Lizenz zum Töten

Die Lehren eines Imam in Hamburg im Jahr 2000

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Für einen Preis auf der Berlinale reichte es zwar nicht, aber das war eigentlich schon abzusehen. Ein Film mit nur einem Schauspieler, der noch dazu über zwei Stunden lang nicht vom Platz weicht und bis auf ein paar zurückhaltende Blicke in die Kamera stets vom Blatt liest – ein derartiger Film erfordert Geduld, Aufmerksamkeit und ausgesprochenes Interesse am Thema. Dass dieses Interesse allerdings existiert, davon zeugte der bis auf den letzten Platz besetzte große Premierensaal.

Während im Irak noch immer zwei Deutsche entführt sind, und auf internationaler Ebene Großdemonstrationen stattfinden und sogar Botschaften brennen, nur weil ein paar dänische Strichmännchen mit Bart gezeichnet wurden, haben sich die Nebelbänke um die Hintergründe des 11. September noch immer nicht gehoben. Die Anhänger der Verschwörungsfakten bekamen nicht zuletzt Anfang dieses Monats neuen Aufwind, als das Hanseatische Oberlandgericht (OLG) den Angeklagten Abdelghani Mzoudi aus Mangel an Beweisen freigesprochen hat. Das Gericht sah keine eindeutigen Belege dafür, dass der 31-jährige Marokkaner sich der Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung oder der Beihilfe zum Mord in rund 3.000 Fällen schuldig gemacht habe. Der Vorsitzende Richter Klaus Rühle beklagte sich allerdings darüber, dass ihm von US-Seite nicht ausreichend Beweismaterial zur Verfügung gestellt worden sei.

Vielleicht gibt es dieses Beweismaterial ja gar nicht. Nicht immer lassen sich stringente Ursache/Wirkungs-Beziehungen belegen – selbst dann nicht, wenn es um den so genannten islamischen Terrorismus geht. Und mit Primärquellen beschäftigen sich in den meisten Fällen nur die Orientalisten und Islamwissenschaftler, und höchst selten auch die Strafverfolgungsbehörden eines Landes. Genau an dieser Stelle setzt die Arbeit des Berliner Filmemachers Romuald Karmakar an.

Ende der 90er Jahre wurde der Marokkaner Mohammed Fazazi Imam der Al-Quds-Moschee in Hamburg. Im Januar 2000, in den letzten Tagen des Fastenmonats Ramadan, hielt Fazazi im Gebetsraum der Moschee mehrere so genannte Lektionen, bei denen die Anwesenden die unterschiedlichsten Fragen zu verschiedenen Aspekten des Lebens stellen konnten, die sie in der Regel schriftlich vorlegen mussten. Diese Sitzungen wurden auf Video aufgenommen und in der Buchhandlung der Moschee und außerhalb vertrieben. Für Romuald Karmakar bildeten diese Aufnahmen das dokumentarische Ausgangsmaterial, aus dem heraus er die „Hamburger Lektionen“ kristallisierte.

Nach den Anschlägen in New York und Washington wurde bekannt, dass drei der vier Selbstmordpiloten, ebenso wie andere Personen, die der „Hamburger Gruppe“ zugerechnet werden, regelmäßig die Al-Quds-Moschee besucht haben und auch in engem Kontakt zu Imam Fazazi standen, der im Oktober 2001 in seine Heimat nach Marokko zurückkehrte. Ob die drei der Attentäter vom 11. September an diesen beiden im Film dokumentierten Terminen im Jahr 2000 tatsächlich zugegen waren, ist nicht bekannt. Fazazi, der den Koran in konservativer Form auslegt, verbüßt inzwischen eine 30jährige Gefängnisstrafe in seiner Heimat Marokko, weil er die Terroranschläge von Casablanca aus inspiriert haben soll.

Dieser Imam vertritt die salafistische Variante des Islam, die sich sehr stark auf den Propheten Mohammed, seine Gefährten und die ersten Generationen der Muslime bezieht. Er versucht, das Leben eines heutigen Muslim in Bezug zu setzen zum Verhalten von Menschen aus dem 7., 8. und 9. Jahrhundert. Dieser Spagat, Dinge der Gegenwart mit etwas aus dieser Zeit in Bezug zu setzen und daraus Verhaltensweisen für die Gegenwart abzuleiten, ist nicht sehr einfach. Und man merkt im Film auch, dass viele Muslime im Gebetsraum damit Probleme hatten.

