Von Paradigmenwechseln und anderen Schädlingen

Die beliebten, aber unzutreffenden Paradigmen-Thesen Thomas Kuhns erleichtern die Angriffe der Evolutionsgegner auf die Grundpfeiler der Biologie

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Im dritten Teil der TELEPOLIS-Serie zum Thema "Evolution" geht es um die Rolle der Wissenschaftstheorie für die Öffentlichkeit bei der Beantwortung der Frage: Wie funktioniert Wissenschaft? Die wissenschaftstheoretischen Thesen von Karl Popper und Thomas Kuhn wurden zwar beide lange Zeit hindurch vor allem positiv aufgenommen. Inzwischen aber zeigt sich, dass insbesondere Kuhns Paradigma-Thesen in wesentlichen Punkten nicht zutreffen und zudem oft für Angriffe gegen die Wissenschaft missbraucht werden.

Naturwissenschaft, das unbekannte Wesen

Schulbücher und Museen geben vor allem die Endpunkte der wissenschaftlichen Erkenntnissuche wieder. Die Irrungen und Wirrungen, die Fehler und Falschdeutungen werden ausgeblendet. Leider bleibt so eine wesentliche Botschaft auf der Strecke: Irrungen und Wirrungen gehören zum Wesenskern des wissenschaftlichen Prozesses. Genau so wie das immer wieder Infragestellen selbst etablierter Theorien durch die Wissenschaftler selbst.

Besonders erschwerend bei der Vermittlung der wissenschaftlichen Vorgehensweise ist, dass die Anzahl der Naturwissenschaftler, die bereit sind, über ihre zahlreichen Irrtümer und Fehler öffentlich zu berichten, begrenzt sein dürfte. Zu sehr ist man geneigt, alle Fehlannahmen zu vergessen, wenn sich das lange gesuchte Ergebnis eingestellt hat. Zu groß ist die Angst, durch das Eingeständnis gemachter Fehler als inkompetent abgestempelt zu werden. Wobei doch gerade das Überwinden der "Fehler" den Erkenntnisfortschritt darstellt, um den es in der Wissenschaft geht.

So immens ist zudem manchmal der wissenschaftsexterne Erwartungsdruck der Gesellschaft, die von den Geistesgiganten im Elfenbeinturm schnelle Lösungen ihrer brennenden Lebensprobleme erwartet, dass manch ein Turmbewohner schwach wird und zur pflichtgemäßen Erfüllung der Erwartungen anfängt, wissenschaftliche Fälschungen zu produzieren. Das klassische Fälscherbeispiel der Evolutionsforschung ist der Schädel des Piltdown-Menschen, der 1908 als angeblich perfektes Missing Link zwischen Mensch und Affe auftauchte. Manche Evolutionskritiker, so wie Harun Yahya, versuchen immer noch, mit dieser von der Wissenschaft schon lange als Fälschung erkannten Episode gegen die Evolution Stimmung zu machen:

Wahrscheinlich sind es nur die wirklich herausragenden Wissenschaftler, die nicht nur nachträglich ihre eigenen Fehler eingestehen, sondern denen es sogar wichtig ist, dass das Ausprobieren und Fehlerausmerzen publik gemacht wird. So wie George Köhler, der 1984 den Medizin-Nobelpreis zusammen mit Niels Kaj Jeme und César Milstein erhielt. Bei der Darstellung seiner Entdeckungen zur Herstellung monoklonaler Antikörper durch das Deutsche Museum Bonn legte er ausdrücklich Wert darauf, dass die Besucher durch eigenes, spielerisches Ausprobieren an einem Modell zumindest einen Eindruck bekommen können von der tastenden Suche eines Wissenschaftlers.

Nur eine Theorie…

Mangels direkter Vermittler ist die öffentliche Einschätzung, wie Wissenschaft funktioniert, zu einem großen Teil wissenschaftstheoretisch geprägt. Karl Poppers und Thomas Kuhns Arbeiten spielen dabei für die Öffentlichkeit eine herausragende Rolle. Popper hatte festgestellt, dass naturwissenschaftliche Aussagen streng genommen nicht bewiesen werden können. Stimmen beispielsweise in einem Experiment die Messungen mit den Vorhersagen einer bestimmten Theorie überein, so ist man zunächst geneigt, dies als einen "Beweis" der Theorie anzusehen.

