Imperialismus als Farce

Fukuyamas Abrechnung mit der verschworenen Gemeinschaft der Neokonservativen, seinen einstigen Bundesgenossen, für die der Irak-Krieg zum Fiasko wurde

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Die neokonservative Revolution der Bushregierung steht mit dem Schlamassel im Irak vor einem Scherbenhaufen. Ihr grandioser Triumphmarsch von Sieg zu Sieg währte nur 6 Jahre. Schon mit dem zweiten ihrer weltpolitischen Abenteuer endete eine kaum begonnene heroische Epoche - offenbar hat sich die Geschichte tatsächlich enorm beschleunigt. Francis Fukuyama, berühmt geworden durch seinen geschichtsphilosophischen Traktat vom „Ende der Geschichte”, der nach dem Untergang des Kommunismus den welthistorischen Sieg der liberalen Demokratie beschwor, ist angewidert vom dilettantischen Versuch seiner neokonservativen Mitstreiter, die Philosophie in Praxis zu überführen. Nicht den Versuch selbst hält er für ehrenrührig, wohl aber die plumpe und fehlerstrotzende Durchführung.

Francis Fukuyama. Foto: David Fukuyama

Da er seine Brüder und Schwestern für unbelehrbar hält und den ehemals gemeinsamen Glauben für unheilbar beschädigt und beschmutzt, erklärt er seinen Austritt aus der Kirche und gründet eine neue: den „Realistischen Wilsonianismus”.

Die neokonservative Position wie sie Leute wie Kristol and Kagan artikulierten, war, anders als meine, leninistisch. Sie glaubten, dass die Geschichte mit dem richtigen Einsatz von Macht und Willen vorangetrieben werden könne. In seiner bolschewistischen Version war der Leninismus eine Tragödie und in den Vereinigten Staaten kehrt er nun als Farce zurück. Ich kann das nicht mehr unterstützen.

Francis Fukuyama

Austrittserklärung und Gründungsmanifest legte Fukuyama vor einigen Monaten mit einem, für seine Verhältnisse recht kurzen Essay „America at the Crossroads” bei „Yale University Press” vor. Es ist in diesen Tagen unter dem Titel „Scheitert Amerika - Supermacht am Scheideweg” auf deutsch erschienen.

Sein paulinisches Erlebnis war angeblich eine Abendmahlsfeier im American Enterprise Institute, bei der sein Bruder im Glauben Charles Krauthammer (der Fukuyamas Darstellung zurückweist, worauf Fukuyama antwortet) die Predigt hielt:

Die Diskrepanz zwischen meinen eigenen Überzeugungen und denen der anderen Neokonservativen wurde mir im Februar 2004 deutlich, als ich dem Jahresessen des American Enterprise Institute beiwohnte, auf dem der Kolumnist Charles Krauthammer die jährliche lrving-Kristol-Rede hielt mit dem Thema „Demokratischer Realismus: Eine amerikanische Außenpolitik für eine unipolare Welt“. Diese Rede knapp ein Jahr nach dem Einmarsch der US-Truppen in den Irak zeichnete den Krieg als einen Erfolg auf der ganzen Linie. Ich konnte nicht verstehen, warum alle Teilnehmer in meiner Nähe der Rede begeistert applaudierten, da doch die USA im Irak keine Massenvernichtungswaffen gefunden hatten, sich in einem heimtückischen Aufstand verheddert und sich fast vollständig von der übrigen Welt isoliert hatten, indem sie jener unipolaren Strategie gefolgt waren, die von Krauthammer befürwortet wurde.

Francis Fukuyama

Realitätsblindheit

Fukuyama diagnostiziert bei seinen ehemaligen Mitstreitern vollständige Realitätsblindheit, die sich selbst für hyperrealistisch hält und sucht nach Erklärungen für den Realitätsverlust. Ist es das philosophische Erbe der Gründerväter der neokonservativen Bewegung, also etwa der antistalinistische Trotzkismus des New Yorker City College (NYCC) der 1930er und 1940er Jahre oder die Philosophie von Leo Strauss, die die heutigen Akteure mit Blindheit schlägt? Oder sind die Ursachen woanders zu suchen? Fukuyama nimmt den Leser mit auf eine Reise durch die Vorgeschichte der neokonservativen Bewegung, mit der offensichtlichen Absicht, die geistigen Überväter von allem Verdacht freizusprechen. Die Verantwortung tragen für ihn einzig die heute aktiven Enkel, die ihr Erbe schlecht verwalten, ja ruinieren.

