"Die Nichtverbreitung von Atomwaffen wird unterlaufen"

Das zivile Atomabkommen zwischen Indien und den USA könnte weitreichende Konsequenzen haben

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Mit der Zusage einer engen atomaren Zusammenarbeit hat US-Präsident George W. Bush bei seinem ersten Indien-Besuch die Politik der Annäherung zu Neu Delhi fortgeführt und Indien mit der strategischen Partnerschaft faktisch als Atommacht anerkannt. „Unsere Beziehungen ändern sich grundlegend“, sagte Bush am Donnerstag nach einem Gespräch mit Regierungschef Manmohan Singh in der indischen Hauptstadt. Singh sprach nach den Gesprächen mit seinem US-Amtskollegen von einem „historischen Tag“. Mehr als drei Jahrzehnte nach Indiens erstem Atomwaffentest will Bush den US-Boykott des zivilen indischen Atomprogramms aufgeben. Im Gegenzug soll Neu Delhi künftig Kontrollen einiger Atomanlagen durch die Internationale Atomenergiebehörde (IAEA) ermöglichen.

US-Präsident Bush sieht etwas gelangweilt bei der Rede des indischen Regierungschefs Manmohan Singh anlässlich eines Empfangs am Donnerstag aus. Bild: Indische Regierung

International wurde das Abkommen seit den ersten entsprechenden Gesprächen Mitte vergangenen Jahres scharf kritisiert. Nicht nur China forderte, die Abkommen zur Nichtverbreitung von Atomwaffen einzuhalten. Auch in den USA und in Indien sprechen sich Abrüstungsexperten gegen den Deal aus. Sie befürchten, dass das internationale Atomwaffen-Kontrollregime weiter unterlaufen wird. Telepolis sprach mit M. V. Ramana, der am Zentrum für interdisziplinäre Umwelt- und Entwicklungsstudien (CISED) in Bangalore arbeitet.

Teheran steht wegen seines Atomprogramms zunehmend unter Druck, vor allem aus den USA. Zugleich hat sich US-Präsident Bush am zweiten Tag seines Indien-Besuches offen für ein atomares Kooperationsabkommen zwischen Washington und NeuDelhi ausgesprochen. Wie sind diese Haltungen miteinander vereinbar?

M. V. Ramana: Überhaupt nicht. Die USA haben sich bei der Bewertung der Nuklearpolitik ausländischer Staaten offensichtlich von dem Prinzip der Universalität verabschiedet, das bislang den Bestrebungen zur Nichtverbreitung von Atomwaffen zugrunde lag. Stattdessen steht für Washington im Vordergrund, ob es sich bei dem betreffenden Staat um Freund oder Feind handelt. Anders als im Fall des Iran gestehen die USA bei guten Beziehungen durchaus Zugang zu nuklearer Technologie zu. Und eben das ist bei Indien der Fall: Die bilateralen Beziehungen haben sich gut entwickelt. Zudem will man Indien von den USA aus als Gegengewicht zu China aufbauen. Deswegen werden Neu Delhi Sonderrechte eingeräumt. Und natürlich wird die Unehrlichkeit dieser Politik gerade jetzt sehr deutlich, zu einer Zeit, in der die US-Regierung den Iran wegen seiner Nuklearpolitik zu isolieren versucht.

Der stellvertretende US-Außenminister Nicholas Burns hat den Deal bei Gesprächen in Neu Delhi vor wenigen Wochen verteidigt, weil Indien „Verantwortungsbewusstsein gezeigt“ habe.

M. V. Ramana: Meiner Meinung nach sollte eine andere Frage im Vordergrund stehen: Wofür sind die Nuklearstaaten - zu denen Indien bekanntlich gehört - verantwortlich? Die USA etwa tragen die historische Verantwortung für die Atombombenabwürfe auf die japanischen Städte Hiroshima und Nagasaki im Jahr 1945. Andere Atomwaffenstaaten sind diesem Beispiel bis jetzt nicht gefolgt. Sie alle haben aber militärische Strategien bereitliegen, die - unter verschiedenen Voraussetzungen - Angriffe auf eine zivile und unschuldige Bevölkerung vorsehen oder zumindest in Kauf nehmen. Das zu erwähnen mag selbstverständlich erscheinen. Es ist aber wichtig zu erwähnen, denn die internationale Debatte hat sich von diesem Problem vollständig entfernt. Heute redet man absurderweise nur noch von der Gefahr durch diejenigen Staaten, die diese Technologie nicht besitzen, aber einer „Achse des Bösen“ oder ähnlich betitelten Gruppen zugeordnet wurden.