Romuald Karmakar
Foto: Pantera Film

Im Zuge einer monatelangen und extrem präzisen Übersetzungsarbeit gelang es Karmakar und seinem Team auf der Grundlage des Videos den vollständigen Wortlaut zweier Sitzungen vom Januar 2000 zu rekonstruieren. Die filmische Übermittlung in deutscher Sprache übernimmt dabei der Schauspieler Manfred Zapatka, der bereits am Erfolg des „Himmler-Projekts“ von Karmakar entscheidend beteiligt war, einem ähnlich strukturierten Filmdokument über eine dreieinhalbstündige Geheimrede Heinrich Himmlers.

Ohne jegliche mimische Ablenkung erlaubt es die nüchterne und sachliche Interpretation Zapatkas, die Binnenlogik eines islamistischen Denkers und Predigers kennen zu lernen. Der vorgelesene Text wird zwischendurch immer wieder durch Erläuterungen von Begriffen unterbrochen, die termini technici sind und auch im arabischen Original genannt werden. Bidaa etwa, was Reform heißt und als Abweichung vom Koran und der Sunna grundsätzlich von übel ist.

Aus Zapatkas Mund kommen fremde Worte, die er sich nicht aneignet. Er stellt sie nicht dar, er spricht sie nur aus.

Ekkehard Knörer

Neben fast romantischen Auslegungen über die heiligen Nächte des Fastenmonats Ramadan, über die strengen Bedingungen weiblicher Individualreisen oder Antworten auf die Frage, wer denn überhaupt zur Umma gehört, der (virtuellen) muslimischen Gemeinschaft, behandelt Fazazi auch Themen, bei denen man leicht ins Schaudern kommen kann: Wer ist durch „Schutzvereinbarungen“ oder andere Regelungen abgesichert? Wer steht auf der anderen Seite und ist letztendlich ein „Feind“ und damit „antastbar“? Bilden die Frauen und Kinder der Ungläubigen eine rechtmäßige Beute für die siegreichen islamischen Kriegern?

Die deutlich reduzierte Inszenierung vor statischen Videokameras ist noch immer eine Dramatisierung – und genau darin liegt der Gewinn dieser Rezitation. Es dauert lange, bis in der nachinszenierten religiösen Fragestunde überhaupt der Umgang mit den Ungläubigen zur Sprache kommt. Doch die Einbettung einer Lizenz zum Töten in eine in weiten Teilen nachvollziehbare, ja einfühlsame Seelsorgearbeit, die zu jedem Problem des Alltags einen theologischen Rat parat hat, macht die aufgebotene Verführungskunst erklärlich.

Daniel Kothenschulte

Imam Fazazi grenzt sich auch scharf gegenüber dem von Saudi-Arabien geförderten muslimischen Mainstream ab, wie er z.B. von dem Fernsehsender „Iqra“ repräsentiert wird. Doch er weiß auch, dass er seine Zunge hüten muss. Aus diesem Grund zieht er sich mehrfach auf die bekannte Formel „und Gott weiß es besser“ zurück, um sich nicht auf eindeutige Empfehlungen festlegen zu müssen, die ihm hier in Deutschland sonst vielleicht sogar strafrechtliche Konsequenzen beschert hätten.

Die Hamburger Fazazi-Lektionen handeln vom Unterschied zwischen Gläubigen und Ungläubigen, von Diebstählen, die im Krieg wider den Unglauben erlaubt seien, von den Übeln der Menschenrechte und der Demokratie und davon, wie alle Demokratieteilnehmer zu Kriegsführenden gegen den Islam würden, deren Gut, Ehre und Leben angetastet werden dürften. Denn der Gott der Demokratie sei das Volk, und damit würden der wahre Gott und seine unantastbaren Verhaltensmaßregeln außer Kraft gesetzt. Das stimmt natürlich – aber in dem Moment, wo dieses theologische Argument genutzt wird, um die Freiheit des anderen einzuschränken, öffnet sich das Tor zur Willkür, Repression – und Terrorismus. Karmakars Werk erlaubt es uns nachzuvollziehen, wie die subtile Manipulation von „Gläubigen“ im Islam tatsächlich stattfindet. Vielleicht kann es uns dadurch aber auch gegenüber den Manipulationsversuchen des Westens sensibilisieren.

Hamburger Lektionen. Buch Romuald Karmakar in Zusammenarbeit mit Achmed Khammas, Günther Orth, Maria Legann, F. Franzmathes, Dirk Laabs, Katrin Berg und Ouifaq Benkiran. Lektorat Sten Nadolny.

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