Die Zukunft des Internet

Weltbürger, noch eine Anstrengung, wenn ihr Internetizens sein wollt!

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In einem Fragment von 1880 hat Nietzsche visionär das Internet vorgestellt: „…In der Zukunft wird es geben: 1. zahllose Anstalten, in welche man sich zeitweilig begiebt, um seine Seele in Cur zu nehmen; hier wird der Zorn bekämpft, dort die Wollust usw.; 2. zahllose Mittel gegen die Langeweile; zu jeder Zeit wird man Vorleser hören können und dergleichen; 3. Feste, in welchen viele einzelne Erfindungen zum Gesammtzweck des Festes vereinigt sind, denn die, welche ein Fest feiern, müssen am Feste mit erfunden haben; 4. es werden sich Einzelne und ganze Gruppen geloben, niemals gerichtliche Hülfe in Anspruch zu nehmen.“

Nietzsches Miniprogramm einer gesunden, festlichen Seele, selbstverständlich ohne juristische Scherereien im pastoralen Konsens, erscheint vielleicht vordergründig als wahlloses Glückseligkeitsprogramm, doch der sonst so bellizistisch auf Macht schwörende Philosoph hoffte auf die emotionale Stabilisierung des Individuums, eine kollektive Wellness- und Smartwelt, die alle erdenklichen Mittel auf die Erhebung der Seele richtet.

Das Internet wurde, ungeachtet seiner militärischen Herkunft, zu einem solchen Projektionsraum, wo diesmal alles besser wird als in jener schäbigen Ausgangswelt, die uns zu oft im Stich gelassen hat. Das Internet versprach im ersten Vorschein seiner unglaublichen medialen Potenzen die technische Einlösung humanitärer Ansprüche, Erlebnisgesellschaft und Konsumparadies zugleich zu sein. Ein Abschied von der Geschichte des Missverstehens, der Konflikte, der Kriege? Der Weg zur Sonne, zur Freiheit – sollte das alles nur eine technisch profane Angelegenheit ausreichender Vernetzung und interkultureller Kompetenz sein?

Die frühe Unabhängigkeitserklärung des Cyberspace und andere ähnliche Blütenträume sind längst schnödem Techno-Realismus, aber eben auch einer aggressiven Claim-Politik neuer virtueller Herrscher und Ausbeuter gewichen. Waren die Bewohner noch nicht reif für ihre neue künstliche Insel? Finden Nietzsches festlich gestimmte Wohlfühl-Menschen erst in neuen medialen Konditionen zu sich selbst, die reflektieren, was zunächst vergeblich ersehnt wurde? Allgemein gesprochen: Wie können Medien helfen, eine bessere menschliche Façon wider die Unzulänglichkeiten der äußeren wie inneren Natur zu finden?

Vernetzung des Wissens

Lange vor dem Internet, Nietzsches Vision oder gar seiner ephemer eingesetzten Schreibmaschine sind alle Chefdenker bereits Medienfreaks. Ob einer auf die Kraft seiner Worte vertraut, auf sein Buch gewordenes Gedächtnis für Leser oder wie Walter Benjamin Radioaufklärung für Kinder verheißt, immer geht es darum, Botschaften zu vermitteln und die Vorzüge und Nachteile des jeweiligen Mediums in der Botschaft zu realisieren. Dabei ist es nicht das geringste Problem von Medien, dass Inhalte vergehen und vielleicht sogar, wie Platon meinte, ihre eigentliche Wahrheit verlieren, wenn Worte aufgeschrieben werden oder Wahrnehmungen auf statische Bilder reduziert werden.

Noch wartet der virtuelle Sokrates auf seine Wiederauferstehung. Die Vernetzung des Wissens, die lange vor digitaler Technik projektierten Hyperlinks zwischen den Großentwürfen des Geistes, sind das große Problem der europäischen Aufklärungsgeschichte. Der Geist ist flüchtig und mühselig sind seine Kontextualisierungen, um aus Daten, Wahrnehmungen, Erlebnissen mehr oder minder haltbares Wissen wenigstens für die nächste Ewigkeit und eine bessere Menschheit zu generieren.

