Anderssein als Chance

Der Computer- und Gesellschaftskritiker Joseph Weizenbaum über seine Flucht aus dem Nazi-Deutschland in die USA, wodurch er zu einem erfolgreichen Außenseiter wurde

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Joseph Weizenbaum (geb. 1923 in Berlin) lehrte Computerwissenschaft am MIT und ist zu einem der großen Kritiker der Ideologien und Verführungen der digitalen Gesellschaft geworden, nachdem er zunächst Computersysteme und –programme u.a. für das Militär und in den 60er Jahren das Programm Eliza entwickelt hatte. Damit konnte man schriftlich einen Dialog mit einem Computer führen, der Verständnis simulierte. Obgleich das Programm simpel war, schien es die Menschen beeindruckt zu haben, was einer der Gründe war, dass sich Weizenbaum fortan kritisch mit den Problemen der Technik und vor allem des Computereinsatzes beschäftigte und damit vor allem auch in Deutschland Einfluss ausübte. 1976 hat Weizenbaum mit „Computer Power and Human Reason“ (deutsch: „Die Macht der Computer und die Ohnmacht der Vernunft“) sein Hauptwerk veröffentlicht, mit dem er sich zum Gewissen der Informatik machte.

Im Herder-Verlag erscheint nun ein Buch, das aus einem langen und ausführlichen Gespräch über sein Leben, seine Haltung und seine Gedanken besteht, das die Journalistin Gunna Wendt mit ihm geführt hat. Man merkt, Weizenbaum ist ein Erzähler, der anschaulich und intellektuell unverkrampft seine Beobachtungen und Positionen darlegen kann, die oft auch direkt mit persönlichen Erfahrungen und seinem Lebenslauf verbunden, der allein schon die Lektüre lohnen würde.

Aus „Wo sind sie, die Inseln der Vernunft im Cyberstrom? Auswege aus der programmierten Gesellschaft“ veröffentlichen wir einen Auszug, der die Zeit behandelt, in der Weizenbaum, durch die Flucht seiner jüdischen Familie vor den Nazis aus seiner vertrauten Umwelt herausgerissen, seinen Weg in der neuen Heimat der USA findet und damit auch erläutert, warum es ihm möglich wurde, zu einem „Dissidenten“ der Wissenschaftlergemeinschaft zu werden. Gleichzeitig verdeutlichen Weizenbaums Erfahrungen auch die Schwierigkeiten und Chancen, die Flüchtlinge haben, wenn sie in ein anderes Land gelangen, Chancen nicht zuletzt auch für das Land, das bereit ist, sie aufzunehmen.

Joseph Weizenbaum. Foto: Gunna Wendt

1936 ist der 13-jährige Joseph Weizenbaum mit seiner Familie aus Deutschland geflüchtet. Den genauen Grund, warum sich sein Vater, ein Kürschnermeister, dazu – und dies schon relativ früh - entschlossen hat, hat er selbst nie erfahren. Weizenbaum erzählt, dass er seine Eltern gebeten hat, ihm zu erlauben, nach Palästina zu gehen. Das stieß natürlich auf Widerstand bei seinen Eltern, so dass er doch zusammen mit seiner Familie in die USA kam. Seit einigen Jahren wohnt Weizenbaum übrigens wieder in Berlin.

Mathematik ist sprachunabhängig

Wie haben Sie sich in Amerika zurechtgefunden?

Joseph Weizenbaum: Da war also dieser 13-jährige Junge, Joseph, der gezwungen war, alles, was er kannte, sein Wohnviertel, seine Schule und die Menschen, die ihm vertraut waren, seine Freunde und seine Schulkameraden, hinter sich zu lassen. Alles das, seine ganze damalige Welt, verschwand für ihn und wurde durch etwas Neues ersetzt – zum Beispiel durch neue Schulkameraden, deren Sprache er am Anfang nicht verstand und auch nicht sprechen konnte. Denn ich sprach zuerst überhaupt kein Englisch und dann ein schwaches Englisch und später immer mit einem gewissen Akzent. Ja, da ist man eben anders.

Es gab so vieles, was die Kinder in Amerika schon im Kindergarten gelernt hatten und was ich nicht kannte und nicht wusste. Ich war bestimmt mindestes 15, als ich zum Beispiel erfuhr, dass es in Amerika einen Bürgerkrieg zwischen dem Norden und dem Süden gegeben hatte. Für mich war das erstaunlich und ganz neu. Alle anderen Kinder wussten das natürlich. Was und wie viel sie tatsächlich davon wussten, ist eine andere Sache. Jedenfalls entlarvte ich mich durch diese Form des Nichtwissens sofort als Außenseiter. Und ähnliche Situationen gab es immer wieder.

