Unsicherheit auf beiden Seiten

Israel und die radikalislamische Hamas haben Schwierigkeiten, sich in der neuen politischen Realität zurechtzufinden

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Am vergangenen Sonntag, fast zwei Monate nachdem die Liste der Hamas bei den palästinensischen Parlamentswahlen die absolute Mehrheit gewonnen hatte ("Wenn Israel die Besatzung stoppt, werden wir auch den Widerstand einstellen"), übergab der künftige Regierungschef Ismail Haniyeh Präsident Machmoud Abbas die Liste mit den Namen der geplanten Regierungsmitglieder. Unter ihnen: ein Christ, eine Frau, viele Technokraten. Die Schlüsselressorts sollen aber von Mitgliedern der Hamas gehalten werden. Am Mittwoch soll das Kabinett vereidigt werden. Der Druck bleibt aber hoch: Israel, die Vereinigten Staaten und Europa fordern, die Hamas solle zuvor das Existenzrecht Israels und alle von der palästinensischen Autonomiebehörde mit dem palästinensischen Staat geschlossenen Abkommen anerkennen. Doch die Hamas sendet widersprüchliche Signale aus: Selbst die Führung der Organisation sei sich nicht einig, ob sie militante Widerstandsbewegung oder politische Partei sein will, sagen Experten und mahnen zu einer baldigen Entscheidung: Denn auf die neuen Machthaber warten schon die ersten Herausforderungen.

Ismail Haniyeh, designierter palästinensischer Regierungschef, vor Bildern von Jassir Arafat und Machmoud Abbas. Foto: KSI (Rafael deClerc)

Machmoud lacht, laut und lange. „Milch?“, prustet der Ladenbesitzer, „Ich weiß nicht mal mehr wie Milch schmeckt.“ Es ist kein heiteres Lachen, eher eine Anklage. An das Ausland, von dem man sich hier in Gaza verlassen fühlt, an Israels Regierung und an die Autonomiebehörde, denen die Menschen in einem der am dichtesten bevölkerten Landstriche der Welt die Schuld an ihrer Situation geben. „Wir sind alle verzweifelt“, sagt Machmoud, der um Anonymität gebeten hat: „Meine Familie hat schon seit einer Woche nicht mehr richtig gegessen. Die Politiker tragen ihren Streit auf ihrem Rücken aus.“ Um ihn herum: Leere Regale. Milch, Öl, Brot, selbst Reis, die Hauptnahrungsmittel im Gazastreifen, sind schon seit Tagen ausverkauft. Stattdessen: Überreifes Obst und Gemüse zu Spottpreisen bis zum Abwinken, aber auch das wird bald vorbei sein. Ein paar Kilometer weiter südlich sind palästinensische Bauern an diesem Mittwoch Nachmittag dabei, Tonnen von schimmligen Agrarprodukten zu vernichten: „Schade darum“, sagt einer der Arbeiter, „aber soviel Obst und Gemüse kann niemand aufessen.“

Eigentlich waren Tomaten, Gurken, Kohl für den Export gepflanzt worden – eine sichere Einnahmequelle für die am Boden liegende Wirtschaft im Gazastreifen. Doch seit Israels Regierung vor mehreren Wochen den Kontrollpunkt Karni schließen ließ, über den der Güterverkehr abgewickelt wird, bewegt sich Gaza rasant auf eine humanitäre Krise zu: „Wir haben gesicherte Hinweise darauf, dass palästinensische Terroristen Anschläge auf das Terminal planen“, sagten Sprecher des israelischen Militärs in den vergangenen Wochen immer wieder als Begründung und fügten stets hinzu, es täte ihnen leid, dass darunter die Zivilbevölkerung leide: „Die Menschen sind selbst dafür verantwortlich, Druck auf die Terrorgruppen auszuüben.“