„Google mal!“ Das Netz bedient all jene Fragen, die gestern noch vergeblich gestellt wurden und ohne deren Beantwortung die Welt auch nicht schlechter sein könnte. Bereits die Enzyklopädisten gingen von der tendenziellen Vermittelbarkeit des gesamten Menschheitswissens für das zukünftig politisch und kognitiv autonome Subjekt aus. Mit der Encyclopédie war für Denis Diderot und Jean-Baptiste le Rond, mit Kampfnamen d'Alembert, klar, dass ältere Werke der Wissensaneignung obsolet würden. Das Wissen der Zukunft sollte nur noch Ergänzungen dieser einmaligen und endgültigen Wissensakkumulation sein.

Vor Erfindung der „flat-rate“ überschritten allerdings die Kosten der berühmten Enzyklopädie das Budget der meisten Zeitgenossen so erheblich, dass die Frage nach ihrer breitenwirksamen Aufklärungsfunktion sich erst gar nicht stellte. Im Netz werden Enzyklopädien inzwischen zu Ramschware, weil diese Art generellen Wissens ihren Wert einbüßt. Wikipedia wird morgen schon die große Enzyklopädie als armseliges Notizbüchlein erscheinen lassen.

Doch die „Informationsgesellschaft“ mit ihren fetten Datenspeichern ist ein bleiches Paradigma für die mediale Totaldurchdringung der Weltgesellschaft, deren Vorschein wir eben erst erleben. Das Informationsparadigma ist längst nicht die letzte Offenbarung des Netzes in seiner kurzen Geschichte von wilden Spekulationen, Cyberhypes und seiner Veralltäglichung in unserer Konsumentenbiografie. Vor allem aber garantiert unsere informative Aufrüstung nicht die gelungene Welterschließung, wenn die Kontexte des Verstehens wie Missverstehens immer komplexer werden und Komplexitätsreduktion für das Individuum eine theoretische Option bleibt. Mit anderen Worten, paradox formuliert: Je mehr wir wissen können, desto weniger wissen wir.

Der große Kommunikator

Viel weiterreichend, als es die Begrifflichkeit der Informationsgesellschaft suggeriert, repräsentiert das Internet die politisch und sozial eminent herausragende Idee der globalen Verständigung zwischen Menschen, die sich mit zahlreichen Hoffnungen einer besseren Existenz verbindet.

Bertolt Brechts Forderung seiner „Radiotheorie“ nach einem egalitär gepolten Distributionsapparat, der das Senden wie das Empfangen in gleicher Weise für alle Teilnehmer eröffnet, hat sich erfüllt, ja wird bis zum Überdruss in E-Mails, Blogs, Netzcommunities und Usegroups realisiert. Inzwischen werden „Bild-Ton-Gesamtkunstwerke“ von jedem, erwünscht und unerwünscht, unter das virtuelle Volk gebracht, in der Hoffnung auf ein bisschen Aufmerksamkeit und Erhörung. Blogs machen die Netzeingeborenen zu Schöpfern eines privat-öffentlichen Raums, der eindringlich markiert, dass Öffentlichkeit und Privatheit keine gültigen Differenzierungen gesellschaftlicher Verhältnisse mehr darstellen.

Dieter Kunzelmanns Spruch "Was geht mich der Vietnamkrieg an, solange ich Orgasmusschwierigkeiten habe", der in Wahrheit übrigens von Rainer Langhans stammt, war zuvor für den politisch selbstgefälligen Diskurs der Weltverbesserer eine fundamentale Irritation. Die zuwuchernde Blogosphäre protokolliert nun, was zuvor in privaten Tagebüchern, flüchtigen Gesprächen oder Erinnerungen kaum je eine Chance hatte, mit einem dauerhaften Kommunikationsanspruch aufzutreten und schon gar nicht mit dem Anspruch, das Besondere im Allgemeinen so zu vermitteln, dass es nicht vom jeweiligen Weltgeist wieder „platt gewalzt“ wurde.

Dieser unabsehbare Strukturwandel der Öffentlichkeit, der Einbruch des Privaten in die öffentlichen Stimmungen und das bunteste Meinungspatchwork, ist das zentrale, immer noch völlig unterschätzte Strukturmoment des Internet.

Die Politisierung des Netzes

Brechts Forderung nach einem kollektiven Sender-Empfänger-Apparat war ein revolutionär provokanter Anspruch, der der herrschenden Klasse schon klar machen sollte, wo der Wind der Geschichte sie letztlich hinfegen würde. Die kollektiv angeeignete Kommunikationsweise schien die medientechnische Antwort auf die wahre politische Partizipation zu sein, die in Massendemokratien nicht funktionieren sollte, weil der Volkeswille von oben nach unten dekretiert wurde. Sind wir heute - etwa in Bushs militärisch aufgeladenem Demokratieverständnis - wirklich weiter?

