nach einer intensiven und hochkompetenten Diskussion plötzlich zwei besonders kompetente und intellektuell engagierte Studenten bei mir, weil sie nach unserer akademischen Kaffeepause in der zentralen Kirche, sozusagen im Petersdom von Salt Lake City, die Nacht über eine Art Vigil halten mussten. Das heißt, der Webersche Mechanismus funktioniert, aber eben trotz dieser fundamentalistischen Komponente in vielen verschiedenen „Konfessions“-spezifischen Varianten.

In diesem Sinn bin ich selbst, wie gesagt, überhaupt nicht amerikanisch geworden. Die amerikanische Art von Religiosität ist mir heute genauso fremd wie am ersten Tag. Aber sie stört mich auch nicht – und niemand verlangt sie mir ab [„ehemalige europäische Intellektuelle sind nun mal so“, scheint man zu denken]. Leuchtendes Vorbild ist da mein Nachbar, Richard Rorty, der selbst bekennender Atheist ist und mit einer praktizierenden Mormonin eine bemerkenswert glückliche Ehe führt.

Siehst du diese Kultur durch die der Latinos aktuell bedroht?

Sepp Gumbrecht: Mein Eindruck ist, dass die Penetration von Kultur und Alltag der früheren Katholiken, Lutheraner, ja vielleicht sogar Agnostiker durch die amerikanischen Formen religiöser Praxis leider [was meine Einschätzung angeht] erfolgreicher ist als die kaum stattfindende Unterwanderung der amerikanischen Fundamentalismen durch katholische oder de facto agnostizistische Latinos.

Das gilt auch und vor allem für Südamerika. In Brasilien ist der barock-exuberante Katholizismus, was ich sehr bedauere, weitgehend von „Sekten“ wie den Zeugen Jehovas und den Mormonen abgelöst. Macumba, diese fantastische afro-christlich-synkretistische Form von Religion, gibt es zwar noch. Aber ich fürchte allein deshalb, weil sie touristisch attraktiv und potentiell lukrativ ist. Im christlichen Amerika hingegen haben die am stärksten fundamentalistischen Versionen der Religion angesichts der heutigen kulturellen Situation die stärkste Durchschlagskraft. Vielleicht muss sich das sehr säkulare Europa, müssen sich Intellektuelle wie ich klar machen, dass wir das Auslaufmodell sind – was einem Versprechen der Aufklärung auf vollkommene Säkularisierung entgegenläuft.

Um auf die Formulierung deiner Frage zurückzukommen: Huntington, der ja noch viel älter ist als ich, ist also wohl entweder zu pessimistisch [die Latinos werden nicht, wie er befürchtet, das Ende der Vereinigten Staaten einläuten] oder zu optimistisch aus unserer Intellektuellen-Perspektive [die Säkularisierung macht nicht die Fortschritte, die er befürchtet], je nachdem, wie man es auslegt.

Im zweiten Teil widmet sich das Gespräch der „Brain up“ Initiative der Bundesregierung. Es geht um den besonderen Charme von Stanford, um die Frage, was Europa oder Deutschland möglicherweise von der amerikanischen Universitätslandschaft lernen könnte oder auch nicht und warum es so schwer ist, diese Kultur nach Europa zu transferieren. Außerdem wird versucht, sich der für Europäer rätselhaften Bedeutung, die der College-Sport in Amerika genießt, zu nähern.

Der dritte Teil wird sich mit dem Faszinosum Sport beschäftigen, das zwar auf beiden Kontinenten ziemlich gleich ausgeprägt ist, in dem sich aber erhebliche mentale und kulturelle Unterschiede zwischen Amerika und Europa zeigen.

Der vierte und letzte Teil befasst sich mit dem latenten Antiamerikanismus, der weltweit grassiert, mit Feindbildern und Schuldzuweisungen hüben und drüben des Atlantiks und dem „Schurkenstaat“-Image, das Amerika derzeit in der Welt einnimmt.