Aber es ist durchaus möglich, dass es eine ganz andere Theorie gibt, die im Allgemeinen völlig andere Vorhersagen liefert, nur eben für dieses spezielle Experiment nicht. Beweist das Experiment dann beide Theorien? Und wenn im Prinzip zwei unterschiedliche Theorien denkbar sind, dann natürlich auch drei, vier, … unendlich viele. Diese entmutigende Feststellung entspricht dem, was Wittgenstein über den Zusammenhang von abstrakten Regeln und konkreten Handlungsweisen ausgesagt hatte. Die Aussagen einer Theorie können also nicht einfach mit "der Wahrheit" identifiziert werden.

Der Fall liegt jedoch ganz anders, wenn ein Experiment die Vorhersagen einer Theorie nicht erfüllt. Wurde das Experiment fehlerfrei ausgeführt, so kann es die vorhersagende Theorie (zumindest für die gemachte Vorhersage) falsifizieren – zusammen mit alle weiteren Theorien, die für den Fall dieselben Vorhersagen liefern. Daraus ergeben sich zwei immer wiederkehrende Reflexe von Wissenschaftsskeptikern im Allgemeinen und Gegnern der Evolutionstheorie im Besonderen.

Erstens wird eingewandt, die Evolutionstheorie sei eben nur eine Theorie, also etwas sehr Unbestimmtes, leicht Austauschbares, weit entfernt von der Wahrheit. Dabei wird übersehen, dass der umgangssprachliche Gebrauch des Begriffs "Theorie" völlig anders ist als der wissenschaftliche. Wissenschaftliche Theorien wie die Quantenmechanik oder die Evolutionstheorie repräsentieren das Äußerste, was an wissenschaftlicher Erkenntnis zu haben ist: Sie liefern konkrete, überprüfbare Aussagen. Was für einen Laien eine "Theorie" ist, ist für einen Wissenschaftler jedoch höchstens eine "Hypothese". Natürlich sind Naturwissenschaftler weiterhin der Meinung, der Wahrheit Stück für Stück näher zu kommen; trotz aller philosophischen Skepsis. Aber sie sind eben auch gnadenlose Pragmatiker, stets bereit, eine bewährte Theorie durch eine bessere zu ersetzen – wenn es denn valide Evidenz dafür gibt (dazu gleich mehr).

Zweitens wird die Falsifizierbarkeit einer Theorie viel zu simpel angewendet: Ein einziges gescheitertes Experiment - und schon fällt die zugrunde liegende Theorie in sich zusammen!? So in etwa ist die Vorstellung. Genau deshalb gehen Evolutionsgegner gerne mit langen Listen von Einzelbeispielen hausieren, die die Evolutionstheorie falsifizieren sollen (dass ihre Beispiele meist falsch oder irreführend formuliert sind, wurde im ersten Teil dieser Serie schon besprochen). Wenn man jedoch den Wissenschaftsalltag kennt, dann ist klar, dass Irrtümer und fehlerhafte Experimente die Regel sind, nicht die Ausnahme.

In den Labors der Welt geht wahrscheinlich dermaßen viel schief, dass sich, ausreichende Naivität vorausgesetzt, täglich alle existierenden naturwissenschaftlichen Theorien komplett falsifizieren ließen. Aber Fehler und Irrtümer zu finden und auszumerzen, genau das ist Wesenskern des hoch iterativen, kritischen und streitlustigen wissenschaftlichen Diskurses. Einzelne Experimente oder isolierte theoretische Befunde zählen erst einmal wenig. Die schärfste Waffe der Wissenschaftler ist nämlich überhaupt nicht die in ihrer Bedeutung maßlos überschätzte Falsifizierbarkeit, sondern die unabhängige Reproduzierbarkeit von Befunden.

Von alten Paradigmen und neue Mythen

Thomas S. Kuhn veröffentlichte 1962 seine Abhandlung "Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen". Im Gegensatz zu Poppers Überlegungen entwickelten Kuhns Thesen schnell eine weit über die Wissenschaftstheorie hinausgehende Eigendynamik. Inzwischen ist in allen möglichen Bereichen von "Paradigmenwechseln" die Rede ist. Wer heute irgendwo irgendeine Idee als besonders neu und noch-nie-dagewesen verkaufen will, der jubelt sie einfach in den Rang eines neuen "Paradigmas" hoch.