Die Vernetzungsherrlichkeit spricht medientechnisch für Demokratie und herrschaftsfreien Diskurs. Dass sich Netzbewohner zukünftig im aufrechten Gang mit den Medien ihre höchst eigensinnige Lebenswelt und Eigenzeit erkämpfen, gilt als cyberethische Losung wider die Geschwindigkeitsspiralen und Wahrnehmungszumutungen der digitalen Kultur wie Unkultur. Bereits das Paradigma Paul Virilios vom „rasenden Stillstand“ flüsterte eine Moral ein, die schließlich stark genug ist, die mediale Selbstläufigkeit zu durchbrechen. So erzählt uns McKenzie Wark in „The Hacker Manifesto“ eine alte moralische Geschichte von Eigentümern und Rebellen, diesmal aufgeführt auf den neuen virtuellen Bühnen, die aus PC, Code und Internet gebildet sind. Mit dem Aufkommen der virtuellen Paralleluniversen haben alte Freiheitsgeschichten wieder Konjunktur. Michael Hardt und Antonio Negri präsentieren die neue virtuelle „Multitude“, die nomadisierend den perfiden Kapitalinteressen des „Empire“ zuwiderhandelt und unter dem digitalen Pflaster den Strand sucht.

Die Rollen sind bei McKenzie Wark so schnell und übersichtlich verteilt wie bei Hardt/Negri: Auf der einen Seite repräsentiert sich die imperiale Macht der „Vektoralistenklasse“, jener, die wir zuvor Kapitalisten, Neoliberale oder Bourgeoisie nannten, auf der anderen Seite wächst die gute Macht der Hacker, jener also, die sämtliche Codes umfunktionieren, virtualisieren und dem typischen Verlauf utopischer Erzählungen nach schließlich die Herrschaftsverhältnisse auflösen, um uns in das gelobte Land zu führen.

Inzwischen stehen wir vielleicht staunend, aber längst nicht mehr so euphorisch vor unseren Megamultikanälen, die zwar in jede Richtung weisen, doch den Aufklärungs- und Partizipationsdiskurs eben längst nicht in der Weise einlösen, die Brechts selbstgewissem Medienapriori entspricht. So wurde der Karikaturenstreit zum grotesken Höhepunkt einer aggressiven Streitkultur, die ihr Ende in der vorübergehenden Ermattung der Kombattanten und keineswegs im harmonieverdächtigen Konsens fand. Hässliche Anwärter der bösen alten Macht sind im Netz so allgegenwärtig wie in „real life“. Auch die virtuelle Jagd des Staates, dieses schwerfälligen Leviathans, mit beschleunigter Datenherrschaft auf Netzbewohner hat eben erst begonnen.

Und ohnehin für märchenhafte Ideen schnellster Bereicherung steht das Netz als neue Turboschleuder der Kapitalisten, die schon zuvor gelernt hatten, Geld als virtuelles Medium zu begreifen. Ist das virtuelle Kapital erst im Netz zu seiner riskantesten Form gelangt, die den tradierten Zusammenhang zwischen Produktion, Arbeit und Lohn vollends zerschlägt und damit die immer unglaubwürdigere Basisideologie gerechter Gesellschaften vom wachsenden Heer der Arbeitslosen beerdigen lässt?

Ein Ring sie alle zu knechten, sie alle zu finden, Ins Dunkle zu treiben und ewig zu binden. Im Lande Mordor, wo die Schatten drohn.

