Nach dem Massenprotest

Auch wenn gestern in Frankreich landesweit so viel Menschen wie noch nie zuvor gegen die Arbeitsgesetze demonstrierten, ist der Erfolg weiterhin ungewiss

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Allein ein Wort kann das Menschenmeer der französischen Demonstrationen vom Dienstag beschreiben: „enorm“. Die Gewerkschaft CGT, die nicht nur Mitveranstalterin, sondern eine der Haupttriebkräfte bei der Mobilisierung war – in Paris hatte sie allein rund ein Drittel der Teilnehmer mobilisiert -, sprach von 700.000 Demonstranten in der Hauptstadt und 3 Millionen in ganz Frankreich. Das wäre auf nationaler Ebene die größte Teilnehmerzahl, die jemals registriert wurde. Dies bleibt auch dann so, wenn man berücksichtigt, dass die Polizei nur von 1,1 Millionen Demonstranten spricht und der Realitätssinn gebietet, von insgesamt ungefähr zwei Millionen in ganz Frankreich auszugehen. Noch nie waren so viele Demonstranten auf einmal unterwegs. Sie forderten die Rücknahme des „Ersteinstellungsvertrags“ oder CPE (Contrat première embauche), der es erlaubt, Jugendliche und junge Erwachsene einzustellen, die während zweier Jahre keinen Kündigungsschutz genießen.

Foto: Bernard Schmid

Ungefähr ein Drittel bis die Hälfte der Pariser Demonstranten waren Jugendliche und Studierende, ein weiteres Drittel war bei der CGT organisiert, dem postkommunistischen, größten Gewerkschaftsdachverband in Frankreich. Der Rest verteilt sich auf kleinere Gewerkschaftsblöcke, auf die Eltern von unter 26-Jährigen – die sich als solche auswiesen und oft noch mit schulpflichtigen Kindern kamen, da in zahlreichen Schulen streikbedingt der Unterricht ausfiel -, Arbeitslose und prekär Beschäftigte.

Die große Frage lautet, wie es nach dem gestrigen immensen Mobilisierungserfolg insgesamt weiter geht. Kommt es zum von vielen angesprochenen Generalstreik, falls die Regierung hart bleibt? Oder begnügen sich die Gewerkschaftsführungen wieder, wie beim Konflikt um die „Rentenreform“ von 2003, mit ein paar Aktionstagen in wöchentlichem Abstand, die nichts blockieren und durch die Regierung letztendlich übergangen werden? Am Mittwochabend wollen die 12 Organisationen, die zu Arbeitsniederlegungen und Demos am Vortag aufgerufen hatten – darunter acht Gewerkschaften von Arbeitern und Angestellten, sowie Verbände von Studierenden und Oberschülern – bekannt geben, welche weiteren Schritte sie beschlossen haben.

Der konservative Premierminister Dominique de Villepin ist nach wie vor nicht gewillt, den Gesetzestext, der die Rechtsgrundlage für den CPE schafft, zurückzuziehen. Allenfalls ist er bereit, zwar keine Begründungspflicht für Kündigungen – die juristische Konsequenzen hätte, da das Kündigungsmotiv gerichtlich nachprüfbar wäre – in den „Ersteinstellungsvertrag“ aufzunehmen, aber die Arbeitgeber zu einem „Gespräch“ mit dem Betroffenen zu verpflichten, falls ein CPE aufgekündigt wird. Das Gesetz ist bereits im Schnellverfahren durch das Parlament gedrückt und am 10. März verabschiedet worden. Doch noch ist er nicht von Präsident Jacques Chirac unterschrieben, und es fehlen auch noch die nötigen Ausführungsdekrete.