Dazu kommt noch, dass ich damals in der Pubertät war, also ohnehin, wie fast jeder Jugendliche in diesem Alter, etwas verwirrt. Ich hatte damals eigentlich nur zwei Alternativen: Die eine bestand darin, mich so schnell wie möglich an die neue amerikanische Umgebung und an meine Klassenkameraden anzupassen. Also ein richtiger amerikanische Junge zu werden mit Baseball und allem, was dazugehört. Der zweite Weg lag darin, mein selbst empfundenes Anderssein beizubehalten und sogar irgendwie für mich und meine Entwicklung zu nutzen. Das habe ich getan und es hat mir von Anfang an geholfen, auch im Alltag.

Ich war ein Stadtjunge in Berlin gewesen und wurde nun ein Stadtjunge in Detroit, Michigan. Hier gab es auch Antisemitismus, und die Gefahren, die hier lauerten, unterschieden sich nicht so sehr von denen in Berlin. Ich konnte mich nach wie vor sehr gut dagegen behaupten.

Anderssein bedeutet ja nicht nur einen Mangel, nein, es kann auch ein besonderes Talent beinhalten. Ich entdeckte bei mir etwas, das ein Leben lang – ganz offensichtlich bis heute noch – großen Einfluss auf meine Existenz gehabt hat: das Talent für die Mathematik. Mir hatte Mathematik schon in der Schule in Berlin Spaß gemacht und das blieb auch in Detroit so. Mathematik war ja zu einem großen Teil sprachunabhängig. Ich konnte Algebra verstehen, egal, ob auf Deutsch oder auf Englisch darüber gesprochen wurde. Auch in Detroit, von Anfang an. Ich war in Mathematik besser als die meisten meiner Schulkameraden und ich habe mich wirklich dafür interessiert. Dazu kam, das muss ich gestehen, dass ich mich in Detroit gleich in meine Mathematiklehrerin verliebte und das beflügelte meinen Eifer natürlich noch zusätzlich.

Im Gegensatz dazu konnte ich einfach nicht Baseball spielen. Mit Bällen und Ballspielen hatte ich in meiner Kindheit nicht viel im Sinn. Ich wusste nichts mit ihnen anzufangen. Also bewegte ich mich schon, als ich noch ganz jung war, in die intellektuelle Richtung. Ja, ich hatte großen Spaß an der Mathematik, was sehr selten ist für einen Schüler, und damit war ich schon anders als die meisten Klassenkameraden.

Heute sehe ich im Rückblick sehr klar, dass ich das genutzt habe. Es bedeutete die Etablierung meiner Identität für mich selbst. Und ist es lebenslang geblieben. Später wurde ich ein Mitglied des Scientific Establishment, also der naturwissenschaftlichen Elite in Amerika, aber gleichzeitig ein Dissident. Ich war anders und ich bin anders. Das ist kein Zufall. Es war seitdem nicht notwendig, meine Dissidenz neu zu begründen. Die Evidenz, die Begründung und die Unterstützung für diese Dissidenz brauchte ich nicht besonders zu suchen. Sie lag für mich auf der Hand, war offensichtlich.

War es Ihnen von Anfang an bewusst, dass Sie anders waren? Haben Sie unter dieser Erfahrung niemals gelitten?

Joseph Weizenbaum: Ich weiß nicht, wann es mir bewusst wurde und von welchem Zeitpunkt an ich es bewusst eingesetzt habe. Ich würde heute sagen, dass dieses Anderssein, das ich empfand, tatsächlich zum größten Teil unbewusst eine Verteidigungshaltung gegen all die Strömungen und Mächte war, die mich dazu zwingen wollten, genauso wie jeder andere zu sein. Es war ein Kampf dagegen. Denn es gab daneben gleichzeitig einen Teil in mir, der mich in die Richtung drängte, mich einzureihen, um so zu sein wie alle anderen. Alle Kinder, alle Jugendlichen verspüren diesen Wunsch, dazuzugehören, wie die anderen zu sein. Auch ich natürlich. Aber gleichzeitig spürte ich, dass ich nicht so war wie die anderen.

War dieses Außenseitertum vielleicht auch ein Grund für Ihren Erfolg in der Wissenschaft?

Joseph Weizenbaum: Wie gewinnt man überhaupt ,,success“, also Erfolg in der Wissenschaft? Man gewinnt ihn, indem man in einem gewissen Sinn etwas Neues kreiert, entwickelt oder etwas Neues sieht. Man könnte für ,,neu“ genauso gut das Wort ,,anders“ benutzen: indem man etwas anderes sieht.