Kuhn behandelt in seiner Abhandlung vor allem Beispiele aus der Astronomie und der Physik. Dies ist nicht verwunderlich, denn von Hause aus war er theoretischer Physiker. Aber er nimmt für seine Thesen Allgemeingültigkeit in Anspruch.

Bei Kuhn gibt es in der Wissenschaftshistorie zwei, sich zyklisch abwechselnde Phasen. Einmal eine Phase "normalen" Forschens. Diese ist gegeben, wenn es maßgebliche Theorien und Überzeugungen gibt (eben die "Paradigmen"), auf deren Grundlage wissenschaftliche Fragen formuliert und Antworten gegeben werden. Für Kuhn ist das wissenschaftliche Arbeiten in diesem Fall gleich dem Lösen von Rätseln. Wenn Anomalien auftauchen, die sich hartnäckig nicht im Rahmen der herrschenden Paradigmen lösen lassen, gerät die normale Wissenschaft in eine Krise. Diese Krise muss nicht gleich umfassend sein. Es kann im Extremfall passieren, dass nur ein Einzelner der Krise gewahr ist. So war Albert Einstein Anfang des 20. Jahrhunderts der wohl einzige Physiker, der grundsätzliche Schwierigkeiten in Newtons Gravitationsgesetz erkannte und so schließlich die Allgemeine Relativitätstheorie (ART) entwickelte. Irgendwann in einer Krise tauchen neue Paradigmen auf. Diese Zeit formt die zweite Phase, in der "außerordentliche", revolutionäre Wissenschaft betrieben wird. Sind die neuen Paradigmen etabliert, wird in ihrem Rahmen wieder normales Rätselraten betrieben.

Für Kuhn entwickelt sich die Wissenschaft demnach nicht stetig. Ein Auslöser für seine Arbeiten war, dass er mit der linearen Wissenschaftshistorie, wie sie zu seiner Zeit in den Lehrbüchern dargestellt wurde, nicht einverstanden war.

Kuhn definiert nicht im Detail, was ein Paradigma ausmacht. Ein Paradigma ist nicht etwa die Steigerung einer wissenschaftlichen Theorie. Es ist eher die Sammlung aller in einem Gebiet akzeptierten Theorien und sonstiger grundlegender Überzeugungen. Er wendet sich radikal gegen die Vorstellung einer sukzessiven Annäherung wissenschaftlicher Erkenntnisse an Wahrheiten der realen Welt. Die typische Haltung insbesondere von Physikern, die Aussagen einer alten Theorie (Newtons Gravitationsgesetz) aufzufassen als Spezialfall einer neuen, umfassenderen Theorie (ART), lehnt Kuhn kategorisch ab. Neues und altes Paradigma sind für ihn wie aus unterschiedlichen Welten und unvereinbar ("Inkommensurabilität"). Er akzeptiert keine Zwischentöne, nur RICHTIG und FALSCH:

Die Einsteinsche Theorie kann nur in der Erkenntnis akzeptiert werden, dass die Newtonsche falsch war.

Anhänger neuer Paradigmen sind zunächst einmal Außenseiter bezüglich der sich in der Krise befindlichen normalen Wissenschaft. Die (tendenziell eher jungen) Außenseiter setzen sich in einem evolutionären Prozess durch und die (tendenziell eher alten) Anhänger des vorherigen Paradigmas sterben aus.

Kuhns Thesen wurden zunächst weitgehend begeistert aufgenommen, ganz besonders auch von Physikern. Da Normalität im Vergleich zu einer Revolution langweilig ist, bemerkten plötzlich viele Wissenschaftler, wie außerordentlich doch ihre eigenen Forschungen waren. Auch das öffentliche Leben konnte in "normale" und "außergewöhnliche" Phasen eingeteilt werden – gerade in den 1960er Jahren war dies offensichtlich verlockend. Kein Wunder also, dass sich die Paradigmen-Thesen schon bald in den unterschiedlichsten gesellschaftlichen Bereichen außerhalb der Wissenschaftstheorie wieder fanden.