Aus diesem Grunde appellierten die fünf größten Gewerkschaftsverbände, die vom Gesetzgeber als „repräsentativ“ anerkannt sind, noch am Dienstagabend in einem gemeinsamen Brief an Staatspräsident Chirac, dass er die Unterschrift unter das Gesetz vorläufig verweigern und es zu einer weiteren Beratung in die Nationalversammlung zurückgeben solle. um dort eine Sachdiskussion zu ermöglichen und den CPE aus dem „Gesetz für Chancengleichheit“ getauften Gesetzespaket herauszunehmen. Dies ist freilich absolut nicht im Sinne der radikaleren Kräfte in der Protestbewegung, vor allem nicht der „Koordination der Studierenden, Oberschüler und jungen Prekären gegen den CPE“. Sie fordert die Zurückweisung des gesamten Gesetzespakets, das neben dem umstrittenen CPE auch noch eine Reihe von Sonderbestimmungen für die Banlieuejugend enthält. So ermöglicht es die Kollektivbestrafung von Familien, deren Jugendliche straffällig wurden, durch den Entzug von Sozialleistungen. Ferner legalisiert das Gesetzespaket den Eintritt ins Arbeitsleben mit 14 und lässt Nachtarbeit sowie Wochenenddienst ab 15 zu.

Von Anfang an herrscht ein Legitimitätskonflikt zwischen zwei Akteuren innerhalb der jüngeren Protestbewegung. Auf der einen Seite stehen die etablierten Gewerkschaftsapparate, die eine breite soziale Basis unter abhängig Beschäftigten haben, aber die in Gipfeltreffen ihrer jeweiligen Spitzen über ihre nächsten Schritte entscheiden. Andererseits gibt es die Streikkoordination, die aus dem studentischen Selbstorganisierungsprozess in Vollversammlungen und Streikkomitees hervorging. In ihr machen Angehörige der sozialdemokratischen Studierendengewerkschaft UNEF rund ein Drittel und radikale Linke unterschiedlicher Couleur gut die Hälfte der Delegiertenmandate aus. Bislang ergriff auf den verschiedenen Stufen des Konflikts gewöhnlich die Streikkoordination die Initiative, und die Gewerkschaftsverbände schlugen daraufhin ein Alternativdatum vor. Die Koordination wollte am 16. März, einem Donnerstag, auf die Straße gehen, die Gewerkschaftsspitzen bevorzugten hingegen den 18. März, da sie an einem Samstag nicht zum Streik aufrufen mussten. Die Koordination wollte einen landesweiten Aufruf zu Arbeitsniederlegungen am 23. März, die Gewerkschaftsführungen favorisierten einen solchen Aufruf an die Lohnabhängigen für den 28. März.

Noch ist unklar, wie nunmehr weiter entschieden wird. Aber die Koordination ruft bereits für den Donnerstag dazu auf, Bahnhöfe und Hauptverkehrsstraßen zu blockieren, um zu beginnen, den kapitalistischen „Normalbetrieb“ des Alltags lahm zu legen, falls die Regierung auf ihrer Position beharrt. In Rennes warteten die Studierenden nicht so lange ab, sondern blockierten gleich am Mittwochmorgen die wichtigsten Zufahrtswege zu der westfranzösischen Regionalhauptstadt. In einigen Départements, etwa dem Bezirk um Nantes – einer alten anarchosyndikalistischen Hochburg mit bis heute starker kämpferischer Gewerkschaftstradition - rufen übergewerkschaftliche Aktionskomitees auch seit mehreren Tagen zu einer unbefristeten Fortsetzung der Ausstände vom Dienstag auf. So lange, bis die Regierung nachgibt. In der Chemieindustrie, wo die CGT Chemie sich ähnlich positioniert, wurden am Mittwoch Produktionsrückgänge in den Raffinerien verzeichnet.

Streben die Konservativen ein Thatcher-Szenario an?

Die konservative Regierung ihrerseits setzt offenkundig auf eine Strategie des „Aussitzens“. Sie dürfte darauf bauen, dass am 8. April die zweiwöchigen Universitätsferien im Großraum Paris beginnen und zeitversetzt dann auch in den anderen Regionen. Falls bis dahin die Mobilisierung den CPE nicht kippen konnte, droht die Gefahr, dass die studentische Mobilisierung dann auseinanderläuft – zumal nach der Ferienperiode die Jahresabschlussprüfungen näher rücken und viele Studierende zu fürchten beginnen, dass ihnen eine Fortsetzung des Ausstands ein ganzes Jahr kosten könnte und etwa ihr Stipendium in Gefahr bringt. Hat der Ausstand von Arbeitern und Angestellten keinen größeren Effekt, so dürfte es unmöglich sein, dass Oberschüler und Studierende die Mobilisierung allein weiter tragen. In Rennes, von wo der Hochschulstreik ausging, dauert er seit nunmehr 7 Wochen ohne Unterbrechung an. Dies dürfte die Regierung in ihr Kalkül einbeziehen.