Ich entdeckte also für mich den Computer. Ich glaube nicht, dass ich klüger war als andere junge Fachleute, aber ich hatte unter anderem einen ,,sense of humour“, so eine Witzigkeit, die mich auch heute noch durchdringt und mich auch nicht verlässt, wenn es zur ernsten Arbeit kommt. So konnte ich den Computer ein bisschen – und das ist das wichtige Wort – ,,anders“ sehen. Etwas Anderes aus ihm herausholen.

Ich habe beispielsweise ein Programm geschrieben – es war das allererste und möglicherweise auch bis jetzt das letzte –, das Leute zum Lachen brachte. Das ist anders. Noch ein Beispiel für mein Anderssein: Es ist vielleicht etwas übertrieben, zu behaupten, dass meine Kollegen am MIT sich seinerzeit über den Vietnamkrieg freuten, aber jedenfalls freuten sie sich, dass das Computerfach an den Universitäten auf einmal sehr viel Geld bekam. Es war damals überhaupt kein Problem, alle möglichen Forschungsprojekte durchzusetzen. Sie wurden vom Pentagon finanziert. Und für mich war klar, dass ich dagegen reagierte und mich fragte: Augenblick mal, was machen wir denn hier eigentlich?

Von Anfang an war ich empört über den Vietnam-Krieg. Amerika hatte kein Recht dazu, dieses Land zu bombardieren. Ich war entsetzt über die Methoden, das sogenannte „secure hamlet program“, das Programm der sicheren Dörfer, mit dem man den Einwohnern bestimmter Dörfer befahl, diese zu verlassen und in andere Dörfer zu gehen, wo sie vor den Vietkongs sicher waren. Ihre Heimatdörfer wurden daraufhin zu „free fire zones“ erklärt, was bedeutete, dass die Kampfflugzeuge auf alles schießen durften, was sich dort bewegte. Es war entsetzlich, denn natürlich wollten viele Vietnamesen ihre Heimatdörfer nicht verlassen.

Für mich war es schrecklich, dass meine Universität so eng mit der Regierung verbunden war. Es war mir klar, dass einige der Waffen, die in Vietnam eingesetzt wurden, in Cambridge entwickelt worden waren, vielleicht sogar von Wissenschaftlern, die ich persönlich kannte. Natürlich fiel mir die Parallele zu den deutschen Wissenschaftlern der Nazizeit ein, die vorher weltweit ein hohes Ansehen genossen hatten und dieses in wenigen Jahren verspielten, indem sie sich, bis auf ganz wenige Ausnahmen, den Nazis andienten.

Für mich war es keine Frage, dass nun ich selbst in meiner Eigenschaft als Universitätsprofessor gefordert war. Nun war ich Professor an einer bedeutenden amerikanischen Universität und es passierten schreckliche Dinge, die ich nicht einfach schweigend geschehen lassen durfte. Es war eine Schande. Also habe ich mich engagiert. Sehen Sie, das ist ganz anders als die Saulus-Paulus-Geschichte! Statt eine abrupte Wendung bedeutet es vielmehr, dass ich der geblieben bin, der ich war.

Überleben erforderte einen Widerstand

Welche Rolle spielte Ihre Emigration bei dieser Haltung?

Joseph Weizenbaum: Es ist ja schwer zu sagen, was aus mir geworden wäre, wenn wir nicht emigriert wären. Wahrscheinlich hätte ich den Krieg nicht überlebt, wäre in den Gaskammern von Auschwitz oder Birkenau oder irgendwo sonst umgekommen wie einige meiner Verwandten. Natürlich hat alles in meinem Leben mit meiner Emigration zu tun. Daraus resultiert auch, dass eine gewisse Skepsis Teil meines Daseins geworden ist. Skepsis gegenüber Behauptungen, Äußerlichkeiten, scheinbaren Gewissheiten, Heilslehren.

Ich hatte einfach schon sehr früh erfahren, dass ich mich selbst nicht weiterentwickeln konnte, ohne mein Anderssein anzunehmen und einzubeziehen. Schon als Kind. Es hat auch mit einer gewissen Verteidigungshaltung zu tun und der Leistung, sich zunächst in der Welt der Eltern, im Elternhaus, dann in der Welt des Bruders und dann in der Neuen Welt, in der ich niemanden kannte, zu behaupten. Den eigenen Platz zu suchen und zu finden. Die Orientierungsmöglichkeiten waren nicht sehr vielfältig und vor allem nicht selbstverständlich. Das, was einmal ein Halt gewesen war, verschwand ganz plötzlich. Überleben erforderte einen gewissen Widerstand.

