"Tausendmal Mogadischu"

Der Bürgerkrieg im Irak

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Indes sich die amerikanische Regierung und führende Militärs öffentlich unverdrossen in Optimismus - "things are going very, very well" - üben, weiterhin auf "Good News" aus dem Irak setzen und dafür jetzt auch stärker auf Blogger zurückgreifen wollen, lässt ein Analytiker der irakischen Verhältnisse keinen Zweifel daran aufkommen, dass der Bürgerkrieg längst im Gange ist und die Position der Amerikaner immer schwieriger wird.

"Irak ist mitten in einem Bürgerkrieg", so der Stanford-Professor und ehemalige Berater der CPA (Coalition Provisional Authority) im Irak, Larry Diamond, gestern in dem konservativen amerikanischen Magazin The New Republic. Während die amerikanische Regierung anscheinend davon nichts wissen will, fürchtet auch die große Mehrheit der amerikanischen Bevölkerung laut aktuellen Umfrageneinen Ausbruch des Bürgerkriegs im Irak.

Nach Auffassung Diamonds hat der Bürgerkrieg schon nach dem von Bush (voreilig) verkündeten Ende der Hauptkampfhandlungen begonnen. Seit dem Mai 2003 sind zwischen 12.000 und 20.000 Iraker bei gewalttätigen Auseinandersetzungen getötet worden (die Zahlen, auf die Diamond sich stützt, stammen von der Brookings Institution). 350 bis 600 tote Iraker pro Monat - proportional zur amerikanischen Bevölkerung entspräche dies zwei 11-09-Anschlägen im Monat: Zahlen, welche die Realität blutiger "interner Feindseligkeiten" nicht mehr leugnen lassen.

Während der Bürgerkrieg, wie ihn der zeitweilige Berater des amerikanischen Außenministeriums, der UN, USAID und der Weltbank begreift, größtenteils als sunnitischer Widerstand begann, der sich nicht nur gegen Amerikaner richtete, sondern auch gegen irakische "Kollaborateure", Schiiten und Kurden, hat sich dies deutlich geändert. Seit dem Herbst letzten Jahres, seit die schiitische United Iraqi Alliance, die Regierung und vor allem das Innenministerium übernommen hat, häuften sich die Berichte über brutale Tötungsaktionen, Entführungen und Folter, die schiitische Milizen (häufig in offiziellen Uniformen) an Sunniten verüben. Wie die Los Angeles Times vor wenigen Tagen berichtete, scheint sich dadurch auch das Verhältnis der Sunniten gegenüber der US-Besatzer zu ändern.

Milizen, Hitzköpfe und maximale Forderungen

Einige "charakteristische Omen" deuten für Diamond daraufhin, dass sich die Bürgerkriegssituation im Irak noch verschlimmern könnte: Noch immer fehlt es der Bevölkerung am Nötigsten: Strom, Benzin, Arbeit, sauberes Wasser. Der Staat sei unfähig, für diese elementaren Lebensgrundlagen zu sorgen. Zu diesen strukturellen Mängeln kommt verschärfend hinzu, dass der "neue Irak" bislang völlig nicht vermochte, loyale Sicherheitskräfte aufzubauen, die nicht ethnischen oder religiösen Fraktionen verpflichtet sind. Die Sicherheitskräfte entsprechend zu reformieren, würde Jahre dauern, wie ein Bericht der Internation Herald Tribune von gestern feststellt.

Milizen, welche die Kommandozentralen der irakischen Armee und die Polizeikräfte längst unterwandert haben, sind nach Auffassung Diamonds "definierende Aspekte" der Nachkriegsordnung im Irak. Dass es den amerikanischen Besatzern in Zusammenarbeit mit den jeweiligen irakischen Regierungen nie gelungen sei, trotz mancher Versuche, die Milizen zu entwaffnen, eine der größten und bittersten Fehlleistungen.