Sein Hauptargument für den Freispruch der Alten ist ihre gemeinsame Skepsis gegenüber allzu gewagten gesellschaftlichen Großexperimenten. Bei den Alttrotzkisten vom NYCC erwuchs diese Skepsis aus ihrem beinharten Antistalinismus, aus dem bald eine konsequente Ablehnung nicht nur jeder revolutionären Utopie wurde, sondern aller sozialen Experimente überhaupt. Je ehrgeiziger die sozialen und politischen Ziele sind, desto eher stellen sich unerwartete und unerwünschte Nebenfolgen ein, die das Ziel konterkarieren. Mit diesem Argument traten sie gegen die Versuche in den 1960er Jahren an, in den USA einen Sozialstaat nach europäischem Vorbild zu etablieren.

Bei Leo Strauss sei es seine Skepsis gegenüber der Aufklärung, die ihn daran zweifeln ließ, dass die menschliche Vernunft alleine im Stande sei, eine dauerhafte politische Ordnung zu gründen. An dieser Stelle wird Fukuyama schönfärberisch. Kein Wort erfährt der Leser vom „theologisch-politischen Problem”, also über die Lösung, die Strauss für die Mängel der Aufklärung anbietet. Was die aufgeklärte Vernunft alleine nicht vermag, gelingt einer „Vernunft”, die hinter die Religionskritik der Aufklärung zurück geht und sich der Offenbarung öffnet:

Mit anderen Worten: der Herrscher des idealen Staates muss Prophet - Philosoph und Seher in einem - sein. (...) er muss endlich „fest entschlossen zu der Sache sein, deren Ausführung er für notwendig hält, tapfer auf sie zu, kühn, ohne Furcht und nicht schwachen Herzens.“ Das heißt: der Herrscher des idealen Staates - und Herrscher des idealen Staates kann nur ein Prophet ein - muss von Natur die Eigenschaften haben, die nach Platons Forderung die Philosophen-Könige von Natur haben müssen.

Leo Strauss, Philosophie und Gesetz

Zwar mag der Prophet im Weißen Haus manch einen an Leo Strauss gemahnen, jedoch scheint es tatsächlich unwahrscheinlich, dass dessen Gedanken im Oval Office eine bedeutende Rolle gespielt haben, erlaubt doch seine Philosophie einen Blick auf die theokratische Dimension des Islamismus und legt Zweifel nahe, dass der bloßer Sturz eines Diktators allüberall auf der Welt zum spontanen Sieg der liberalen Demokratie führt. Fukuyama deutet diese Dimension an, indem er bemerkt, dass bei Strauss „die ungeschriebenen Regeln”, „Religion, Verwandtschaft und gemeinsame historische Erfahrungen” zur Dimension des Politischen gehören. Die Errichtung einer neuen politischen Ordnung sei deshalb eine schwierige Aufgabe, was zur Vorsicht vor allzu gewagten politischen Experimenten Anlass bieten sollte:

Wer sich auf die Universalität amerikanischer Erfahrungen beruft, kann sich in jedem Fall nicht auf Strauss berufen.

Fukuyama vertieft diese Überlegungen nicht weiter, lieber konzentriert er sich auf Gestalten, die ihm ferner stehen. Ins Zentrum stellt er Albert Wohlstetter, den Lehrer von Paul Wolfowitz, und aus der jüngeren Generation William Kristol und Robert Kagan. Wohlstetter war ein kalter Krieger in der Militärstrategie. Er machte zusammen mit Wolfowitz, Perle, Paul Nitze und Dean Acheson, später allesamt Mitglieder der Regierung Bush jun., Front gegen die SALT- und START-Abrüstungsverträge und arbeitete an der Frage, wie sich eine Verbesserung der Zielgenauigkeit in die Militärstrategie einarbeiten ließe.