M. V. Ramana

Ist Indien also „verantwortungsvoll“ mit nuklearer Technologie umgegangen?

M. V. Ramana: Indien hat nukleare Technologie nicht an andere Staaten weitergegeben. Aber es hat sein Atomprogramm mit dem Missbrauch ziviler Technologie aus Kanada, den USA und Großbritannien begonnen. Der Großteil der technischen Ausrüstung wurde Neu Delhi damals mit der expliziten Auflage überlassen, es nicht militärisch zu nutzen. Diese Klausel wurde offensichtlich gebrochen - und nun werden Regierung und Militär dafür belohnt.

In einem Artikel haben Sie jüngst geschrieben, dass sich vor allem die Hardliner in der indischen Regierung gegen das Abkommen mit den USA wenden, weil sie Nachteile für die militärische Aufrüstung befürchten. Gibt das der US-Regierung nicht recht?

M. V. Ramana: Solche Befürchtungen wurden tatsächlich geäußert. Sie stützten sich aber auf die Annahme, dass alle indischen Atomanlagen Kontrollen unterzogen werden könnten. Tatsächlich sollen vorrangig die zivilen Anlagen kontrolliert werden, um zu verhindern, dass sie militärisch genutzt werden. Nach allem was wir bislang wissen, beinhaltet die Liste der von der indischen Regierung als „zivil“ ausgewiesenen Orte nur einen Bruchteil der tatsächlichen Atomanlagen. Zahlreiche andere Anlagen könnten also ohne größere Probleme dazu missbraucht werden, weiteres waffenfähiges Atommaterial zu erzeugen. Die USA wissen das natürlich, haben aber bislang nichts dergleichen bemängelt.

Wie wird sich das geplante Abkommen zwischen Washington und Neu Delhi auf die Lage in der Region auswirken?

M. V. Ramana: Ein - wenn auch nur angenommener - Ausbau der nuklearen Waffenbestände Indiens wird entsprechende Versuche auch in Pakistan nach sich ziehen, wenn auch mit weitaus geringeren Mitteln. Auch eine Reaktion von China ist nicht ausgeschlossen. Auf internationaler Ebene haben zahlreiche Staaten schon jetzt angekündigt, dass sie sich offenbar nicht weiter an die Beschränkungen des Nichtverbreitungsvertrages halten müssen, wenn Indien solche weitreichende Sonderrechten eingeräumt bekommt, ohne auch nur Mitglied des Abkommens zu sein. Kurzum: Der Deal unterläuft jahrzehntelange Bemühungen, die Verbreitung von Atomwaffen einzuschränken.

Auch deswegen fanden in mehreren indischen Städten gestern und heute Demonstrationen gegen den US-Präsidenten statt. Ist das bezeichnend für die allgemeine Stimmung in der Bevölkerung?

M. V. Ramana: Die öffentliche Meinung in Indien ist gespalten. Ein großer Teil der Bevölkerung sieht die Annäherung an die USA mit unguten Gefühlen. In der Mittel- und Oberschicht aber sind die Befürworter zu finden. Diese Leute sind vergleichsweise wohlhabend, mobil und zählen sich zu den Gewinnern der Globalisierung. Sie erhoffen sich durch die engere Zusammenarbeit mit den USA Vorteile. Die Regierung vertritt mehrheitlich diese zweite Gruppe.

Wie ist die Politik der internationalen Atomenergiebehörde (IAEA) zu bewerten?

M. V. Ramana: Die IAEA ist zu dem Deal mit Indien schlichtweg nicht gefragt worden. Ich denke auch, dass von dieser Organisation zwei sich widersprechende Impulse ausgehen. Auf der einen Seite muss sie sich ihrer Charter gemäß dagegen wenden, wenn ein Staat, der den Nichtverbreitungsvertrag ablehnt, mit Sonderrechten ausgestattet wird. Auf der anderen Seite ist es die Aufgabe der IAEA, die zivile Nutzung von Atomenergie zu befördern. Auf dieser Basis wäre es auch nicht auszuschließen, dass die Organisation den Deal zwischen den USA und Indien unterstützt.