Clevere Werkstoffe kitten sich selbst

Pflanzen zeigen Ingenieuren, wie Materialschäden ohne menschliches Zutun repariert werden können

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Für luftgefüllte Membrankonstruktionen sind Verletzungen problematisch, weil der Luft- und Druckverlust zu Instabilität führen kann. Abhilfe verspricht eine neue Polyurethanschaum-Beschichtung, die Bionik-Wissenschaftler nach dem Vorbild von pflanzlichen Selbstreparaturmechanismen entwickelt haben. Der Schaum soll pneumatische Leichtbautragwerke schützen. Wird die Membran verletzt, quillt die Beschichtung einfach in den Riss und dichtet ihn ab.

Es gibt eine Szene in der Abenteuer-Serie MacGyver, in der der Fluchtballon des Helden mehrfach durchlöchert wird. Der Ballon verliert rapide an Luft und der pfiffige Abenteurer kann eine erzwungene Landung nur verhindern, indem er auf den Korbrand steigt und die Löcher ganz profan mit Klebeband verschließt. Viel eleganter wären natürlich Materialien, die ihre Verletzungen selber abdichten können und keine menschliche Reparatur mehr nötig machen. Im Fachjargon heißen solche anpassungsfähigen Werkstoffe „smart materials“.

Die Natur liefert Anregungen für technische Lösungen

„Neue Impulse für selbstreparierende Materialien, die auch größere Schäden abdichten könnten, kommen aus der Natur“, weiß Prof. Thomas Speck von der Universität Freiburg. Er erforscht mit seiner Arbeitsgruppe, wie Lianen der Gattung Pfeifenwindengewächse (Aristolochia) Verletzungen abdichten.

Wundheilung bei der Liane Aristolochia macrophylla: In einen Riss im blau angefärbten Festigungsgewebe (Sklerenchym) quillt eine benachbarte Grundgewebezelle (Parenchym) (Bild: Plant Biomechanics Group Freiburg)

Die Funktionsprinzipien des biologischen Vorbildes haben die Bionik-Wissenschaftler auf eine selbstreparierende Schaumschutzschicht für luftgefüllte Membranen übertragen. Bionik ist eine interdisziplinäre Wissenschaft und lässt sich kurz als Lernen von der Natur für die Entwicklung neuer Produkte und Technologien erklären.

Wie reparieren sich Lianen?

Wenn Lianen wachsen, reißen dabei häufig die im äußeren Stammbereich liegenden Schichten des Festigungsgewebes (Sklerenchym) ein. Umgehend wird ein pflanzlicher Reparaturmechanismus eingeleitet. In Minutenschnelle quellen Zellen des benachbarten Grundgewebes (Parenchym) in den Riss und verschließen ihn.

Der breite Riss im blau angefärbten Festigungsgewebe ist durch ein zweireihiges Band aus unregelmäßig geformten Grundgewebezellen ausgefüllt (Bild: Plant Biomechanics Group Freiburg)

Dann beginnen sich die Grundgewebezellen zu teilen und dichten die Verletzung völlig ab. Die Freiburger Forscher orientieren sich an der ersten Phase der Selbstreparatur, in der sich die unter Druck stehenden Zellen offenbar durch physikalisch-chemische Prozesse verformen und in die Risse quellen.

Schlauer Schaum

Nach diesem Vorbild entwickelten die Forscher einen Polyurethanschaum, in dem Überdruck herrscht, und beschichteten Membranen mit ihm. Wurde die Membran verletzt, quoll der Schaum in den Riss und verschloss ihn. Getestet haben die Wissenschaftler die Reparaturfähigkeit des Schaums, indem sie die beschichteten und unbeschichteten Membranen mit Nägeln durchstießen, deren Durchmesser immerhin fünf Millimeter betrug. Durch diese Löcher entwich die Luft bei beschichteten Membranen bis zu tausendmal langsamer als bei unbeschichteten.

Die Zellwände der reparierenden Grundgewebezellen an der Rissaußenseite sind verdickt und verholzt, wodurch die Stabilität des Festigungsgewebes wieder hergestellt wurde. (Bild: Plant Biomechanics Group Freiburg)

„Damit haben wir einen ausgezeichneten Selbstreparatureffekt erzielt“, freut sich Thomas Speck und ergänzt, „Wir wollen die Schäume aber weiter verbessern. Sie sollen nicht nur größere Löcher von bis zu einem Zentimeter abdichten, sondern dem reparierten Membranbereich auch die ursprünglichen mechanischen Eigenschaften wiedergeben.“ Das Konzept wurde zum Patent angemeldet.

Leichtbau fast nur aus Luft

Die Industrie hat großes Interesse an dem selbstreparierenden Schaum. Die Schweizer Unternehmen Prospective Concepts AG in Zürich und Airlight Ltd. in Biasca wollen die Membranen ihrer Tensairity-Leichtbautragwerke mit ihm beschichten, um die dünnen Hüllen bei Verletzungen zu schützen. Der Name Tensairity ist aus dem englischen Begriffen für Spannung (tension), Luft (air) und Zusammenhalt (integrity) zusammengesetzt.

Membranen wie die dieser Tensairity-Demonstrationsbrücke sollen mit dem Reparaturschaum aus Polyurethan beschichtet werden. Die extrem leichte, acht Meter lange Brücke kann bei einer maximalen Lastkapazität von dreieinhalb Tonnen problemlos das Gewicht eines Golfs tragen (Bild: Prospective Concepts AG)

Die Tragwerke bestehen aus Stäben und Kabeln und werden von einer aufgeblasenen, unter Innendruck stehenden Membran stabilisiert. Die filigran aussehenden Luftbalken haben eine Tragkraft wie herkömmliche Stahlträger, wiegen aber nur ein Zehntel soviel. Solche Konstruktionen lassen sich vielfältig einsetzen, zum Beispiel für Brücken, Überdachungen von großen Hallen, Sportstadien und Plätzen. Denn mit zunehmender Spannweite werden die Vorteile gegenüber herkömmlichen Stahlträgern immer gewichtiger.

Neueste Ergebnisse zu den schlauen Schäumen werden Prof. Speck und Dr. Fritz Fuchs, Chief Operating Officer der Prospective Concepts AG, auf dem Industriekongress Bionik 2006 vorstellen, der vom 1. bis 2. März in Berlin stattfindet.

Weitere Lösungen für schlaue Materialien

Zu den wenigen selbstreparierenden Verbindungen, die es zuvor schon gab, gehört ein vom französischen Reifenhersteller Kleber entwickeltes elastisches Polymer. Das Material wird im Inneren von Autoreifen aufgetragen und umschließt eindringende Nägel oder Schrauben luftdicht. So kommt es gar nicht erst zum Druckverlust. Diese Lösung funktioniert bei kleineren Pannen, wo die Löcher bis zu fünf Millimeter groß sind. Die meisten „Einfahrverletzungen“, wie die Autoindustrie solche Malheurs nennt, verursachen aber sowieso keine größeren Löcher. Im Januar 2006 machte zudem die Europäische Raumfahrtbehörde ESA Untersuchungen bekannt, bei denen sie selbstreparierende faserverstärkte Verbundmaterialien für Raumschiffe entwickelt hatte (Die Zukunft: Selbstheilende Raumfahrzeuge?). Die neuen Materialien basieren auf dem Vorbild der Blutgerinnung beim Menschen.