Sofern sie die Kraftprobe um den CPE durchhält (auch wenn sie in dieser Frage zwei Drittel der öffentlichen Meinung gegen sich hat), könnte sie versucht sein, ähnlich wie Margaret Thatcher in den 80er Jahren den Gewerkschaften eine entscheidende Niederlage beizubringen. Danach lässt sich dann sehr vieles ohne größere Widerstände durchdrücken. Ansätze einer solchen Niederlage, anhand derer die Regierung ihre Durchsetzungsfähigkeit beweist und damit gleichzeitig den Weg für eine Fülle anderer kapitalfreundlicher Veränderungen frei macht, hatte in Frankreich bereits der Konflikt um die „Rentenreform“ 2003. Ihn verloren die Gewerkschaftsführungen, nachdem sie selbst zuvor die Mobilisierung auf Sparflamme gehalten hatten, vor allem durch Abwürgen des spontan ausgebrochenen Transportstreiks, den sie für unpopulär hielten. Aus diesem Grunde fordert ein Teil der politischen und wirtschaftlichen Elite auch von Premier de Villepin jetzt durchzuhalten – um nämlich dieses 2003 durch die französische Rechte errungene „politische Kapital“ nicht wieder zu verlieren.

Keine Personenfrage

Es geht also, entgegen den Spekulationen eines Gutteils der französischen Presse, mitnichten um persönliche Charakterzüge de Villepins oder um die Frage, ob er „autistisch“, „psychisch starr“ oder „taub“ für die Forderungen sei. Es handelt sich um eine bewusst geplante Politik. Allerdings treten im aktuellen Konflikt auch die Sollbruchlinien innerhalb des bürgerlichen Lagers auf, unter anderem entlang der Rivalitäten zwischen den beiden konservativen Anwärtern, auf die Präsidentschaftskandidatur im kommenden Jahr.

De Villepins großer Herausforderer, Innenminister Nicolas Sarkozy, nutzt die Situation geschickt aus. In einer viel beachteten Rede am Montagabend im nordfranzösischen Douai forderte Sarkozy lautstark den „soziale Dialog“ ein. Er variierte dieses Thema auf verschiedenen Tonleitern herunter: „Man kann eine feste Position einnehmen, ohne sich zu versteifen... Man kann versöhnlich (auftreten), ohne schwach zu sein....“ In der Sache selbst sprach Sarkozy sich für Verhandlungen mit den Gewerkschaftsorganisationen vor der Einführung des CPE aus. Nichts anders versucht Premierminister de Villepin im Moment händeringend.

Aber es gelingt Sarkozy damit, sich mit seiner Pose als vermeintlicher Kritiker der Hardlinerposition des Regierungschefs in Szene zu setzen. Dabei ist das, was der hyperaktive Minister in derselben Rede längerfristig vorschlug bzw. ausmalte, näher an dem dran, wovon die französischen Arbeitgeberverbände im Moment träumen: Sarkozy sprach sich für die Schaffung eines „Einheitsvertrags ohne Befristung“ aus. Das bedeutet verklausuliert nichts anderes, als das, was die Arbeitgeberverbände die ganze Zeit schon fordern: Statt Sonderverträge vom Typ CPE/CNE zu favorisieren, soll der Kündigungsschutz im Normalarbeitsvertrag vom Typ CDI (unbefristeter Vertrag), der theoretisch weiterhin die Norm bleiben soll, selbst angeknackst werden. Ein „contrat unique“ würde bedeuten, dass die Arbeitsverträge weiterhin unbefristet abgeschlossen werden, aber der Kündigungsschutz mit steigender Zahl der Dienstjahre wächst. Das bedeutet, dass im Kontext einer solchen Regelung in den Anfangsjahren ebenfalls kaum Kündigungsschutz bestünde, dieser dann aber nach einigen Jahren der Unternehmenszugehörigkeit zumindest die Gestalt eines garantierten Mindestniveaus an Abfindung annähme.

