Neuer Start für die Aufklärung

Die (religiösen) Feinde der Aufklärung scheinen im Osten und im Westen zu gewinnen, höchste Zeit für einen neuen Aufbruch: Könnte das Projekt des "schönen Lebens" im Diesseits ein Gegenentwurf sein?

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Die Aufklärung kommt derzeit von vielen Seiten unter Druck. Militante Islamisten lehnen sie als Ausdruck der westlichen Gesellschaft ab, die vom Glauben abgefallen sei und sich den weltlichen Verführungen unter Verlust von Moral und Tradition hingegeben habe. In den westlichen Gesellschaften rumort es schon lange, spricht man von Wertezerfall, verurteilt Rationalität und Wissenschaft und sucht ebenfalls Religion oder das „Andere der Vernunft“ zu rehabilitieren. Tatsächlich ist dem Projekt der Aufklärung eine Vision abhanden gekommen. Die Orientierung an Menschenrechten, Vernunft, Toleranz und Wissenschaft, der Ausgang aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit, kann nicht begeistern, wenn viele Menschen mit der erlangten Freiheit unzufrieden sind und sich gerne wieder in einen Zustand zurücksehen, in dem es mindestens gemeinsame Werte und Verbindlichkeiten gibt. Und besonders, seitdem Menschen, getrieben von religiösen Hoffnungen oder Verpflichtungen, sich selbst töten und dabei möglichst viele anderen Menschen mit sich reißen wollen, während die Supermacht im göttlichen Auftrag gegen das Böse kämpft, scheint das Projekt Aufklärung schal und morsch geworden zu sein.

Appelle nutzen wenig, das Einklagen von Werten auch nicht, die ja meist sich in Gestalt von Verboten und Vorschriften auswirken. Wer nicht in die Fittiche von Religionen oder anderen Gemeinschaftswelten mit einem fest gefügten Verhaltenskodex zurück will, tut sich allerdings wohl meist ebenso schwer damit, die Spaßgesellschaft, den entfesselten Kapitalismus, die Individualisierung oder Entsolidarisierung zu rechtfertigen und zu feiern. Dass wir aber nicht in eine posthistorische oder auch postmoderne Situation nach dem Fest angekommen sind, belegen die vielen Kräfte, die mit Druck wieder in ein Gehäuse zurückwollen, während die politisch und wirtschaftlich Liberalen auf den freien Markt auch nicht sehr viel anders setzen wie auf die unsichtbare Hand Gottes, die alles automatisch richten wird, wenn man die nötigen Opfer bringt und dazwischen pfuscht – eine besondere Art der Magie, die sich rational gibt, aber die Rituale liebt und scheinbar modernistisch doch nur sagt: keine Experimente sowie Augen zu und durch.

Das Projekt der Aufklärung wuchs aus der Kritik an Autoritäten, aus dem Vertrauen auf die Vernunft in jedem Einzelnen, die universelle Prinzipien enthält, aus dem Vorrang der Tätigkeit oder Arbeit vor dem Sein und jeder Art von Autorität, aus der Lust an der Ent-Täuschung und mit allem zusammenhängend auch aus einer Hinwendung zur individuellen, persönlichen Erfahrung, die nicht von einem Kanon überhöht oder kanalisiert wird. Moral war ihr nicht etwas, was dem einzelnen Menschen verordnet werden kann, sondern sie sollte sich aus ihm selbst als Träger der Vernunft entwickeln und einsichtig werden. Die alte Aufklärung war eine Befreiung, sie eröffnete einen erstrebenswerten Ausblick auf eine vernünftig geordnete und von freien Individuen bestimmte Gesellschaft, aber sie war auch eine Abkehr von der verspielten Kultur des Barock und damit, nicht nur mit ihrem puritanischen Moment, belastet mit einer Abwehr von Lust, Schein und Unterhaltung.