Wer hat gegenwärtig den Ring der Macht? Wir stoßen auf Insiderwissen, das sich der Opensource-Mentalität verschließt, und virtuelle Auguren, die sich nicht in die Karten, sprich: den Code, gucken lassen. Warten Cyberdiktatoren darauf, uns zu knechten, vielleicht mit dem einzigen Unterschied zu alten Unterdrückungsmechanismen, dass ihre Datenherrschaft unscheinbarer, lautloser funktioniert? David Brown prophezeite eine „Cyber-Diktatur - Das Ende der Demokratie im Informationszeitalter“ (1997), weil die tradierten politisch-sozialen Strukturen in der neuen Technik vernichtet würden. Das Abendland geht bekanntlich ständig unter, ob nun in dieser oder jener Variante, ohne dass solche „Trends“ so zwangsläufig wären wie die ihnen zu Grunde liegenden apokalyptischen Theoriemodelle. Die Katastrophenerzählungen vom Cyberwar und virtuellen Bürgerkriegen sind jedenfalls bisher Cyberhypes geblieben und verfehlen eine technisch generierte Partizipationsform, die von schlecht definierten Zwischenzuständen lebt, in denen die Antagonismen des Machtspiels so vital bis ungemütlich bleiben, wie es wohl evolutionär wünschbar ist.

Das Internet präsentiert keine politisch geschlossene Gestalt und es gehört tendenziell zu den prognostischen Kristallkugel-Mythen, ob es nun aufgrund seiner medientechnischer Voraussetzungen zu dieser oder jener Richtung klassischer Herrschaftsformen neigt. Die bei Kulturpessimisten beliebten Orwell-Szenarien als Fortsetzung klassischer Herrschaft mit besseren Mitteln, in denen wir hoffnungslos in eine heimtückische Matrix von RFID-Transpondern eingebettet sind, sind keine zwangsläufige Form der Vernetzung. So hat die informationsgefräßige Totalüberwachung etwa kaum Einsichten in den internationalen Terrorismus geboten, um zahlreiche Katastrophen zu verhindern.

Die disparate Struktur des Netzes liefert weder Medienkritikern noch -gläubigen letzte Gründe, dieses Supermedium mit einer medienethischen Generalformel zu erfassen. Dass sich etwa eine konsensorientierte Netiquette aller virtuellen Weltbürger herausbilden würde, die den hohen Standards formaler oder gar materialer Ethiken besser entspricht, glaubt inzwischen keiner mehr, der die rüden staatlichen wie privaten Machtgelüste im Netz beobachtet. Nur ist der Datenkrieg aller gegen alle längst kein virtueller Bürgerkrieg.

Wir tauchen eher in eine digitale Urbanität ein, eben eine wilde Telepolis, mit Cybercrimes und Cybercops, mit Abzockern und Betrügern, die mit virtuellen Tricks reale Verbrechen begehen. Macht und Ohnmacht, Konflikt und Verständigung liegen im Netz dicht beieinander, so wie eben jene sprudelnden Wohlstandsquellen, denen einer in wenigen Wochen einen wilden Goldrausch auf seiner „Million-Dollar-Homepage“ verdankt und anderenorts zu gierige Dinosaurier des Kapitalismus plötzlich im virtuellen Meteoritenhagel verschwinden.

Virtuelle Globalisierung

„Globalisierung“ im Zeichen des rasanten Informations- und Kapitaltransfers heißt die neue Landnahme dieser Tage. Zugleich ist es aber auch die Vokabel kategorialer Hilflosigkeit, weil hier alles in einen Begriff verräumt wird, was früher von der Ideologiekritik seziert worden wäre. Was heißt schon global?

Die globale Welt versammelt sich nicht auf der dörflichen Agora, um gemeinschaftlich friedlich über Wohl und Wehe der Welt zu entscheiden. Marshall McLuhans Offenbarungsreligion einer dörflichen Gemeinschaft wurde durch ewig sprungbereite Internetizens, unzählige Hyperlinks und Netzcommunities nicht wahr. Es entstehen Clans, Subkulturen, Unteröffentlichkeiten, virtuelle Szenen, die sich längst nicht als Weltbürger mit hoher Verantwortung im Global Village zusammenschließen, sondern eben ihre Datenströme unbehelligt austauschen wollen. Das Netz hat sich nicht dörflich und schon gar nicht moralisch gefestigt, weil Menschen nur durch einen click entfernt voneinander leben und flüchtige Notiz nehmen, sondern neue Gräben gerissen, die virtuelle Profiteure und Habenichtse kennt.

"Die Stadt New York ist insgesamt stärker im Internet vertreten als Afrika insgesamt", erklärte jüngst der Trierer Bischof Reinhard Marx. Der gute Hirte warnt von einer medialen Kolonisierung, die Selbstständigkeit, Eigenverantwortlichkeit und kulturelle Vielfalt gefährde. Dabei ist es nicht die geringste Ironie, dass der Repräsentant einer zuvor mächtigen, mit allen medialen Finessen operierenden Bekehrungsorganisation das Netz als Aufklärungsinstrument vorstellt.