Hamas ist ein Störfaktor für die israelischen Wahlen

Doch die Realität ist sehr viel komplexer: Zunächst einmal deutet vieles darauf hin, dass die Schließung Karins vor allem dazu gedacht ist, Druck auf die Hamas auszuüben. Die politische Liste der radikalislamischen Organisation, die für viele der Bombenanschläge in Israel in den vergangenen Jahren verantwortlich gemacht wird, hatte Ende Januar bei den Parlamentswahlen in den palästinensischen Autonomiegebieten gewonnen und damit die Regierung des stellvertretenden israelischen Premierministers Ehud Olmert in eine verzwickte Lage gebracht: Regierungschef Ariel Scharon liegt nach einem schweren Schlaganfall Anfang Januar im Koma (Der Fall nach dem Knall) und wird sich wohl nicht mehr erholen. An seiner Stelle muss nun der als farblos und entscheidungsschwache Olmert am Dienstag für die Parteineugründung Kadima versuchen, die Wahlen zu gewinnen – ein Unterfangen, dass nicht so sicher ist, wie es aussieht: Zwar führt die Partei nach wie vor in den Umfragen, doch bis zu 15 der im Moment 35 Parlamentssitze (von insgesamt 120) galten auch am Sonntag morgen noch als unsicher.

Wenn, wie vorhergesagt, die Wähler am Tag der Entscheidung zu Hause bleiben, wird es vor allem Kadima sein, die darunter leidet: Die Partei hat keine Mitgliedsbasis und keine nennenswerte Organisationsstruktur. Ihr Neuigkeitseffekt hat sich eben so schnell abgenutzt wie die Erstürmung des Gefängnisses in der palästinensischen Stadt Jericho (Soldaten im Wahlkampf), bei der die israelische Armee Achmad Sa'adat, der als Hintermann der Ermordung des Tourismusministers Rechawam Seewi im Jahr 2001 gilt, und fünf Gefolgsleute gefangen nahm. „Ganz ehrlich können wir uns glücklich schätzen, wenn wir unser Ergebnis in den heutigen Umfragen am Wahltag halten werden“, sagte ein Mitarbeiter des Kadima-Wahlkampfteams am Sonntag: „Olmert darf jetzt keinen einzigen Fehler machen.“

Und dabei bildet die Hamas den größten Störfaktor – nicht, weil sie kurz vor den Wahlen noch einen Selbstmordanschlag ausführen lassen könnte: Die Organisation hält sich schon seit gut einem Jahr überwiegend an einen Waffenstillstand, versucht sogar, sich ein neues, moderates Image zu geben: Als nach der Jericho-Operation überall in den palästinensischen Gebieten Tausende von Menschen auf die Straße gingen, um gegen den Militäreinsatz zu protestieren, fiel vor allem die Abwesenheit der Milizen der Hamas auf.

Es ist die pure Existenz der Radikalislamisten in den nicht sonderlich weitreichenden Korridoren des palästinensischen Machtapparates, die Olmert fürchtet: Seine Berater haben Angst, dass jede Form der Kooperation mit der Hamas von den Wählerinnen und Wählern abgestraft, dass Untätigkeit als weitere Entscheidungsschwäche ausgelegt werden könnte. „Das Problem dabei ist, dass gegen die Hamas kein Kraut gewachsen ist“, sagt Aluf Benn, Analyst der Zeitung HaAretz: „Es gibt nichts, was man tun könnte, um die Regierungsübernahme zu verhindern, und einen hohen Druck, irgendetwas zu tun.“

Die Schließung des Karni-Überganges sei eines der Resultate gewesen: „Die Angelegenheit ist ein Armdrücken auf dem Rücken der palästinensischen Autonomiebehörde: Israel wollte die Autonomiebehörde dazu zwingen, Güterlieferungen über den Kerem Schalom-Übergang zuzustimmen und damit auf die Einfuhrgebühren zu verzichten, die die Palästinenser in Karni erheben.“ Die Güter wären in diesem Fall zunächst über Kerem Schalom von Israel nach Ägypten ausgeführt und dann über den weiter westlich gelegenen Rafah-Übergang in den Gazastreifen eingeführt worden, allerdings unter strengen Auflagen: Israel ließ nur mit Diät-Cola, Mehl und Milch beladene Lastwagen durch; Ausfuhren aus dem Gazastreifen sind nicht erlaubt.