Einen Ausweg ohne politische Niederlage ihrerseits könnte der Regierung ferner auch noch das französische Verfassungsgericht bieten. Es spricht sich am Donnerstag dieser Woche über die Rechtmäßigkeit oder Verfassungswidrigkeit des „Gesetzes zur Chancengleichheit“ und damit auch der Bestimmungen über den CPE aus. Es gilt als möglich, dass es das Gesetz kassieren könnte, sowohl aufgrund der Beschneidung der Rechte des Parlaments während seiner Verabschiedung als auch aus inhaltlichen Gründen. Zu ihnen gehört, dass der CPE nicht mit der Konvention 158 der International Labour Organization (ILO) vereinbar sein könnte, die auch durch Paris unterzeichnet worden ist. Diese internationale arbeitsrechtliche Bestimmung verpflichtet die Arbeitgeber dazu, im Falle der Kündigung eines abhängig Beschäftigten dafür Gründe zu nennen.

Foto: Bernard Schmid

Mitten im Getümmel – Ein Bericht von der Großdemonstration in Paris

Gegen 14 Uhr wollte ich am Dienstag in die Linie 5 der Pariser Métro umsteigen, die von der Endstation in der Trabantenstadt Bobigny (Bezirkshauptstadt des Départements Seine-Saint-Denis, das die besonders armen nördlichen Pariser Vorstadt umfasst) aus kommend am Ostbahnhof eintrifft. Von dort wollte ich zur Gare d’Austerlitz, da an diesem Bahnhof die Großdemonstration auf dem ersten Drittel ihres Weges vorbeikommen sollte. Am Ausgangsort dürfte es unmöglich sein, einen Überblick zu gewinnen. Erst vier Stunden nach dem Auftakt, so erfuhr ich später über Handy, konnten die letzten Blöcke der Demonstration den Ausgangsplatz verlassen.

Erst einmal dauerte es quälend lange, bis überhaupt ein Métrozug heranrollt, auch wenn nur rund 30 Prozent des Verkehrs der Untergrundbahn streikbedingt ausgefallen waren. Der Bahnsteig war überfüllt. Selten schienen so viele Leute auf einmal unterwegs. Aber in den ersten Zug war kein Hineinkommen: Die Waggons waren überfüllt mit Jugendlichen, die offenkundig aus der Banlieue kamen und von denen viele Migrationshintergrund haben. Ein Teil von ihnen schien Jugendgangs anzugehören, die mitfahrende Passagiere beschimpften und am Ostbahnhof aus der Métro zu drängen versuchten. Es kam zu heftigem Streit, ein aus einem Waggon heraus geworfener Schlüsselbund flog mir um die Ohren und ein wütender Chinese wurde durch seine verängstigte Frau gerade noch daran gehindert, mit den Fäusten auf die Jugendlichen loszugehen.

Auch der endlich einfahrende nächste Metrozug war voll von Jugendlichen aus den Trabantenstädten, aber dieses Mal konnten wir einsteigen – solange jedenfalls, bis der knappe Raum bis zum Platzen überfüllt war. Diese Jugendlichen waren nett und fanden nach eigenem Bekunden „großen Quatsch, was die da machen“. Es handelte sich um Schüler an einer Berufsoberschule in Aulnay-sous-Bois, die sie seit 14 Tagen besetzt hatten. Über Polizeiprovokationen in den Banlieue-Schulen war in diesen Tagen viel die Rede, aber meine Nachbarn im Zug hielten sich mit Kritik an den Ordnungskräften zurück: „Nein, bei uns sind sie zurückhaltend. Anderswo haben sie in der letzten Zeit provoziert und dadurch manche Banlieues in Aufruhr versetzt, das stimmt.“ Einige fanden, dass „Gewalt überhaupt Quatsch“ sei, ein anderer aber meinte: „Falls die Regierung heute Abend nicht nachgibt, was soll man dann noch machen? Nachdem so viele Millionen auf der Straße waren, was bleibt dann noch übrig? Anscheinend versteht die Regierung nur die Sprache, die im Herbst in manchen Banlieues gesprochen wurde, damals hat die Regierung es tierisch eilig gehabt zu reagieren...“ Eine ältere Gewerkschafterin diskutierte freundlich mit den Jugendlichen, erklärte aber, dass sie diese letzte Aussage für Quatsch hält: „Falls es zu Gewalt kommt, wird dies nur die Leute spalten, die Sympathien für die Proteste haben, und die Menschen gegen euch aufbringen. Das ist es doch, was (Innenminister) Sarkozy will!“