Die frohe Botschaft des Netzes könnte indes schlechte Zeiten für Ideologen aller Art anbrechen lassen. Ist das Netz nicht langfristig eine globale Nivellierungswalze, der man nur ausreichend Zeit geben muss, um ihre segensreiche Missionstätigkeit zu vollenden? Die Zensur in Saudi-Arabien oder China kündet von der alten Angst gegenüber Entideologisierungen, gegenüber der Gleich-Gültigkeit aller Werte, Religionen, Ethiken etc. Gerade die fundamentalistische Wut gegen den ungehemmten Datentransfer, der Krieg gegen frei fluktuierende Meinungen, der voreilig als Kampf der Kulturen hoch gerechnet wird, zeugt von den vitalsten Eigenschaften des Netzes.

Aber zugleich gilt: Was rutscht uns nicht alles den virtuellen Buckel herunter? Wir sind dickfellig und sensibel zugleich, die Spannung zwischen Weltbetroffenheit und Autismus ist unsere mediale Schizo-Konstitution. Was sind schon globale Themen, die „alle“ binden? Selbst der Karikaturen-Streit, der für einen Moment Nationen, Gruppen und Einzelne in funktioneller Komplizenschaft verbindet, bleibt eine Ausnahme. „The digital gap“ ist aber nicht nur die Geschichte eines virtuellen Kolonialismus mit neuen Mitteln gegenüber altem Elend. Robert Gernhardt erklärte zum Karikaturenstreit:

Für mich bestand das größte Ärgernis darin, dass ich diese Karikaturen nicht zu Gesicht bekam.… Jetzt werden wir in einem Zustand der Unmündigkeit gehalten. Ich jedenfalls habe besagte Karikaturen nur einmal schnell bei den Abendnachrichten über den Bildschirm flackern sehen.

Armer Robert! Aufklärung ist bekanntlich „der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit“, was im Fall unseres großen Zeichners Gernhardt also mit einem Netzanschluss mit dem ungehinderten Zugang zu allem digitalisierbaren Teufelszeug zu erledigen wäre.

Die Leere der Prognostik

Ich erinnere mich einer alten Geschichte, in der einem Chinesen die Überlegenheit der westlichen Kultur vor Augen geführt wurde. Er fragte: „Was habt ihr?“ Man sagte ihm: „Eisenbahnen, Autos, Telefon.“ – „Es tut mir leid, Ihnen sagen zu müssen“, erwiderte der Chinese höflich, „das haben wir schon wieder vergessen.“

Bertolt Brecht, Radiotheorie

Alte Medien sind vornehmlich Stoff für Medienarchäologen, die dankbar sind, dass jene Fossilien nicht mehr weglaufen können, wenn sich eine hinterher eilende Medientheorie ihnen widmet. Was verheißt unter medientechnischen Auspizien gegenwärtig „Internet der Zukunft“? „Internetfernsehen“ mit Hunderten von Kanälen in Mega-HDTV-Auflösung oder wie es eine Werbung verkündet: „Eine Nummer für alles - Telefon, Telefax, Internet“? Diese Techno-Zukunft des allseits vernetzten Menschen aus dem Werbeprospekt verspricht nicht viel aufregender zu werden als das, was wir längst erleben - respektive erdulden.

„Crossmedialität“ ist auch eine solche kurzschlüssige Zauberformel der Vermarkter, die vom Ineinander der Medien und ihrer Herrschaftsformen kündet, ohne darin irgendwelche Qualitäten einer reflektierteren Medialität zu entdecken. Vor allem aber wollen wir das Medium unmittelbar, also keineswegs mit sperrigen Apparaten und riskanten Schnittstellen auf die virtuell erzeugte Welt zugreifen, mit ihr kommunizieren und interagieren. Das Verschwinden der Medien ist ihr ehernes Gesetz. Medien wollen nicht bemerkt werden, das Internet verwandelt sich in eine subkutan laufende Apparatur, in der schließlich unsere virtuellen Repräsentanten smart erledigen, was uns von allen belastenden Weltbezügen freistellt. Medien bleiben bis auf weiteres die servil blinzelnden Agenten der Schicksalsentsorgung und des konsumfrohen Sofortverzehrs in der Erlebnistotale.