Die Karni-Affäre ist vor allem der erste Test für die Hamas. Sie wird bald die palästinensische Regierung stellen und sich dann damit befassen müssen, ob sie künftig auf Gedeih und Verderb ihre anti-israelische Haltung fortsetzen oder aus tagespolitischen Gründen das Gespräch suchen wird. Beide Seiten sind so eng miteinander verbunden, dass es ohne nicht gehen wird.

Aluf Benn

Doch im Moment hat die Organisation noch Probleme damit, sich mit ihrer neuen politischen Rolle zurechtzufinden: Wenn es um das künftige Verhältnis zu Israel geht, widersprechen sich die Mitglieder der Hamas-Spitze immer wieder gegenseitig. So sagte der designierte Ministerpräsident Ismail Haniyeh vor eineinhalb Wochen in einem Interview mit dem amerikanischen Fernsehsender CBS, er halte einen Frieden mit Israel für möglich, falls sich der jüdische Staat auf die Grenze von 1967 und Ost-Jerusalem als Hauptstadt des palästinensischen Staates zustimmen sollte. Gleichzeitig sprach sich Haniyeh gegen Bombenanschläge in Israel aus: „Ich habe niemals jemanden auf eine Selbstmordmission geschickt. Wenn einer meiner Söhne mich um so etwas bäte, würde ich nicht einmal daran denken, ihm meinen Segen zu geben.“

Am Tag darauf erwiderte Hamas-Führer Khaled Maschal, er könne sich nicht vorstellen, dass Haniyeh diese Dinge tatsächlich gesagt habe: „Wir werden Israel niemals anerkennen.“ Am Sonntag, nur zwei Tage vor den Wahlen, legte Haniyeh allerdings noch einmal nach: „Wir brauchen kein Blutbad in dieser Region. Wir brauchen Rechte und Würde für unser Volk und ein Ende dieser jahrzehntelangen komplizierten Situation“, zitiert ihn die Nachrichtenagentur AP: „Die Machtübernahme der Hamas ist der Anfang vom Ende dieser Krise, wenn die andere Seite es nur will.“

„Niemand weiß, wie sich die Hamas in der Regierung anstellen wird“

Doch noch hat Haniyeh die Regierung noch nicht offiziell übernommen. Erst am Mittwoch, zwei Monate nach der Wahl, soll sein Kabinett vereidigt werden. Der designierte Premierminister schaffte es erst am vergangenen Montag, nur zwei Wochen vor Ablauf einer von Präsident Machmoud Abbas gesetzten Frist, dem Präsidenten eine Liste mit 24 Namen, darunter die von nur einem Christen und einer Frau, zu übergeben: Die Schlüsselressorts sollen von Mitgliedern der Hamas gehalten werden; alle anderen Posten wurden mit Technokraten besetzt – ein verzweifelter Versuch, der neuen Regierung einen moderaten Anstrich zu geben. Denn davon hängt für die palästinensische Autonomiebehörde eine Menge ab: Sie ist fast ausschließlich von Hilfszahlungen aus dem Ausland abhängig. Nach dem Wahlsieg der Hamas hatten viele der Geldgeber angekündigt, ihre Unterstützung zu überdenken. Denn auch in Europa und den Vereinigten Staaten gilt die Hamas als terroristische Organisation.

Die künftige Regierung krankt vor allem an der Abwesenheit von Mitgliedern anderer Parlamentsfraktionen: Alle Parteien, die Ende Januar den Einzug ins Parlament geschafft hatten, lehnten das Angebot, sich an einer „Regierung der nationalen Einheit“ dankend ab: „Niemand weiß, wie sich die Hamas in der Regierung anstellen wird“, sagte ein Funktionär der Fatah, jener Partei, deren Vorherrschaft in den palästinensischen Gebieten 40 Jahre lang in Stein gemeißelt schien: „Wenn es schief läuft, will keiner dabei gewesen sein.“