Wohlstetter ist einer der konzeptuellen Väter der „intelligenten” Bomben aus dem ersten Golfkrieg. Das Ziel war, die eigenen Verluste soweit als möglich zu minimieren, die der Gegner dagegen maximal zu steigern. Der Erfolg dieser Kriegsführung im Golfkrieg von 1991 und exemplarischer noch im Kosovokrieg, in dem kein einziger GI ums Leben kam, ist für Fukuyama einer der Gründe für die Blindheit, mit der die Bush-Regierung in den Krieg gegen Sadam Hussein zog: Er erzeugte die Illusion, man könne den Krieg kostengünstig und ohne große Verluste auch zum Zwecke eines Regimewechsels einsetzen.

Intelligente Bomben können nicht zwischen Aufständischen und Nichtkombatanten unterscheiden oder Soldaten behilflich sein, Arabisch zu sprechen.

Francis Fukuyama

Die US-Hightech-Armee ist daher ziemlich ungeeignet für die umfangreichen politischen Ziele, die die Bush-Regierung weltweit verfolgt.

Mit William Kristol und Robert Kagan nähert sich Fukuyama der Gegenwart und damit den in seinen Augen eigentlichen Quellen für den Realitätsverlust der Bush-Regierung. Zwei Elemente sind aus seiner Sicht hauptverantwortlich für die neoliberale Blindheit: erstens eine spezifische Interpretation des Untergangs des Kommunismus und zweitens eine gruppenpsychologische Dimension.

Die Neokonservativen trugen zu allen Zeiten die Fackel der Freiheit und pflegten die Vorstellung vom Kommunismus als dem Reich des Bösen. Dieses Erbe des alten Antistalinismus des NYCC haben sie niemals preisgegeben. Sie ließen sich weder vom Vietnamkriegstrauma beeindrucken, noch teilten sie die Vorstellungen der Entspannungspolitiker. Ihr politisches Ziel blieb ohne Kompromisse der Sieg über den Kommunismus. Nach dem Untergang der SU und dem Sieg der Demokratie in weiten Teilen der ehemals kommunistischen Länder Europas fühlten sie sich in ihren Überzeugungen zu 100% bestätigt. Dies verschaffte ihnen in den neunziger Jahren ein beträchtliches Selbstvertrauen. Sie waren die einzigen, die richtig gelegen hatten.

Hinzu kam, dass sie den Untergang der SU auf die harte Rüstungspolitik Reagans zurückführten. Eine harte Außenpolitik, die mit allen Mittel auf den Sturz der Diktatur des Bösen hinarbeitet, schien bestätigt worden zu sein. Warum also nicht weitermachen auf einem erfolgreichen Wege und nach dem Erfolg im Kampf gegen die Sowjetunion das nächste Ziel ins Auge fassen und auch die anderen Diktaturen auf der Welt stürzen und die Völker zur Demokratie führen und warum nicht mit Saddam Hussein anfangen?

Hinzu kommt die psychologische Dimension. Sie waren es über Jahrzehnte gewohnt, dass die Europäer sie für Träumer und draufgängerische Cowboys hielten und dass sie auch in den Regierungsbürokratien der USA kaum Unterstützung fanden. Sie waren eine kleine und häufig verachtete Minderheit, die aber als einzige nachgewiesenermaßen im Recht waren. Sie waren es also gewohnt, Kritik zu ignorieren und eine verschworene Gemeinschaft zu bilden, eine Truppe von geschulten und erprobten Fanatikern.

Tribalismus herrscht in allen Bürokratien; während Bushs erster Amtszeit überstieg das Stammesbewusstsein innerhalb des Regierungsapparates jedoch alles Vorstellbare. Die Loyalität gegenüber der eigenen Clique triumphierte über das Bedürfnis nach einer offenen und aufgeschlossenen Diskussion. In diesem Lichte muss sich niemand darüber wundern, dass es keine realistischen Planungen für den Nachkrieg gab.

Francis Fukuyama

Was tun?

Fukuyama teilt nicht die apokalyptischen Visionen der Neocons, für die der Kampf gegen Al-Qaida ein „Vierter Weltkrieg” ist. Für ihn ist das Problem relativ überschaubar. Er stimmt der Diagnose von Gilles Kepel und Olivier Roy zu, wonach der Dschihadismus als politische Massenbewegung längst gescheitert ist. Sein Rückhalt unter den Muslimen ist gering. Seine Anhänger rekrutieren sich aus den entwurzelten Minderheiten in nichtmuslimischen Ländern. Er ist kein radikalisierter Islam, sondern eine synkretistische Ideologie, die islamische Ideen mit radikalen westlichen Ideen aus der extremen Linken und der extremen Rechten vereint.