Wer Medien nur als technische Extrapolationen ihrer Gegenwart begreift, sie lediglich ein bisschen schneller, integrierter und vernetzter buchstabiert, kommt in seinen Prognosen nicht allzu weit. Verschmelzung, Hybridisierung und Medienkannibalismus bergen technische Dynamiken, von denen sich unsere gegenwärtige „Schulweisheit“ noch nicht viel träumen lässt. Was verheißt etwa eine avancierte Biotechnologie im Verbund mit einem expandierenden Internet? Wie kombinieren sich Nanotechnologie und Parallelcomputer zu unvorstellbaren Überbietungen gegenwärtiger Technik? Wir wollen zudem ein Internet zum Riechen, Schmecken, Tasten, das uns die „Society of the screen“ (Lev Manovich) vergessen lässt, um einen wirklich synästhetischen Wahrnehmungshorizont zu erschließen. Und hinter diesem Horizont zahlloser technischer „joint-ventures“ warten andere, namentlich und funktional nicht bekannte Supertechnologien, die auch solche Ansprüche befriedigen werden, die wir heute nicht einmal formulieren können. Denn Medien produzieren die Wünsche und Befriedigungen ihrer Subjekte bekanntlich gleich mit, ohne damit uns Selbstverliebten die Illusion zu rauben, ihre Beherrscher zu sein.

Seit Karl Valentin darf als gesichert gelten, dass auch die Zukunft früher besser war als heute. Der Spruch ist nicht nur komisch, er liquidiert das Zukunftsgesäusel. Seriöse Philosophie hat sich wohl deshalb der Prognostik immer verweigert. Friedrich Nietzsche setzte mehrfach zu einer „Philosophie der Zukunft“ an, um schließlich zu konstatieren, dass man das Wissen um die Zukunft nicht ernsthaft wollen kann:

Ich liebe die Unwissenheit um die Zukunft und will nicht an der Ungeduld und dem Vorwegnehmen verheißener Dinge zu Grunde gehen.

Trendforschung, die diese wachsende Ungeduld stillt, ist eine Farce, wenn sie über mehr als den nächsten Morgen entscheiden will. Schon wähnen viele, nicht in der Gegenwart zu leben, sondern in einem permanenten Transit-Raum der Zukunftsverheißungen, die kurz vor der Erfüllung stehen. Alt-Zukunftsforscher Hermann Kahn hat eine solche Zukunft entwickelt, die ihre längst vergangene Gegenwart, die sechziger Jahre, nicht genial überbot, sondern dem Zeitgeist lediglich ein wenig futuristischen Glanz verlieh. Wer Zukunft sagt, lügt im Zweifel.

Der homo internetiensis und andere virtuelle Spätschäden

Das Internet hat eine gesellschaftliche Gestalt, die sich von allen gesellschaftlichen Strukturen in Real Life so sehr unterscheidet, dass das überkommene Begriffsinstrumentarium so antiquiert erscheint, wie es nach Günther Anders der Mensch in seiner Spätzeit ohnehin ist. Dieses wuchernde Internet ist längst jedoch keine virtuelle Schattenwelt mehr, in der sich jene bewegen, die in der realen Welt nicht klar kommen – wie es voreilige Spötter vermeintlichen Internet-Junkies bescheinigten. Steht uns die eigentliche kopernikanische Wende aber erst noch bevor? Wird die vormals reale Welt zum lästigen Anhängsel eines technisch und sozial avancierten Netzes, in dem die wirklichen Beziehungen zwischen Menschen konstruiert werden?

Gewiss, die Rolle des menschlichen Körpers in dieser „twilight zone“ kündet von einer unsauberen Schnittstelle. Neue Formen der Nutzung weg von der Konsolenbehäbigkeit zur Smart-Begleitung an jedem Ort versprechen uns immerhin eine Informationshaut, die es bald müßig erscheinen lässt danach zu fragen, was biologische und was digitale Gedächtnisspeicher sind.