Ich erkannte, ich bin anders und die Welt ist nicht so, wie behauptet wird, nicht einmal so, wie sie aussieht. Ich habe mir angewöhnt, die Dinge genau anzuschauen, auch die scheinbar selbstverständlichen in meiner unmittelbaren Umgebung. Das unterscheidet mich von vielen Menschen.

Wie war es für Sie, als Sie nach vielen Jahren das erste Mal wieder nach Europa kamen?

Joseph Weizenbaum: Ich glaube, es war Ende der fünfziger Jahre, als ich zum allerersten Mal wieder nach Deutschland kam, nachdem ich es 1936 verlassen hatte. Da liegt eine ganze Menge von Jahren und Erfahrungen dazwischen, der Krieg ganz besonders und dann natürlich die Universität. Folglich war ich bestimmt nicht mehr derselbe Mensch wie der, der 1936 Deutschland verlassen hatte. Es ist schwer zu erklären und besonders schwer, das in wenigen Sätzen zu tun.

Eins ist merkwürdig und ich glaube, auch andere Emigranten, die irgendwann zurückkamen, haben darüber gesprochen: Es ist das Erlebnis, die deutsche Sprache wieder ganz ,,routine“ gesprochen zu hören. Also das Erlebnis, dass die Menschen ringsherum alle ganz selbstverständlich Deutsch sprechen. Wir, meine Familie, wir haben, als wir nach Amerika kamen, die deutsche Sprache sozusagen aufgegeben. Wir haben sie nicht mehr gesprochen. Ich habe sehr wenig Deutsch gelesen in diesen Jahren. Ich hatte sehr viel vergessen. Aber es ist doch etwas Besonderes mit der Muttersprache! Es ist so, wie eine Melodie zu hören aus einer Zeit, die schon lange vergangen ist. Da schwingt etwas mit. In einem gewissen Sinne ist es erfreulich, andererseits ist es erschütternd. Man erkennt, glaube ich, Teile von sich selbst wieder, die man lange nicht gesehen hat und an die man lange nicht gedacht hat.

Haben sie mitgemacht?

Und wie standen Sie zu den Menschen in Deutschland?

Joseph Weizenbaum: Viele, vielleicht die meisten Menschen, die ich anfangs in Deutschland getroffen habe, waren gerade in dem Alter, wo man sicher sein konnte, dass sie die Nazizeit bewusst erlebt haben. Das heißt, sie sind damals keine Kinder mehr gewesen. Und da kamen bei mir immer die Fragen, manchmal mehr, manchmal weniger deutlich: Was haben die wohl gemacht? Wo waren sie? Haben sie ihren Mund gehalten? Oder haben sie Widerstand geleistet? Oder haben sie eifrig mitgemacht?

Immer mit diesen Fragen durchs Leben zu gehen, ist schwer! Es bedeutet eine beinahe unerträgliche Belastung. Dazu kam, dass so viele Menschen fast spontan und ungefragt behaupteten, sie hätten einem Juden oder sogar mehreren Juden geholfen, sie versteckt. ,,Wir waren ja immer dagegen!“ oder ähnliches bekam ich häufig zu hören. Man konnte kaum jemanden finden, der die Nazis irgendwie unterstützt hatte. Und das war für mich … ja, wie soll ich es definieren … es löste für mich und in mir ein großes Unbehagen aus.

Aber zum Glück gab es ja auch die jungen Leute – ich weiß nicht, vielleicht ähnelten sie den Pionieren in Amerika. Vielleicht habe ich sie besonders gesucht, jedenfalls hatte ich überwiegend mit Universitäten und Studenten zu tun. Da waren also die jungen Leute, die vor der enormen Aufgabe standen, hier etwas Gerechtes herzustellen und die unter anderem einen gewissen Kampf mit ihren Eltern auszutragen hatten. Ob das im Einzelnen wirklich deutlich ausgetragen wurde oder nicht, darauf kommt es nicht an. Jedenfalls war die Kluft zwischen den Generationen damals noch sehr viel größer, als sie es heute zwischen einem 17-jährigen und seinen Eltern ist. Heute besteht immer noch eine Kluft, aber nicht so wie damals. Außerdem muss ich sagen, es war natürlich auch eine interessante Zeit, besonders, wenn man selbst ein bisschen wach und neugierig ist, und das war ich doch ganz bestimmt.

Das Gespräch wurde mit freundlicher Genehmigung des Verlags dem Buch von Joseph Weizenbaum und Gunna Wendt entnommen, das diese Tage erscheint: Wo sind sie, die Inseln der Vernunft im Cyberstrom?. Auswege aus der programmierten Gesellschaft. Verlag Herder. 224 Seiten, € 19,90.