Soldaten im Wahlkampf

Mit der Belagerung des Gefängnisses in Jericho versucht Israels amtierender Regierungschef Ehud Olmert bei den Wählern zu punkten

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Nach einer rund zehn Stunden dauernden Belagerung des Gefängnisses in der palästinensischen Stadt Jericho durch die israelische Armee hätten sich der Anführer der Volksfront für die Befreiung Palästinas (PFLP) Ahmed Saadat und fünf seiner Mitstreiter den Streitkräften gestellt, hatte ein Sprecher des israelischen Militärs am Dienstag Abend mitgeteilt (Armee zerstört PA-Gefängnis in Jericho). Zu jenem Zeitpunkt standen die palästinensischen Gebiete bereits Kopf: In Gaza wurden europäische und amerikanische Kulturinstitute und Konsulate verwüstet; militante palästinensische Gruppen entführten zeitweise 14 Ausländer, unter ihnen auch ein Mitarbeiter des Roten Kreuzes, weil sie die Regierungen in London und Washington für die Militäroperation verantwortlich machten: Beide hatten in den Morgenstunden die letzten ihrer Beobachter abgezogen, die in dem Gefängnis gemäß einer Vereinbarung zwischen Israel und der Palästinensischen Autonomiebehörde die Inhaftierung der fünf Männer überwachten, die unter anderem für den Mord an dem israelischen Tourismusminister Rechawam Seewi verantwortlich gemacht werden.

Das verwüstete Gefängnis in Jericho. Foto: Matthew Price

In den Studios des Fernsehsenders Kanal 1 ließen sich am Dienstag Morgen die Spitzenpolitiker der israelischen Parteien von Koch Chaim Cohen für dessen Sendung „Knoblauch, Pfeffer oder Olivenöl“ verwöhnen, die am Abend nach den Wahlen am 28. März ausgestrahlt werden soll. Doch einigen von ihnen dürfte gründlich der Appetit vergangen sein: Mitten in die Aufzeichnung platzte die Nachricht von der Belagerung des Gefängnisses in der palästinensischen Stadt Jericho durch die israelischen Streitkräfte.

„Unglaublich,“ donnerte Zahawa Gal-On, Abgeordnete des linksliberalten Meretz / Jachad-Blocks in einer Pause: „Olmert schreckt vor wirklich nichts zurück, um ein paar Sitze mehr zu gewinnen.“ Eine Meinung, die am Dienstag von vielen geteilt wurde: Zwar hatte der Abzug der amerikanischen und britischen Beobachter schon seit Monaten im Raum gestanden, zwar hatte der palästinensische Präsident Machmoud Abbas vor zwei Wochen davon gesprochen, er werde der Freilassung der Mörder des israelischen Tourismusminister Rechawam Seewi zustimmen, wenn die „Volksfront für die Befreiung Palästinas“ (PFLP) die Verantwortung für das weitere Schicksal der fünf Männer übernehme.

Doch ob die Militäroperation in dieser Form, zu diesem Zeitpunkt wirklich notwendig war, daran hegen viele Zweifel: „Mir scheint, als habe es die israelische Regierung auf eine Eskalation angelegt“, sagt ein Kontakt aus dem Umfeld der britischen Botschaft in Tel Aviv. In mehreren Briefen, die gemäß der Übereinkunft über die Inhaftierung der fünf Männer auch an die israelische Regierung gesandt wurden, habe man die palästinensische Führung dazu gemahnt, sich künftig an die Vereinbarungen zu halten, will heißen, den Zugang der Häftlinge zu Telefonen einzuschränken, die Zusammenarbeit mit dem palästinensischen Wachpersonal zu verbessern und dem 14-köpfigen Beobachterteam nicht zuletzt auch sichere Arbeitsbedingungen zu bieten. Die Briten und Amerikaner waren in der Vergangenheit mehrmals bedroht worden. „Wir hätten mit Sicherheit eine Lösung für diese Probleme finden können“, sagt der Botschaftsmitarbeiter: „Es hat aber keinen ernsthaften Versuch aus Jerusalem gegeben, sich an der Suche zu beteiligen.“

Zwar beteuerte Gideon Esra, Israels Minister für innere Sicherheit und am Dienstag das einzige Regierungsmitglied, das sich gegenüber der Presse äußerte, dass die Operation einzig und allein der Sicherheit des Staates diene: „Wir werden niemals tatenlos mit ansehen, wie die Palästinensische Autonomiebehörde internationale Verträge und Übereinkünfte verletzt und Terroristen frei lässt.“ Doch die meisten Kommentatoren vermuten dennoch Wahlkampftaktik hinter der Belagerung:

In den vergangenen Wochen war Kadima, die Partei von Vizeregierungschef Ehud Olmert, der die Amtsgeschäfte für den schwer erkrankten Premierminister Ariel Scharon führt, in den Umfragen abgesunken. „Olmerts größtes Problem war, dass er in der Öffentlichkeit als entscheidungsschwach und übervorsichtig gilt“, schreibt Ofer Schelah in der hebräischen Ausgabe der Zeitung Jedioth Ahronoth: „Eine erfolgreicher Militäreinsatz, gepaart mit seiner Ankündigung, bis 2010 weitere Siedlungen zu räumen, war genau das, was er in dieser Situation brauchte.“ Jossi Werter von der Zeitung HaAretz geht derweil davon aus, das Olmert die Situation zwar nicht herauf beschworen, sie aber dennoch nach besten Kräften ausgenutzt hat: „Alles war auf die bestmögliche Medienwirkung ausgelegt; dass die Operation deshalb länger dauerte und risikoreicher war, als sie hätte sein müssen, spielte keine Rolle.“

Jedioth-Autor Schelah warnt das Kadima-Wahlkampfteam allerdings vor allzu großer Euphorie: „Es war nicht das erste Mal, dass eine Regierung Wahlkampf mit Militäroperationen betrieben hat. Die Ergebnisse waren völlig unterschiedlich.“ So ließ Menachem Begin nach dem glücklosen Libanon-Feldzug 1981 en irakischen Atomreaktor Osirak zerstören und gewann die Wahl. 1996 ordnete Schimon Peres, der damals die Amtsgeschäfte für den ermordeten Jitzhak Rabin führte, Operation „Früchte des Zorns“ im Libanon an, verprellte damit die linken Wähler und verlor. „Ähnliches könnte auch diesmal passieren. Sollte die Lage in den palästinensischen Gebieten in den kommenden beiden Wochen eskalieren, könnte ihm dies Stimmen kosten.“

Erste Anzeichen für ein neue Eskalation gibt es bereits: Noch während der Belagerung demonstrierten überall in den palästinensischen Gebieten Tausende aufgebrachter Menschen gegen die Militäroperation; kurz darauf wurden Flugblätter verteilt, auf denen Ausländer zum sofortigen Verlassen von Westjordanland und Gazastreifen aufgefordert wurden. Dennoch wurden in Gaza, Jenin und Nablus insgesamt 14 Menschen, unter ihnen auch ein Mitarbeiter des Roten Kreuzes, entführt und einige Stunden später wieder freigelassen.

„Es ist bedauerlich, so etwas zu machen“, sagte der 19-jährige Amjad, Anführer einer Zelle der al Aksa-Brigaden in Nablus, „aber es ist der einzige Weg, uns Gehör zu verschaffen. Das Ausland interessiert sich doch gar nicht mehr für Palästina. Schaut Euch die Berichterstattung gestern an: Stundenlang kümmerte sich kein Fernsehsender darum, bis plötzlich Ausländer entführt wurden. Flugs waren wir in den Schlagzeilen.“

Wut brachten am Mittwoch viele Palästinenser zum Ausdruck, selbst wenn sie mit den Zielsetzungen und Methoden der PFLP wenig am Hut haben: „Es reicht ganz einfach“, donnerte Fahdi Schukaki, ein Ladenbesitzer in Ost-Jerusalem: „Die Israelis schicken ihre Cowboys nach Jericho und wir sollen zuschauen? Was sind wir? Die Wilde Westbank?“ Er spricht von den gezielten Tötungen, bei denen in denen vergangenen beiden Wochen auch fünf Kinder und Jugendliche ums Leben kamen, von den israelischen Drohungen, nach dem Wahlsieg der Hamas den palästinensischen Anteil an den Mehrwertsteuereinnahmen nicht mehr nach Ramallah überweisen zu wollen, von dem Gefühl vieler Palästinenser, zwischen die Rädchen der israelischen Wahlkampfmaschinerie geraten zu sein: „Wenn das so weiter geht, gibt es eine dritte Intifada.“

Doch zunächst herrscht vor allem Hilflosigkeit: „Dass sich die Wut der Menschen im Moment gegen den Westen entlädt, hat damit zu tun, dass sie sich gegenüber den Israelis machtlos fühlen“, sagt der Soziologe Ramadan Abu Ala von der Hebräischen Universität in Jerusalem: „Kulturinstitute zu verwüsten, Ausländer zu vertreiben ist zwar kontraproduktiv und sinnlos, aber auch ein Ventil.“

Doch auch auf der israelischen Seite herrschte am Mittwoch Frust: Bei der Linken, weil nun eine neue Eskalation mit all' ihren Auswirkungen auf den Friedenprozess zu befürchten ist. Auf der Rechten, weil sie befürchtet, endgültig gegen Olmert und seine Kadima-Partei verloren zu haben. Und auch bei der Meretz/Jachad-Kandidatin Zahawa Gal-On, der nach der Nachricht das Mittagessen nicht mehr so recht schmecken wollen: „Schade eigentlich“, sagte sie: „Ich hatte mich so darauf gefreut. Chaim Cohen ist so ein guter Koch. Und ich kann nicht mal Spiegeleier braten.“