Die Zeit der Kulturkriege ist vorbei

Über Schaumschläger und Beamte, den Import europäischer Theorie und ihr Irrelevant-Werden in Amerika

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Geoffrey Winthrop-Young, geb. 1960 in London, ist Germanist am Department of Central, Eastern and Northern European Studies der University of British Columbia in Vancouver. Er verbrachte seine Schulzeit in Deutschland (am Internat in Salem) und studierte danach – unter anderem bei Friedrich Kittler – in Freiburg Germanistik, Anglistik und Neuere Geschichte. Zur Promotion ging er nach Kanada. Im Zentrum seiner Forschungsarbeit steht die deutsche Kultur- und Wissensproduktion. Insbesondere die „deutsche Medientheorie“ hat es ihm angetan. Er hat zahlreiche Aufsätze und Schriften Friedrich Kittlers ins Amerikanische übersetzt, darunter auch (zusammen mit Michael Wutz) „Grammophon Film Typewriter“.

Winthrop-Young ist zwar Literaturwissenschaftler, der aber, wie viele seiner Generation, ziemliches Unbehagen an seiner Disziplin empfindet, und sich vornehmlich für Medien interessiert. Allerdings bezeichnet er sich selbst nicht als Medientheoretiker oder Medienwissenschaftler, sondern eher als jemand, der beobachtet, wie andere Leute Medien beobachten. Derzeit arbeitet er an einem längeren Projekt über Medien, System und kulturelles Gedächtnis. Seine jüngste Veröffentlichung (Junius Verlag, Hamburg, Herbst 2005) war eine Einführung in das Werk Friedrich Kittlers. Sie ist auch Anlass für das Gespräch.

Geoffrey Winthrop-Young. Foto: Rudolf Maresch

Aus den intellektuellen Debatten der letzten Jahrzehnte scheint die heiße Luft vorerst raus zu sein. Gilt diese Beobachtung auch für Amerika? Herrscht dort auch business as usual?

Geoffrey Winthrop-Young: Du hast wahrscheinlich mitbekommen, dass die New York Times zum Tode Jacques Derridas einen erstaunlich schäbigen Nachruf veröffentlich hat (Jonathan Kandell, Abstruse Theorist), der eine Flut von Protestschreiben ausgelöst hat. In vielen dieser Briefe klang hinter der Entrüstung über diesen Schrieb (sowie auch darüber, dass er ausgerechnet in der noblen Times erschienen war) die Besorgnis an, solche, von wenig Sachverstand getrübten Schmähungen könnten die bitteren, eben erst eingedämmten culture wars der 1980er und 1990er wieder entfachen.

Das wirklich Schlimme an dem Nachruf, das ließ sich beispielsweise dem Brief Judith Butlers entnehmen, war aber weniger seine polemische Ignoranz als seine Unzeitgemäßheit; skandalös war nicht die Verunglimpfung Derridas, sondern die Verletzung der Feuerpause, die seit Ende der 1990er herrscht. Für mich war das ein kleines Aha-Erlebnis: Wo solche apotropäischen Beschwörungsrituale um sich greifen, ist die heiße Luft tatsächlich raus. Wobei viele – darunter auch manche frühere Heißluftproduzenten – sofort hinzusetzen würden, dass ihr Entweichen ein begrüßenswertes Ereignis darstellt, denn es ermöglicht uns, wieder auf den kühleren Boden der Tatsachen zurückzukehren.

Das ist aber nicht business as usual. In Sachen Theorie ist business as usual gerade das Wechselspiel zwischen Bewegung und Ruhe. Oder ganz schnöde: Im universitären Universum besteht Theorie aus der betrieblich organisierten Auseinandersetzung zwischen Beamten und Schaumschlägern; und im Moment haben die Beamten das Wort. Das gehört zum Theoriebetrieb wie das Gelbe zum Ei; so wie es auch ganz normal ist, dass oft gerade aus den wildesten Schaumschlägern die gründlichsten Beamten hervorgehen.

Alteuropa verliert seine Deutungsmacht

Welchen Stellenwert besitzt dabei mittlerweile der europäische Diskurs? Besitzen French Theory oder die Kritische Theorie noch jenen Einfluss, den sie früher mal in den Humanities gehabt haben?

Geoffrey Winthrop-Young: Ist die so genannte „French Theory“ wirklich ein „europäischer Diskurs“? – French Theory ist ein beliebig dehnbares Schleppnetzlabel, mit dem so ungefähr alles, was seit 1965 in Frankreich denkerisch auf die Beine gestellt worden ist, in den USA eingefangen und auf eine Weise verarbeitet wurde, die in Frankreich oftmals ziemliches Erstaunen verursacht. Das heißt nicht, amerikanische Theorieimporteure seien dumm oder gar bösartig; das ist anderswo (auch in Frankreich) nicht anders. Es ist nur ein Indiz dafür, dass akademische Kreise frei nach Niklas Luhmann bzw. Jakob von Uexkuell im Großen und Ganzen geschlossene Systeme sind, die dazu neigen, Irritationen aus anderen Theoriesystemen nach ihren je eigenen, systeminternen Vorgaben wahrzunehmen und zu verarbeiten. Große Teile des französischen Poststrukturalismus konnten ja nur deshalb in den USA so erfolgreich Fuß fassen, weil sie sich so gut an die Praktiken des „New Criticism“ anschließen ließen.