An fast jeder Station hielt unser Zug jeweils für mehrere Minuten – aufgrund von Problemen im vorausfahrenden Zug, wie ich vom Bahnsteig aus hörte. Zweimal griffen entweder Polizisten oder Angestellte der Metro-Betreibergesellschaft RATP ein. An der Place de la Bastille wurde es mir zu bunt, ich verließ die Métro vorzeitig – die Demonstration musste ohnehin hier vorbeikommen. Nach 15 Minuten tauchte dann auch schon die Spitze des offensichtlich riesigen Demonstrationszugs auf der Höhe der Bastille-Oper auf. An der Oper selbst hing ein großes Transparent: „Die Pariser Opern im Streik.“ Tatsächlich marschierten die Beschäftigten der beiden Opernhäuser in einem der ersten Blöcke des Zuges. Ihr Protest richtete sich freilich nicht allein gegen den CPE, sondern hing ebenso mit dem seit Wochen andauernden Arbeitskampf der ‘intermittents du spetacle’ (nicht ständig Beschäftigten des Kulturbetriebes) zusammen, denen ein Teil ihrer bisher bestehenden sozialen Absicherungen entzogen werden soll.

Der Protestzug nahm kein Ende. Auf dem Vorplatz der Bastille-Oper applaudierten zahlreiche Umstehende den einfallsreichsten Transparenten oder Verkleidungen. Viel Beifall erhielt der auf einem Autodach und einem darauf befestigten Schild stehende Gallierhäuptling, der die „zornigen ArchäologInnen“ repräsentierte. Der Einfall ist nicht völlig neu, der Gallier kam auch schon in ähnlichem Aufzug zu den Demonstrationen gegen die „Rentenreform“ 2003, damals auf einem Holzpferd sitzend. Die Archäologen protestierten einerseits gegen die allgemeinen Einschnitte wie die sonstigen Demonstranten, andererseits machten sie auch geltend, dass die Sparpolitik im öffentlichen Dienst wichtige archäologische Projekte gefährde. Zudem beschwerten sie sich über eine wirtschaftsfreundliche Änderung der Bauvorschriften, die es erschwert oder mitunter verunmöglicht, ein Bauvorhaben zu verzögern, von dem man vermutet, dass es unterirdische archäologische Schätze bedroht. So vermischten sich oft sehr unterschiedliche Motive für die Teilnahme am Protest.

Foto: Bernard Schmid

Noch nicht einmal die Hälfte der Demo war auf der Place de la République angekommen, als es schon knallte. Die Jugendgangs hätten versucht, Schaufenster einzuwerfen, hörte ich gerüchteweise über den Platz. Sehen konnte ich, dass sie sich Scharmützel mit den Polizeikräften lieferten: Wurfgegenstände flogen auf die CRS, die französische Bereitschaftspolizei. Diese antwortete mit Pfeffer-Reizgas. Immer wieder flüchteten kleinere Gruppen, die dicht vor den Absperrgittern der CRS gestanden hatten, quer über den Platz. Die Frage war, ob es die Jugendgangs ausschließlich auf die Polizei abgesehen hatten, deren Präsenz sie offenkundig tatsächlich wie magisch anzog? Oder ob sie auch aggressiv gegen Demonstranten vorgehen würden, wie es am vorigen Donnerstag nach der Auflösung der Studierendendemo in der Nähe des Invalidendemos der Fall war. „Da, in der Mitte des Platzes, da sind einige Leute aus Gangs aktiv, die auch Demonstranten bestohlen oder beraubt haben“, wurde mir gesagt. In ihren Augen waren die demonstrierenden Oberschüler, die an diesem Tag äußerst zahlreich auch aus den Banlieues selbst und aus Migrantenfamilien gekommen sind, „Privilegierte“ und um Weicheier – so dass ihnen eine Form von sozialer Rache auf dem Wege des Faustrechts wohl legitim erschien. Aber es zeichnete sich schnell ab, dass diejenigen, die auch Demonstranten attackierten, nur eine verschwindende Minderheit war.