Die Gefahr geht nicht von frommen Muslimen aus den Vorderen Orient aus, sondern von entwurzelten jungen Leuten aus Hamburg, London oder Amsterdam. Er ist das Resultat einer gescheiterten Integration. Im Zentrum befindet sich ein harter innerer Kern aus kompromisslosen Fanatikern, umgeben von konzentrischen Kreisen! aus Sympathisanten, Trittbrettfahrern, Gleichgültigen und Unpolitischen. Damit ändert sich die Strategie grundlegend. An die Stelle spektakulärer Kriegseinsätze tritt mühsame Polizei- und Geheimdienstarbeit. Und dieser Kampf wird hauptsächlich in Westeuropa stattfinden und nicht im Nahen Osten.

Der Krieg gegen den Irak beruhte auf einer falschen Bedrohungsanalyse. Er hat die USA weltpolitisch isoliert und den Neokonservatismus unrettbar diskreditiert. Der neokonservative Traum von der USA als einen „gütigen Hegemon” ist gescheitert. Er gründete schon von Anfang an auf folgenschweren Illusionen und Irrtümern. Weder sind die USA allzeit gütig noch von unfehlbarer Weisheit. Ihre Politik in der Vergangenheit war niemals frei von groben Schnitzern. Ihr ökonomisches Entwicklungsmodell, der „Washington Consensus”, ist in der Asienkrise gescheitert, da es zu engstirnig und zu dumm war. Und auch sonst sind ihre Versuche, andere Ländern in ihrer Entwicklung zu unterstützen, selten von Erfolg gekrönt. Er erinnert an die „dürftige Bilanz” amerikanischer Interventionen in der Karibik und Lateinamerika und daran, dass die USA die Philippinen fast fünfzig Jahre regiert haben - mit dem Resultat, dass die Inselgruppe heute einer der wirtschaftlich am wenigsten entwickelten Staaten der Region ist.

Fukuyama wirbt deshalb für einen grundsätzlichen Kurswechsel. Er nennt ihn: „Realistischer Wilsonianismus” oder „nüchterner liberaler Internationalismus”. Er besteht aus folgenden Elementen:

  1. eine weitreichende Entmilitarisierung der amerikanischen Außenpolitik;
  2. Verzicht auf einen amerikanischen Unilateralismus, stattdessen sollte das Ziel eine multilaterale Welt sein;
  3. Stärkung und Reform bzw. Ausbau der internationalen Institutionen, nicht nur der Vereinten Nationen. Neben der UN gibt es eine ganze Korona internationaler Institutionen, zum Teil auf der Grundlage verbindlicher Verträge, zum Teil informell und ad hoc gebildet. Es gilt dieses Geflecht zu stärken, nicht zu schwächen.
  4. Diese Politik sollte von dem übergreifenden Ziel geleitet sein, verlorenes Vertrauen wiederherzustellen und die Demokratie weltweit mit den Mitteln der Soft Power zu stärken.

Fukuyama will die alten Parteiungen durcheinander wirbeln und die Elemente der amerikanischen Außenpolitik neu kombinieren. Aus dem Neokonservatismus soll das Leitbild der liberalen Demokratie als unbedingte Norm in die neue Politik eingehen, aus dem alten Neokonservatismus will er die Skepsis gegenüber allzu gewagten Großexperimenten wiederbeleben, aus dem liberalen Internationalismus entnimmt er den Multilateralismus, aus dem außenpolitischen Realismus die Politik der kleinen Schritte, jedoch ohne den Zynismus Kissingers. Ein ambitioniertes Projekt für einen Philosophen, auch wenn er gerade die neue Zeitschrift The Amerfican Interest gegründet hat.

Francis Fukuyama: Scheitert Amerika? Supermacht am Scheideweg. Propyläen Verlag Berlin 2006. 220 Seiten. 20 Euro

Leo Strauss: Gesammelte Schriften Band 2. Philosophie und Gesetz - Frühe Schriften. Stuttgart - Weimar 1997