Doch direkt zu deiner Frage. Die erste, instinktive Antwort lautet: Nein, sie haben ihre frühere Bedeutung eingebüßt. Andere Ansätze und Basistheorien – an vorderster Stelle das, was man im weitesten Sinne postcolonial theory nennt – sind hinzugetreten, was zwangsläufig den Stellenwert der bereits ansässigen Diskurse vermindert. Bedingt durch ethnische und demographische Umschichtungen, die sich zunehmend auf universitärer Ebene bemerkbar machen, sind auch andere theoretische Weltgegenden hinzugetreten. Ich denke vor allem an den lateinamerikanischen und den ostasiatischen Raum; es ist nur eine Frage der Zeit, bis Theorien aus diesen Gegenden stärker rezipiert werden. Zwangsläufig wird sich dadurch der Status etablierter Theoriemächte wie Deutschland oder Frankreich vermindern.

Andererseits – und das ist zweite, bedächtigere Antwort – muss man zwischen Bedeutung und Einfluss unterscheiden. Die Bedeutung der sog. French Theory lag in ihrer höchst anregenden Mischung aus Originalität und Skandalträchtigkeit. Sie war Innovation, Impuls und Zankapfel zugleich. Dass sie heutzutage nicht mehr so neu, stimulierend oder umstritten ist, heißt aber noch lange nicht, dass sie ihren Einfluss eingebüßt hat. Vielmehr ist sie ein integrierter Bestandteil des kritischen Apparats geworden, den man nicht mehr dauernd angreifen oder verteidigen muss. Als didaktisch aufgearbeitete Lieferanten etablierter Theoriepraktiken, die lernwilligen Erstsemestern eingetrichtert werden, sind Derrida und Foucault heutzutage vielleicht wirksamer, als sie es zur Zeit der Kulturkriege je waren.

Und wie steht es um die Kritische Theorie, um Habermas, der nach wie vor Deutschlands bekanntester Theorieexport ist? Oder, um das gleich nachzuschieben, um ihren langjährigen deutschen Gegenspieler, um die Systemsoziologie? Ist Luhmann jenseits des Atlantiks überhaupt ein Thema?

Geoffrey Winthrop-Young: Mit der amerikanischen Rezeption der Kritischen Theorie ist das so eine Sache. Auf den ersten Blick nimmt sich ihre Lage recht günstig aus. Weil sie ab 1933 rund anderthalb Jahrzehnte lang in den USA ihr Hauptquartier hatte und viele ihrer führenden Vertreter nach dem Krieg nicht nach Deutschland zurückgekehrt sind, gab und gibt es austauschförderliche deutsch-amerikanische Netzwerke, welche Gegner zuweilen mit den transatlantischen Tentakeln von Daimler/Chrysler vergleichen. Es gibt keinen lebenden deutschen Denker, der in Nordamerika so präsent ist wie Habermas; es gibt vermutlich keinen Denker, lebend oder tot, der so kanonisiert ist wie Walter Benjamin; und mit den jährlichen Beiträgen zu Adorno kann man einen halben Winter lang das Zimmer heizen.

Freilich ändert sich die Lage, wenn man etwas genauer hinschaut. Schon im deutschsprachigen Raum fällt es schwer, sich darauf zu einigen, wofür denn nun genau die Kritische Theorie steht und wer ihr angehört; im transatlantischen Rahmen ist es beinahe unmöglich. Das, was z. B. Marcuse in Berkeley von sich gab, lässt sich mit dem, was in Frankfurt gelehrt wurde, manchmal nur schwer in einen Topf werfen.

Hinzu kommt, dass die erste, größere amerikanische Aufnahme von Horkheimer und Adorno im Rahmen der Auseinandersetzungen innerhalb der New Left stattfand, was gewisse Rezeptionsverunstaltungen zur Folge hatte. So konnte es geschehen (der junge Frederic Jameson hat sich diesbezüglich besonders hervorgetan), dass Horkheimer und Adorno dazu eingesetzt wurden, eine an Lukács ausgerichtete Position zu stärken, was in Deutschland kaum denkbar gewesen wäre und Adorno sich auch tunlichst verbeten hätte.

Später neigte die Rezeption dazu, Habermas auf der einen und Adorno und Benjamin auf der anderen Seite gegeneinander auszuspielen. Und mal ganz abgesehen von der Frage, ob und in welchem Maße Benjamin überhaupt der Kritischen Theorie angehört – sowohl er als auch Adorno sind vor allem in den 1980er Jahren (und erneut aufgrund amerikanischer Binnenstreitigkeiten) in die Nähe des „New Historicism“ und bestimmter poststrukturalistischer Positionen gerückt worden, die sich ebenfalls nur schwer mit dem vertragen, was gemeinhin Kritische Theorie genannt wird.

