Burnout mit Fünf

Vollständig überfordert und vollständig unterfordert

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Der Fünfjährige, der jetzt schon Schule hasst, obwohl er gerade erst im Kindergarten ist; Zweijährige, die wöchentliche Mathe-und Lesestunden absolvieren und täglich Hausaufgaben machen: Ende der Kindheit, Anfang des neuen "goldenen Zeitalters des Wissens" (vgl. Fast-Food-Medien) oder Übereifer von Eltern, die von Angst und Ehrgeiz getrieben ihren Sprösslingen Vorteile in einem Wettbewerb verschaffen wollen, der immer früher einsetzt?

“My son already hates school, and he's just halfway through kindergarten” – die Klage, die kürzlich in der Los Angeles Times veröffentlicht wurde, kommt aus einer amerikanischen Akademiker-Familie, „definitely pro-school“. Der Großvater des kleinen Ricky ist Professor, der Vater ebenso, die Großmutter hat ein Naturwissenschaftsstudium abgeschlossen und die Mutter ist Schriftstellerin.

Mit diesem intellektuellen Hintergrund und weil Ricky sein Alphabet „schon gut kennt“, waren sich die Eltern sicher, dass sich der Fünfjährige leicht tun würde in den ersten Schultagen im Kindergarten (die amerikanische Version unterscheidet sich vom deutschen Kindergarten), aber nein, Ricky mag vor allem die Pausen. Die alten, geruhsamen Zeiten im Kindergarten sind vorbei, schreibt seine Mutter:

Jetzt ist der Kindergarten ein 30-Stunden-Job. Mit abendlichen Hausaufgaben...für den Mittagsschlaf bleibt keine Zeit mehr.

215 Dollar investieren die Eltern des zweijährigen Ryan Uyeji pro Monat in die Extraausbildung bei Kumon, einer Tutoring Chain mit Ursprung in Japan, die es auch in Deutschland gibt ("Mein eigener Lernweg"). Eigentlich ist das "Junior Kumon Program", das Mathematik - und Lesefähigkeiten fördert, für Vier- bis Sechsjährige gedacht, aber jüngere Kinder sind willkommen und die Eltern von Ryan Teil einer stetig "zunehmenden Anzahl von Eltern, die Privatlehrer bezahlen, um ihre Kinder für den Kindergarten vorzubereiten".

Dass Zweijährige Rechnen lernen und Dreijährige schreiben, ist, wie die Kulturwissenschaftlerin Donata Elschenbroich Anfang dieses Jahres in Der Zeit berichtete, in China nicht ungewöhnlich:

In der familiären Erwartung von künftigem Aufstieg und Wohlstand in einer Gesellschaft, die neuerdings auf Wissen und Bildung setzt wie keine andere, kann die energische Pädagogik offenbar nicht früh genug ansetzen. Von Jahr zu Jahr werden höhere Anforderungen zur Norm – auch an die Eltern. Bestimmte Leistungen fürs Kind nicht zu erbringen, das wird in China bald mit Vernachlässigung gleichzusetzen sein.

In Deutschland heißt das „Frühförderung“ und scheint sich langsam im Bewusstsein ambitionierter Eltern durchzusetzen. Zwar wurden die Fähigkeiten kleiner Kinder hierzulande lange unterschätzt, so Elschenbroich, der Trend zur „Beschleunigungspädagogik“ ist aber schon länger im Gange: Dass sich auf dem schwarzen Brett des Kinderarztes immer mehr Annoncen finden, die Englisch für Krabbelgruppenkinder anbieten, und Großmütter den Eltern ihres zweijährigen Enkels nahe legen, möglichst bald mit Französisch und Arabisch zu beginnen, mag noch anekdotischen Charakter haben, der Umsatz der Baby Einstein-Lern-Videos- und DVDs – 85 Millionen Euro 2004 – verweist da schon auf größere Dimensionen.

Ebenso wie die Diskussion unter Eltern darüber, welches entwicklungsförderliche Zusatzangebot der Kinderkrippe bzw. des Kindergartens vom Familienbudget noch abgedeckt werden kann. Seit die Erkenntnisse der Hirnforschung darauf hinweisen, dass frühkindliche Förderung geboten ist, hat das Etikett Förderung oder Bildung anscheinend große Zugkraft, zumal in Zeiten von desaströsen PISA-Ergebnissen und Turbowettbewerb.

Ziemlich daneben und fast schon rührend weltfremd ist auch, dass immer wieder getönt wird, wie sträflich es sei, wenn Kinder nicht rechtzeitig mit dem Computer vertraut gemacht würden. Diese verzweifelten Rufe scheinen von Menschen zu kommen, die noch nicht in unserer Zeit angekommen sind. Zumindest in Ländern wie Deutschland oder den USA muss man sich wohl überhaupt keine Sorgen machen, dass Kinder nicht früh genug lernen, einen Computer zu bedienen – eher darum, dass sie zu lange davor sitzen.

Jedes Kind kann vollständig überfordert werden, aber auch unterfordert. Die Sorge der Eltern spielt hier eine große Rolle. Solange die Ängste der Eltern nicht projiziert werden, ist das Risiko nicht allzu groß. Es kommt nicht so sehr darauf an, was gemacht wird, sondern wie. Systematische Untersuchung über negative Wirkungen von frühkindlicher Förderung liegen noch nicht vor.

Angelika Diller, Deutsches Jugendinstitut