Für uns Nachgeborenen, für die viele der Visionen der Aufklärung die Grundlage der demokratischen und rechtsstaatlichen Gesellschaften bilden, in der Kirche und Staat getrennt sind und die Verfassung auf den Menschenrechten basiert, kann die Befreiung keine Orientierung mehr sein. Schon auch deswegen nicht, weil die Aufklärung der Gegenwart sich nicht nur Angriffen und Verführungen voraufklärerischer Vorstellungen und Hoffnungen erwehren muss, die sie seit der Romantik begleiten, sondern auch, weil ihr selbst der Prozess gemacht worden ist und sie für den Totalitarismus und Völkermord oder auch für die Zerstörung von Natur verantwortlich sein soll. Aufklärung befindet sich – auch was die Verbesserung der Lebensbedingungen für die breite Massen, etwa die Idee des Sozialstaats, betrifft - in Verteidigungsstellung, kann nur noch reagieren und wird von den von ihr freigesetzten Kräften fortgetrieben und bekämpft.

Möglicherweise bietet der Bamberger Soziologe Gerhard Schulze, seit seiner Erlebnisgesellschaft auf philosophischen Abwegen, einen Weg an, der Aufklärung einen neuen Antrieb zu verleihen. Schulzes neues Buch „Die Sünde“ ist zwar sehr erbaulich, wenig systematisch, ziemlich eigenwillig, was historische Deutungen angeht, und politisch geradezu mit Scheuklappen geschrieben, aber er geht hier direkt die „Feinde des schönen Lebens“ an, um eine Orientierung zu finden, die einem „Leben für das Diesseits“ und einem „Leben ohne Sünde“ entsprechen würde – ausgehend vom Glücksversprechen, das schon der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung eingeschrieben ist. Schulze fragt, ob man sich denn heute noch für die Moderne begeistern könne, eine wichtige Frage nicht nur gegenüber deren Verächtern, sondern auch für diejenigen, die noch einigermaßen behütet von ihren politischen, wissenschaftlichen, technischen, kulturellen oder sozialen Fortschritten leben und mehr oder weniger selbstverständlich und gelangweilt die Optionsvielfalt der angebotenen Lebensmöglichkeiten, freilich oft unter Maßgabe bestimmter Voraussetzungen wie Wohlstand, in Anspruch nehmen.

Nicht als Wertegemeinschaft, sondern als Transformationsgemeinschaft ging der Westen bisher seinen Weg. Seine wichtigste Metamorphose hatte gerade nicht das Aussehen eines Bekenntnisses zur Christlichkeit, sondern der Emanzipation davon. Säkularisierung begriff er als moralischen, politischen und philosophischen Fortschritt. Was aus christlicher Sicht Werteverfall bedeutete, galt den führenden Köpfen des 18. und 19. Jahrhunderts als Wertgewinn. Freilich verwendete der Westen dabei Bauelemente aus seiner Vergangenheit als christliches Abendland. Bildlich gesprochen, baute er die Quader zusammengestürzter Sakralbauten in seine Fabriken und Bürokomplexe ein.

Gerhard Schulze

Die Aufklärer selbst aber leiden gewissermaßen unter einer Erbsünde, die sie abschütteln müssen, um das „schöne Leben“ als Projekt in seiner Vielschichtigkeit entdecken und gegenüber den sündengepeinigten Zwangsvorstellungen lösen zu können. Heute spricht man zwar auch schon wieder vom Sittenzerfall, aber der Aufklärer setzt sich selbst meist von der Aufklärung ab, indem er mit dem alten Instrumentarium der Sündensprache etwa die Spaßgesellschaft, den Hedonismus, den Individualismus, den Konsum etc. geißelt, das moralisch Abgelehnte aber doch in Anspruch nimmt, ohne sich ihm wirklich zu stellen, während es doch auch in allen Abwegigkeiten zutiefst den westlichen Lebensstil kennzeichnet. Lähmend wirkt daher etwa auch die trotz aller vermeintlicher Abkehr weiterhin aufrechterhaltene Differenz von (guter) Hochkultur und (seichtem) Entertainment. Schlechtes Gewissen beherrscht den Aufklärer, der deswegen gerne andere Kulturen toleriert oder verherrlicht, auch wenn diese die Aufklärung ablehnen.

