Die Wut der Schiiten

Irak: Nach dem Anschlag auf den Askari-Schrein droht eine unkontrollierbare Kettenreaktion

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Zielgenauer konnte man die ohnehin gespannte Atmosphäre im Irak nicht noch weiter anheizen, als mit dem gestrigen Anschlag auf eines der größten Heiligtümer der Schiiten, den Schrein des Imams Ali al-Hadi. Jetzt liegt die berühmte goldene Kuppel der heiligen Stätte in Trümmern und die Angst geht um, dass die Wut der Schiiten nicht mehr zu zügeln ist. Sie richtet sich nicht nur gegen die Sunniten, aus deren extremistischen Reihen die Bombenleger aller Wahrscheinlichkeit nach kommen, sondern auch gegen die USA.

”Dienstag war ein apokalyptischer Tag im Irak", schrieb der nimmermüde, tägliche Kommentator der Vorgänge im Irak, Juan Cole am gestrigen Morgen. Seiner Aufzählung – Massendemonstrationen in Kerbela gegen die dänischen Karikaturen in einer sehr aufgeladenen Stimmung, der Anschlag auf Schiiten in Bagdad mit 22 Toten - fügte er zuletzt noch die allerneueste Meldung hinzu, „the real desaster“: die Bombe auf den Schrein in Samarra, in dem drei Imame, Nachkommen des Propheten, geehrt werden, darunter der berühmte verschwundene 12.Imam al-Mahdi.

Den meisten westlichen Beobachtern würden die "sehr sehr schlechten atmosphärischen Störungen" wohl entgehen, setzte der Professor mit bedauerndem Ton hinzu. Das kann man nun nicht mehr behaupten. Der Sprengsatz der Attentäter – bis heute morgen gab es noch kein Bekennerschreiben, verdächtigt wird natürlich zuallererst as-Sarkawi, vieles spricht dafür, dass der Anschlag seit längerer Zeit geplant war - hat nun eine schwer kontrollierbare Kettenreaktion in Gang gesetzt, die mit der Eskalation im Zusammenhang mit den dänischen Karikaturen verglichen wird.

Tausende von Schiiten im Süden, im Zentrum des Landes und in Bagdad strömten auf die Straßen, sunnitische Moscheen wurden angegriffen und sunnitische Geistliche kamen ums Leben. Beim Großteil der Aufgebrachten soll es sich um Mitglieder der al-Mahdi-Armee von Muktada as-Sadr, bzw.dessen Anhänger gehandelt haben.

Selbst der sonst so zurückhaltende, mächtige Schiitenführer im Hintergrund, Ali Sistani, rief zu Straßenprotesten auf:

But in a rare move, he also called for public protests. Ayatollah Sistani has typically called for even peaceful protesters to stay off the streets, fearing a downward spiral into violence.
Ayatollah Sistani "has the coolest and wisest head in Iraq, but this has chaos written all over it,'' says Mr. Cole. "He must know the likelihood of these protests being completely peaceful is low, so he's got to be absolutely furious to call for people to come out on the streets."

Der Logik der irakischen Verhältnisse folgend dauerte es auch nicht lange, bis sich die Wut nicht nur gegen die Sunniten richtete, sondern sich auf die Besatzungsmacht ausdehnte. Dies zu einem Zeitpunkt, an dem der Einfluss der USA auf den politischen Prozess im Lande ausgelotet wird. Die USA bemühten sich in den Tagen vor dem Anschlag vehement darum, ihre Interessen klarzumachen und durchzusetzen. Der versierte Zalmay Khalilzad, US-Botschafter im Irak, bemühte sich in der letzten Woche nach Kräften, um auf die Regierungsbildung im Irak einzuwirken.

Khalilzad drängte auf größeres Tempo und mehr „nationale Einheit“ in der neuen Regierung. Für sektiererische Interessen wolle man die amerikanischen Dollars nicht opfern, hieß es. Mehr politische Einbindung der Sunniten wurde gefordert.

Im Zentrum der Konflikte um die Regierungsbildung stand in den Tagen vor dem Anschlag die Besetzung des irakischen Innenministeriums und des Verteidigungsministeriums. Den Wahlgewinnern der letzten und der vorgängigen Wahlen, der schiitischen Allianz, wird vorgeworfen, dass das Innenministerium engste Verbindungen zu den Badr-Brigaden hat, die Rachakte gegen Sunniten, die als Altbaathisten verdächtigt werden, ausführen und damit die Spannungen zwischen den Sunniten und Schiiten weiter schüren. Darüber hinaus fürchten die Amerikaner den Einfluss Irans auf SCIRI und die Badr-Brigaden. Aus dem Chaos dieser Tage wird die iranische Führung wohl leichter politisches Kapital schlagen können als die USA (zumal Ahmadinedschad seine besondere Beziehung zum verschwundenen 12.Imam gerne herausstellt).

Schwierig wird die politische Situation der Amerikaner im Irak auch durch das Hochkommen von Muktada as-Sadr, dem alten Widersacher der USA, der sich vom militanten Kämpfer zu einer einflussreichen politischen Größe entwickelt hat. Muktada as-Sadr hat sich von Anfang an, mit allen Mitteln gegen die Besatzung der Amerikaner ausgesprochen. Man darf gespannt sein, wie stark Muktada, jetzt ein politisches Schwergewicht, dessen Popularität aller Wahrscheinlichkeit nach auch von den momentanen Ausschreitungen profitieren wird (as-Sadr ist ein ausdrücklicher Verehrer des al-Mahdi), die Haltung der irakischen Regierung gegenüber den USA beeinflussen kann.

Die USA hätten gerne Ijad Allawi als Gegengewicht in der Regierung. Auf dieses Entgegenkommen war Khalilzad bei seinem Gespräch mit dem mächtigen Schiitenführer Sistani unter anderem aus, bekommen hat er es nicht.