Plötzlich kam Bewegung in eine größere Gruppe auf dem Platz. Sie löste sich von der Polizeiabsperrung ab, um auf die hintere Seite der Place de la République zu flüchten, offenkundig einen Tränengaseinsatz befürchtend. Ich stolperte über die Füße eines ebenfalls weglaufenden Banlieue-Jugendlichen und landete der Länge nach auf dem Asphalt. Ich sah mich schon geistig um meinen Fotoapparat erleichtert, aber nichts dergleichen: Der Betreffende entschuldigte sich gleich dreimal, und Andere aus seiner Gruppe, die überwiegend aus Schwarzen bestand, halfen mir höflich auf die Füße.

Kurze Zeit darauf war nicht mehr klar, wer auf diesem Platz zu wem gehörte. Ein Teil des Ordnerdiensts der CGT, der mit Armbinden gekennzeichnet war, holte Knüppel aus den Jacken hervor und attackierte eine Gruppe von Banlieue-Jugendlichen, um sie zu vertreiben. Angeblich oder tatsächlich waren diese zuvor gegen Demonstranten vorgegangen. Ein paar Momente lang flogen Flaschen, ohne dass wirklich klar gewesen wäre, von wem sie gegen wen gerichtet waren. Ein Pulk von Reportern mit Presseschild, den Fotoapparat oder die Filmkamera unter dem Arm und auf der Suche nach dem „Scoop“, stürmte mit Motorrad- und anderen Helmen auf dem Kopf über den Platz. „So ein Blödsinn, die führen sich auf, als seien sie in Bagdad – und das alles dient nur der Sensationsmache“, meinten Demonstranten um mich herum. Mehrmals ertönten Pfiffe gegen die Leute mit den Filmkameras.

Foto: Bernard Schmid

Zwei Minuten später befand ich mich wieder an dem Ort, wo sich eben noch die Kette des CGT-Ordnerdienst befand. Jetzt standen hier mehrere Dutzend Männer in Zivil, die meisten trugen Aufkleber von Gruppen der radikalen Linken. Ich war der Meinung, dass es sich um andere Ordner handelte, auf Nachfrage anderer Anwesender hin versicherte auch einer der Männer: „Wir sind vom Ordnerdienst der CGT.“ Kurze Zeit später erkannte ich meinen Irrtum, als die angeblichen Ordner links und rechts von mir ausklappbare Gummiknüppel auf Knopfdruck ausfuhren und zwei von ihnen Handschellen hervorholten. Es gelang mir noch, im Durcheinander Fotos zu machen. Unmittelbar vor mir wurde aus unerfindlichen Gründen ein junger Mann verhaftet. Die Gruppe von 30 bis 50 Zivilpolizisten, die für Gewerkschaftsordner oder Linksradikale gehalten werden wollten, zog sich schließlich auf die Seite des Platzes zurück. Die Anwesenden hinter ihrer Kette wurden wenig später in einen Kessel abgedrängt, da die CRS den Boulevard nach wenigen hundert Metern abgeriegelt hatte. Nach ein paar Minuten durten wir den Kessel auf der anderen Seite verlassen, aber nur einzeln. Offenkundig war es umso schwerer, aus dem Kessel herauszukommen, je dunklere Hautfarbe man hatte. Einige junge Frauen protestierten: „Lasst die Schwarzen laufen.“

Die Demonstration war noch in vollem Gange, denn über zwei Seitenstraßen konnte ich bequem auf die Place de la République zurückkehren, an der nach wie vor bestehenden CRS-Abriegelung vorbei. Noch anderthalb Stunden lang floss kontinuierlich ein Strom von Demonstranten auf den Platz. Über eine Stunde waren ausschließlich CGT-Transparente im hinteren Zugteil zu sehen. Rund um die Place de la République herrschte eine surrealistische Atmosphäre: Vorne flogen Steine und Tränengasgranaten, auch wenn sich die Situation ganz allmählich beruhigte, und hinten kamen ununterbrochen weitere – friedliche und oft ältere – Demonstranten an.