Für Schulze scheint vor allem das der Steigerungsimperativ eine Sünde wider das schöne Leben zu sein, das sich im Alltag und im Diesseits im Essen und Trinken, in der Sexualität und der Liebe, im Kauf und im Genuss von schönen Dingen, im „süßen Nichtstun“ mitsamt der Lust am Zappen und den spielerischen Betätigungen ebenso beweisen soll wie größere Gelassenheit, das Setzen auf die Würde, der „entspannte Umgang mit Neidgefühlen“. Zur Grundlage der westlichen Kultur der Aufklärung gehört auch die Negation, der Zweifel, das Auflösen der Gewissheiten, die Infragestellung von Allem. Das ist verwirrend und bringt Fundamentalismen aller Art ins Spiel als Kompensation, aber ohne Negation und ohne Auflösung von Heimat gibt es keine Bewegung, und ohne Bewegung kein Projekt des „schönen Lebens“ und des „persönlichen Glücks“. Denn für Schulze ist Aufklärung – und damit liegt er richtig und grenzt sich von der heute gern propagierten Verbindung von Christentum und Aufklärung ab – keine Abstammungsgeschichte, sondern ein Projekt, also bestimmt durch die Ziele, die angestrebt werden, und verstanden als Chance.

Leider führt der Soziologe kaum aus, wie sich das Aufklärungsprojekt des „schönen Lebens“ politisch, gesellschaftlich, ethisch niederschlagen könnte. Die Abnabelung von der Religion ist doch ein wenig dünn. Die Leitvorstellung des „gelingenden Lebens“ mit „Glück und Würde“ sagt noch wenig, wie sich die Kultur der Aufklärung gegenüber ihren Feinden verhalten wird, ob es Grenzen der Selbstverwirklichung geben soll, ob die Wissenschaft alles verfolgen, der Markt alles verwerten, die Medien alles verbreiten sollen, wie im Verfolgen des schönen Lebens die Verbindung zwischen dem, was gut für mich ist, und dem, was dem Allgemeinen dient, für gesellschaftliche Gerechtigkeit, Solidarität und Freiheit sorgt, die Würde und Verfolgung der persönlichen Ziele der anderen wahrt und sichert, dass auch künftige Generationen dieselben Chancen besitzen?

Aber man darf das Buch, trotz seiner fast 300 Seiten, nicht als Antwort, sondern wohl vor allem als Frage und Anregung aufnehmen, einmal die Weichen der Diskussion umzustellen. Schließlich könnte es ja auch sein, dass es auch nicht das „schöne“ Leben ist, das mit der Aufklärung kompatibel ist. Das deckt, ähnlich wie in der Kunst, vieles nicht ab und ist vielleicht auch für uns heute zu langweilig oder zu wenig attraktiv, um als Orientierungs- und Verständigungspunkt dienen zu können, um eine Lebensform zu sein, für deren Erreichung oder Verteidigung die Menschen einzeln und zusammen kämpfen und ihr Leben einsetzen wollen. Mit anderen, nicht-religiösen Perspektiven hat sich Schulze erst gar nicht auseinandergesetzt.