Jetzt sei es zu spät dafür, die politischen Führer und "Sponsoren" der Milizen würden momentan niemals einer derartigen Forderung zustimmen - der Trend gehe in die andere Richtung: die Milizen würden immer stärker.

Ein anderes düsteres Bürgerkriegsindiz erkennt Diamond darin, dass die Wahlen im Irak mehr und mehr zu einem "Identitäts-Referendum" geworden sind. Die Wähler würden sich solidarisch zu ihrer religiösen Ausrichtung bzw. ethnischen Herkunft verhalten; Parteien, welche diese Orientierungen "transzendieren", hätten keine Chance mehr. Solche Polarisierungen würden durch eine politische Rhetorik von Brandreden weiter ausgebaut. Besonnene Stimmen würden seltener, die "Hitzköpfe" hätten nicht erst seit dem Anschlag auf den heiligen Schrein in Samarra (vgl. Die Wut der Schiiten) Oberwasser. Die politischen Führer liefern den Kontext dafür, wie ihre Anhänger beunruhigende Ereignisse wahrnehmen, mit jedem neuen Anschlag auf ein wichtiges Symbol, mit jeder neuen Nachricht über Gewalttaten (wie etwa die Foltergefängnisse des Innenministeriums, Massengräber) seien die Hotheads noch weniger zu zähmen.

Zumal Maximal-Forderungen, ein weiteres Omen für eine Verschlechterung der Situation im Irak, das politische Klima im Land dominieren. So würden die kurdischen und schiitischen Wünsche nach einem weitgehend unabhängigen Kurdistan im Norden und einem weitgehend unabhängigen "Schiastan" im Süden, die Sunniten ohne Öleinnahmen "in der Wüste sitzen lassen":

If their fears are not allayed, Sunnis could make Iraq bloody and ungovernable for years, if not decades, to come

Ethnische Säuberungen

Auch andere untrügliche Kennzeichen für das Abgleiten in den Bürgerkrieg - Verbrechen gegen Menschenrechte und ethnische Säuberungen - sind seit längerem im Irak zu beobachten. Sichtbar sei das nicht nur an den brutalen Morden, die gegen Menschen aufgrund ihrer religiösen oder ethnischen Zugehörigkeit begangen werden, sehr deutlich abzulesen sei dies an der Veränderung von städtischen Wohnvierteln. Einstmals zusammengesetzt aus einem Mix verscheidener Gruppen würden Stadviertel jetzt mehr und mehr ethnisch gesäubert.

With each new round of warning and killing--including the most recent violence--the population transfers have accelerated. Meanwhile, Islamic /sharia/ courts established by Sadr's militants and other radical Islamists have been punishing secular Shia, Sunnis, and Christians. Many Iraqi Christians and middle-class professionals have left the country altogether.

Zwar sei der Irak schon mittendrin im Bürgerkrieg, doch gebe es noch eine Steigerung: das Ausbrechen von Massengewalttätigkeiten. In diesem Fall könne die US-Armee Diamond zufolge gar nichts mehr ausrichten. Sie würde zwischen den Fronten zerrieben. Diese Befürchtung teilen jetzt namhafte Politiker in den USA: "A Thousand Mogadishus Now" so brchte es Juan Cole gestern auf den Punkt.

Aufhalten wäre nach Diamonds Analyse die Abwärtsspirale nur durch eine breite Machtverteilung, die sich über alle große Gruppierungen und Koalitionen erstreckt, durch den Rückzug der Milizen aus den irakischen Sicherheitskräften, die Revision der derzeitigen Verfassung, sowie durch "einen Dialog mit allen möglichen Elementen des verwirrend fragmentierten sunnitischen Widerstands". Dazu sollte die UNO gewonnen werden, in Persona: Lakhdar Brahimi. Brahimi, der das Vertrauen von Sistani genießen soll, hat schon einmal als UN-Sonderbeauftragter versucht, moderierend in die Geschicke des Landes einzugreifen (vgl. dazu Die Lage im Irak spitzt sich vor dem 30. Juni zu).