Abbas muss die Entscheidung, dem Kabinett zuzustimmen, ausgesprochen schwer gefallen sein. Seine Kernforderungen, also die Anerkennung Israels und aller mit dem jüdischen Staat geschlossenen Verträge, hat die Hamas nicht erfüllt. Israels Regierung übt deshalb starken Druck auf ihn aus, die Regierung abzulehnen, das Parlament wieder aufzulösen und es noch einmal mit Wahlen zu probieren. Aus dem Umfeld des Präsidenten war immer wieder zu hören, der „Rais“, wie er auf arabisch genannt wird, denke über seinen Rücktritt nach: Eine Option, die im Ausland aber ebenfalls für Stirnrunzeln sorgt – der moderate Abbas gilt dort als unverzichtbar. So beschränkte sich der Präsident am Ende darauf, Haniyeh in einem Brief mitzuteilen, er werde von seinem Recht Gebrauch machen, die Regierung abzusetzen, falls sie „Positionen einnehmen sollte, die den Interessen des palästinensischen Volkes widersprechen.“

Doch auch Abbas hat Probleme: Die Jericho-Operation hat ihn geschwächt. Tagelang demonstrierten in den Tagen nach der Gefängnisstürmung Tausende Mitglieder von al-Aksa-Brigaden und der Volksfront für die Befreiung Palästinas. Dabei geriet auch der Präsident in die Kritik: Warum die Gefängniswärter nicht geschossen hätten, wie es dazu kommen konnte, dass sich Sa'adat und die anderen fünf einfach kampflos ergeben, fragten viele, und gaben die Antwort gleich selber: Abbas habe versagt und müsse zurück treten, fordern selbst Mitglieder seiner eigenen Partei Fatah, mit den Bildern von palästinensischen Gefängniswärtern in Unterhosen vor dem inneren Auge. „Es hat Israels Regierung anscheinend nicht gereicht, das Gefängnis zu stürmen und Sa'adat festzunehmen“, schrieb die Zeitung al Kuds am Donnerstag, „sie musste uns auch noch auf die größtmögliche Art und Weise demütigen.“

Die Militäroperation werde zwar bald die mutmaßlichen Hintermänner des Mordes an Seewi vor ein israelisches Gericht gebracht haben – allerdings zu einem hohen Preis, sagte der Analyst Dr. Saed Machoul: „Die moderaten Kräfte sind stark geschwächt; Militanz dominiert einmal mehr unsere Gesellschaft. Es würde mich nicht wundern, wenn das Ergebnis eine dritte Intifada wäre.“

Verschärft wurde die Lage durch die Drohung von James Wolfensohn, Chefunterhändler des „Nahost-Quartetts“ aus USA, Europäischer Union, Russland und Vereinten Nationen, er werde Ende April sein Amt niederlegen, falls sich nicht auf beiden Seiten grundlegend etwas ändere. Machoul: „Das wäre eine dramatische Entwicklung. Auch wenn die ‚Roadmap' kein großer Erfolg war, hatte Wolfensohns Anwesenheit doch eine ausgleichende Wirkung auf beide Seiten.“

Doch am Samstag waren Wolfensohn und das Nahost-Quartett noch einmal helfend zur Stelle: In langen Gesprächen, in die sich zeitweise auch die US-Außenministerin Condoleeza Rice und UN-Generalsekretär Kofi Annan telefonisch eingeschaltet haben sollen, wurde Israels Regierung mit Nachdruck darauf hingewiesen, dass es nun genug sei – mit Erfolg: Am Sonntag Mittag gab Verteidigungsminister Schaul Mofas bekannt, dass Karni wieder für den Güterverkehr in beide Richtungen geöffnet werde. Schon wenige Stunden später setzte sich langsam eine mehrere Kilometer lange Karawane von Lastwagen in Bewegung. Doch bis sich die Regale in Machmouds Laden in Gaza-Stadt wieder füllen werden, wird es wohl noch einige Tage dauern: „Ich habe gerade erst einmal ein paar Flaschen Milch und ein bisschen Mehl rein bekommen und sofort wieder verkauft,“ berichtete er am Abend per Telefon: „So schnell wie die Sachen raus gehen können sie im Moment gar nicht geliefert werden.“