Identität ist eine Frage der Festlegung und die Lust, sich festzulegen, wird unter virtuellen Prospekten immer schwächer. Der gegenwärtige homo internetiensis, der mit dem durchhängenden Rücken vor dem Monitor den aufrechten Gang durch Powersurfing ersetzt, dürfte dabei kaum die letzte Antwort auf den müde werdenden homo sapiens sapiens sein. So entstehen in unseren digitalen Bequemlichkeitswelten neue Medientypen mit unbekannten Gesten, die tradierten Erziehungsbildern so gar nicht mehr entsprechen wollen. Trendforscher behaupten von diesem neuen Medien- und Konsumententypus:

Wir beginnen uns von den Massenmedien zu verabschieden und steuern auf ein Zeitalter des digitalen und individualisierten Medienkonsums zu.

Aber das Individuum selbst ist eine alte Kondition, die fallen könnte, wenn wir zu Durchzugsfeldern einer fluktuierenden Information werden. Die multiple Persönlichkeit ist eine nicht therapiefähige Kondition von Netzbewohnern, die so unbotmäßig sind, dass sie schließlich nicht mal auf den Trend warten. Selbst jene Persönlichkeitsmomente, die sich sonst in zahlreichen Tabuzonen ihrer sozialen Artikulation entziehen, sind auf einmal gesellschaftsfähig. Für Kannibalen, die vom virtuellen Kontakt zum realen Festmahl schreiten wollen, bleibt das freilich ein brisantes Kategorienproblem. Nur wenn es virtuell ist, darf „Ich ein Anderer“ sein.

Wirklichkeitsverwirrung herrschte kürzlich auch in Shanghai: Da ersticht einer seinen Gamer-Freund, weil der das mühselig erkämpfte, virtuelle Schwert "Dragon Sabre" aus dem Online-Fantasy-Spektakel "Legend of Mir III" verkauft hat. Medienethisches Versagen auf ganzer Linie, das mit einer lebenslänglichen Freiheitsstrafe bedacht wurde. Die Universität Ilmenau macht nun „digitale Spiele“ zum neuen Schwerpunkt ihres Lehrstuhls "Multimedia-Anwendungen", aber ob das reicht, virtuell-reale Schräglagen des alten Wahrnehmungstiers „Mensch“ wieder zu erden, dürfte mehr als zweifelhaft sein.

In der Theorie unseres emanzipierten Mediengebrauchs besiegen wir böse Medien und ihre tückischen Sachwalter freilich unablässig. Doch ist die eigensinnige Eigenzeit-Beharrung gegenüber dem Netz der Netze mehr als ein Fetisch, der in der unhintergehbaren Beschleunigung ohne echte Magie bleibt? Die Qualität zukünftiger In-Formationen des Menschen beantwortet sich zum wenigsten in der Abkehr von der Technik oder im frommen Wunsch nach ihrer Instrumentalisierung.

Ohne Internet bis du nicht erst morgen ein Nichts. Ludditen sind immer die historischen Verlierer gewesen, so löblich ihre philanthropischen Absichten auch sein mögen. Immersiv sind die aufziehenden Szenarien des Cyberspace nicht lediglich in ihren Raumverführungen, sondern das Bewusstsein selbst muss immersiv werden oder sich aufs Altenteil bescheiden. Die evolutionäre Provokation des Homo cybersapiens ist nicht cyberethisch zu entschärfen, sondern verlangt, sich noch tiefer, unwiderruflicher in die medialen Wirbel hineinzubegeben. Könnte die virtuelle Welt schließlich gegen die reale rebellieren?

Eine Abspaltung der virtuellen von der realen Welt wäre eine neue Form des Supergaus. Was dabei herauskommt, wissen wir nicht. Das Internet und seine zukünftigen Zurüstungen transzendieren darin aber ihr gegenwärtiges Dasein als avanciertes Kommunikationsmedium, um zu einer eigenen Welt, mit eigenen Spielregeln und einem je eigenen Chaos aufzuschließen. Wer diese Verhältnisse erfolgreich meistern will, muss bald schon die „conditio humana“ selbst hacken. Denn die wird weniger von der virtuellen Verheißungen der vermeintlich neuen Hacker-Klasse beflügelt als von transhumanistischen Logiken, denen noch kein menschlicher „Hack“ beigekommen ist.

Zukünftig könnte also nicht mehr die Frage vordringlich sein: Was machen Medien mit uns und was machen wir mit Medien? Sondern die eigentliche Frage lautet dann: Was machen Medien mit Medien? Es ist nicht völlig ausgeschlossen, dass Menschen in dieser Fragestellung ihr bescheidenes Biotop finden – bis auf Widerruf.