Aufkeimender Widerspruch

Inzwischen regt sich Kritik an Kuhns Thesen. Der Physik-Nobelpreisträger Steven Weinberg ist Kuhns derzeit vielleicht vehementester Kritiker (S. Weinberg on scientific revolutions). Er wendet sich vor allem gegen die Konsequenzen der Inkommensurabilität, denn wenn zwei aufeinander folgende Paradigmen wirklich nicht miteinander vereinbar sind, dann ist grundsätzlich zu fragen, ob es denn so etwas wie wissenschaftlichen Fortschritt gibt:

What does bother me on rereading Structure and some of Kuhn's later writings is his radically sceptical conclusions about what is accomplished in the work of science. And it is just these conclusions that have made Kuhn a hero to the philosophers, historians, sociologists, and cultural critics who question the objective character of scientific knowledge, and who prefer to describe scientific theories as social constructions, not so different from democracy or baseball.

Kuhn verwendet einen großen Teil seiner Ausführungen auf die Begründung der Inkommensurabilität. Er diskutiert jedoch an keinem konkreten Beispiel, wie der Erkenntniswandel von einem alten zu einem neuen Paradigma im Detail stattgefunden hatte. Gerade sein Standardbeispiel, der Übergang von der klassischen Physik zur Quantenphysik und zur Relativitätstheorie, liefert dazu jedoch reichlich Material.

Für Einstein war es beispielsweise bei der Entwicklung der ART sehr wichtig, zeigen zu können, wie sich Newtons Gravitationsgesetz als Spezialfall extrahieren lies. Dies war für ihn ein entscheidendes Indiz dafür, auf dem richtigen Weg zu sein. Schließlich benötigten seine Feldgleichungen eine in der Physik ansonsten nicht gebräuchliche Art von Mathematik, die Einstein selbst große Schwierigkeiten bereitete. Sogar heutzutage erlangen die meisten Physiker ihren Abschluss, ohne je ernsthaft mit der "exotischen" ART in Berührung gekommen zu sein. Kuhn erklärt diesen Schritt der Rückversicherung, der für den die Erkenntnis vorantreibenden Einstein von zentraler Relevanz war, mal eben für Null und Nichtig.

Das ultimative Genie und die dogmatische orthodoxe Wissenschaft

Die Inkommensurabilität hat unweigerlich zwei neue, sich gegenseitig bedingende Geschichtsmythen zur Folge: das ultimative Genie und die dogmatische orthodoxe Wissenschaft. Wenn es keinen stetigen Weg vom alten zum neuen Paradigma gibt, dann werden einzelne Heroen benötigt, ultimative Genies, die diesen Schritt vollziehen können. Für solche Charaktere, die allein gegen gewaltige Mächte bestehen, hatten die Menschen immer schon eine große Schwäche: Prometheus, Spartakus, Jesus, Robin Hood, Mahatma Gandhi, John Wayne, Mathias Bröckers. In der Wissenschaft scheinen Galilei, Einstein und Darwin genau diesem Typus zu entsprechen. Dietrich Schwanitz über Darwin:

Darwin gelang der Durchbruch deshalb, weil er ein wissenschaftlicher Außenseiter war (er hatte Theologie studiert und war Hobby-Biologe)…

Wie im zweiten Teil bereits ausgeführt, war Darwin aber gar kein Theologe aus Neigung. Er musste als naturalistisch Interessierter deshalb Theologie studieren, weil Biologie und Theologie zu seiner Zeit miteinander verwoben waren. Er war also alles andere als ein Außenseiter. Er war definitiv Insider und kein "Hobby-Biologe". Entsprechendes gilt für Einstein. Er war in seinem "Wunderjahr" 1905 zwar an keiner Universität angestellt, aber er war ein exquisiter Kenner der Physik seiner Zeit. Insbesondere kannte er die elektromagnetische Theorie von Hendrik Antoon Lorentz sehr gut. Für gewöhnlich nicht bekannt ist aber, dass Lorentz vor Einstein die Zeitdilatation und die Längenkontraktion definierte. Diese beiden Begrifflichkeiten wurden aber erst berühmt durch die Spezielle Relativitätstheorie! (Einstein war bei der Publikation der SRT schlicht und ergreifend arrogant und unverschämt, als er keinerlei Referenzen zu Lorentz' Arbeiten angab, was in seinem Fall der späteren Mythenbildung zumindest Vorschub leistete.)