Schulzes Gedanken schweifen oft ab oder werden durchlagert von manchmal nicht recht nachvollziehbaren Hinweisen, aber man kann sie als Eröffnungen verstehen, wobei das von ihm nur angedeutete Projekt des „schönen Lebens“ freilich dort, wo es angedeutet wird, ein wenig hausbacken und damit wenig mitreißend bleibt. Das mag sich auch dem Umstand verdanken, dass Schulze in Verfolgung seines „persönlichen Glücks“ nicht mehr aufbricht und Abenteuer, Leidenschaft, Befreiung oder Wildheit ersehnt, sondern den Eindruck erweckt, er sei mit der abgeklärten Weisheit des Alters mehr oder weniger bei diesem angekommen und sesshaft geworden. Symptomatisch sind dafür etwa seine Ausführungen zur „Liebe nach der Karnickelphase“, die tatsächlich auch ein Desiderat kenntlich machen:

Es ist immer nur von steigenden Scheidungszahlen, sequenzieller Monogamie, Patchworkfamilien und Singles die Rede. Aber wenn man untersucht, wie viel Prozent der Menschheit zu einem gegebenen Zeitpunkt in irgendeiner Form von Beziehungsalltag leben, sind dies fast alle. Über das unübersehbare, allgegenwärtige Moment der Sesshaftigkeit, über Treue und langjähriges Zusammenleben, schweigt sich der kulturelle Selbstbeobachtungsdiskurs in den Medien und in der Sozialwissenschaft aus, und unsere Filme und Romane sind so gut wie ausschließlich an Ausbrüchen, Trennungen und atemberaubenden erotischen Begegnungen interessiert.

Das Geheimnis der langfristigen Paarbeziehung besteht in der Konstruktion von geteilter Einzigartigkeit durch eine Vielzahl von Zyklen und Wiederholungen, im Aufbau eines gemeinsam bewohnten, exklusiven kulturellen Binnenraums. ‚Hat ein Dichter je darüber geschrieben? Nicht über das einmalige Ereignis, sondern über seine stete Wiederholung im Lauf der Jahre?’ In der Gegenwart fordert Sexualität zu der Entdeckung heraus, dass sie die Eingangstür zu einem Raum der Vertrautheit jenseits der Sexualität sein kann.

Die Frage ist natürlich – und Schulze versucht sie zu beantworten -, ob das Projekt des „schönen Lebens“ die Sehnsüchte einlösen und die Ängste so beantworten kann, wie dies Religionen oder andere Weltanschauungen für viele Menschen, wenn vielleicht auch nur zeitweise, tun. Der Soziologe stellt an den Schluss seines Buches ein Zitat von Salman Rushdie, um das Leben im radikalen Diesseits und mit dem „irdischen Glück“ gegenüber der „zutiefst berührenden Ausstrahlung magischer Glaubensbekenntnisse“ oder der „Rhetorik metaphysischer Empfindsamkeit“ herauszustellen. Das ist die Lust am Konkreten, auch die fast schon wieder religiöse Achtung vor dem Alltäglichen und den kleinen Freuden, aber es fehlen Angst, Schmerz, Leidenschaft, Tod und Grauen, auch das Träumen scheint dabei irgendwie abhanden zu kommen. Und das war schließlich auch mit der Grund, warum schon die Romantik gegen die Aufklärung rebellierte und der Existentialismus mitsamt der Huldigung an das „Leben am Vulkan“ und der Tragik des Geworfenseins aufkam – als Reaktion der Jugend, die mit der abgeklärten Aufklärung nicht zurechtkommt und sich lieber das Leben in aller Doppeldeutigkeit nimmt, als mit den kleinen Freuden und Leiden vorlieb zu nehmen. Schulze schreibt gerade an einem neuen Buch mit dem Titel „Die Arbeit der Ankunft“, aber ohne die Lust und den Aufbruch greift auch diese Erklärung der besten aller Welten zu kurz.

Küssen in der Öffentlichkeit, Schinkenbrote, Meinungsverschiedenheiten, neueste Mode, Literatur, Großzügigkeit, sparsamer Umgang mit dem Wasser, eine gleichmäßigere Verteilung der Ressourcen in dieser Welt, Filme, Musik, Gedankenfreiheit, Schönheit, Liebe.

Salman Rushdie

Gerhard Schulze: Die Sünde. Das schöne Leben und seine Feinde. 256 S. Hanser Verlag 2006. € 21,50