Die Vertreter eines alten Paradigmas verteidigen sich gegen das neue, unvereinbare Paradigma. Das alte Paradigma führt so zu einer dogmatischen, orthodoxen Wissenschaft. Kuhn hat das zwar so explizit nicht ausgeführt, aber es ist eine unmittelbare Folge seiner Thesen und ein Bestandteil von Weinbergs Kritik. Der Vorwurf, dass die Wissenschaft neue Erkenntnisse ignoriert oder sogar aktiv zu unterdrücken versucht, ist heute allgegenwärtig und gehört zum Standardrüstzeug von Evolutionsgegnern und obskuren Möchtegern-Wissenschaftlern. So wird die Wissenschaft durch Kuhn potenziell zu einer wissenschaftsfeindlichen Institution degradiert, die sich genau so verhält, wie ihre Todfeindin in der Vergangenheit, die katholische Kirche.

Um sich daher in den Rang eines Galileis zu erheben, gehört es heute als Folge von Kuhns Thesen zur Standardstrategie sowohl von Evolutionsgegnern wie Wolf-Ekkehard Lönning, als auch von selbsternannten Schöpfern neuer "Wissenschaften" wie Heide Göttner-Abendroth, die institutionalisierte Wissenschaft als verkrustet und den eigenen, wahren und richtigen Ideen gegenüber als ignorant darzustellen. Sie selbst sehen sich in der Situation des ultimativen Genies und sie sind sich sicher, dass ihre "revolutionären" Ideen die herrschenden Paradigmen in ihren Grundfesten erschüttern. Abendroth promovierte übrigens laut eigenen Angaben in Philosophie und in - Wissenschaftstheorie.

Mit den beiden Mythen vom ultimativen Genie und der orthodoxen Wissenschaft hat Kuhn somit zwei verführerische Stereotypen geschaffen, die zwar auf den ersten Blick der Wissenschaft schmeichelten und daher begeistert aufgenommen worden waren. Aber inzwischen ist klar, dass beide historisch nicht substantiell sind: Galilei hatte existentielle Probleme mit der Kirche, nicht mit seinen Kollegen. Der Piltdown-Mensch wurde von Wissenschaftlern als Fälschung entlarvt, nicht von Evolutionsgegnern. Die ART des angeblichen physikalischen Außenseiters Albert Einstein wurde von den Physikern begeistert aufgenommen und bestätigt – erst das begründete seinen öffentlichen Ruhm außerhalb der Scientific Community.

Glaube niemandem, der über eigene Erfahrungen spricht - auch keinem Nobelpreisträger

Zum Abschluss ein berühmtes, ausgesprochen lehrreiches Beispiel, das Kuhns Ansichten rundweg zu bestätigen scheint. Kuhn zitiert Max Planck aus dessen Autobiografie von 1928:

Eine neue wissenschaftliche Wahrheit pflegt sich nicht in der Weise durchzusetzen, dass ihre Gegner überzeugt werden und sich als belehrt erklären, sondern vielmehr dadurch, dass die Gegner allmählich aussterben und dass die heranwachsende Generation von vornherein mit der Wahrheit vertraut gemach ist.

Diese Aussage hat sich inzwischen verselbstständigt und ist in verschiedenster Form immer wieder anzutreffen. Ihre gnadenloseste Inkarnation ist die Überzeugung, ab einem gewissen Alter seien Menschen einfach nicht mehr lernfähig. Dies hat ganz konkrete, negative, berufliche Auswirkungen, manchmal schon für Menschen eines Alters ab 35 Jahren.

Aber das wirklich Bemerkenswerte an Plancks Aussage ist nicht ihre schleichende, jugendkultige Profanisierung, sondern die Existenz eines fulminanten Gegenbeispiels: Max Planck selbst. "Gänzlich wider eigenen Willen führte ihn die Konsequenz seines Denkens … zur geistigen Revolution", schreibt Armin Hermann in seiner Planck-Monografie. Planck war ursprünglich ein jahrzehntelanger, überzeugter Verfechter einer klassischen, kontinuierlichen Physik. Sein die kontinuierliche Physik erschütterndes Quanten-Strahlungsgesetz publizierte er erst nach inneren Qualen im fortgeschrittenen Alter von 42 Jahren.

Das Beispiel zeigt, wie Äußerungen über das eigene Arbeitsgebiet selbst von Nobelpreisträgern mit äußerster Vorsicht zu genießen sind. Aber eines wird noch deutlicher: Kuhns Paradigma der inkommensurablen Paradigmen hat ausgedient.

Der vierte und abschließende Teil der Evolutions-Serie bei TELEPOLIS beschäftigt sich mit dem Minenfeld zwischen Wissenschaft und Religion "Gefährlicher Schmusekurs. Wie Wissenschaftler auf die Religion zugehen."

Literatur