Und last but not least gibt es hier die sogenannte dritte Generation der Kritischen Theorie nicht; das heißt, um an Peter Sloterdijk anzuschließen, jene Riege aus Rundfunk- und Zeitungsredakteuren, Kulturbeamten und Feuilletonisten, welche die Kritische Theorie auf Sonntagsbeilage getrimmt unters Volk bringen. Kurzum, es gibt einige herausragende Bäume, aber sie vereinen sich nicht zu einem Frankfurter Wald.

Was Luhmann betrifft: Der ist, fürchte ich, nach wie vor ein Prophet, der nur in seiner Heimat wirklich etwas gilt. Natürlich wird er ab und an zitiert, angeführt, besprochen; doch es besteht ein ziemliches Missverhältnis zwischen dem großen verlegerischen und übersetzerischen Engagement, das Stanford und ausgezeichnete Kommentatoren wie Dirk Baecker und Bill Rasch an den Tag gelegt haben, und der letztlich geringen Breiten- und Tiefenwirkung.

Warencharakter der Theorie

Kannst du uns vielleicht einen Grund dafür nennen? Warum kommt Luhmann in Amerika nicht an?

Geoffrey Winthrop-Young: Das ist eine Frage, über die ich mir seit einiger Zeit den Kopf zerbreche. Ausgerechnet Luhmann, der Höhenkammtheoretiker par excellence, scheint sich gut dazu zu eignen, die Senkgruben und Niederungen transnationaler Rezeptionsvorgänge auszuleuchten, die ja nach wie vor recht abgehoben dargestellt werden. Man liest dann von der Anschließbarkeit oder der Inkompatibilität kulturspezifischer Theorietraditionen, von besetzten oder unbesetzten theorieökologischen Nischen, vor allem aber von der bewussten, reichlich reflektierten Übernahme oder Ablehnung eines Theorieangebots.

Ich will nicht leugnen, dass das alles dazu gehört und vor allem dann eine Rolle spielt, wenn ein Theorieangebot Fuß gefasst hat und in aller Ruhe inspiziert werden kann – so wie im Falle der Kritischen Theorie. Doch in der Frühphase treten andere Faktoren hinzu. Hier geht es um das Problem, in einer gestressten, von immer größerer Konkurrenz beherrschten Aufmerksamkeitsökonomie eine erfolgreiche Initialzündung vorzunehmen. Rezeption ist eben nicht nur ein Gipfelgespräch unter kritisch räsonierenden Beobachtern, es ist ein sehr konkreter Arbeitsprozess, der einschneidenden ökonomischen, zeitlichen, sprachlichen und psychologischen Einschränkungen unterliegt.

Und Theorie ist eben nicht nur ein höheres Geisteserzeugnis, es handelt sich auch um eine Ware, die nach den Gesetzen des Marktes verhökert werden muss. Wer über Rezeption und Theorieimport reden will, der darf von Materialitäten, Mode und Marketing nicht schweigen. In diesem Sinne ein paar halbreife Ideen zur Nichtankunft Luhmanns in den USA:

  1. In einem außergewöhnlichen Maße verweigert sich Luhmann jenem rezeptions- und importförderlichen Werkzeugkastenzugang, der bei Foucault oder Benjamin so gut funktioniert. Sein theoretischer Apparat ist derart in sich verknotet und verschachtelt, dass man nicht einfach hineingreifen und Dieses oder Jenes herauslösen kann. Gibt man Luhmann den kleinen Finger, will er gleich den ganzen Arm. Kennenlernen und Verarbeiten dieser Theorie erfordern vor allem in der Zündphase der Rezeption einen Zeitaufwand, der auf viele abschreckend wirkt und den sich viele schlicht nicht leisten können. Dieser Eindruck ist ungewollt durch die Entscheidung verstärkt worden, sich in erster Linie auf die Übersetzung der großen Genitiv-Wälzer („Das X, Y oder Z der Gesellschaft“) zu konzentrieren, während die kleineren Perlen Luhmanns, die Aufsätze in den Bänden über Gesellschaftsstruktur und Semantik und Soziologische Aufklärung, eher vernachlässigt wurden.
  2. Luhmann bietet keine der archimedischen oder gnostischen Pathosformeln, die, so lehrt es die Erfahrung der letzten vier bis fünf Jahrzehnte, die beste Voraussetzung für eine erfolgreiche amerikanische Aufnahme darstellen. Weder erarbeitet die Theorie einen (archimedischen) Ansatzpunkt, von dem aus man das System – sei es brachial, sei es mit zwanglosem Zwang – aus den Angeln heben könnte, noch bietet sie eine harte (gnostische) Einsicht in den heillosen Zustand der Welt, die aber denen, welche diese Einsicht verinnerlicht haben, den elitären Stolz erlaubt, nicht so naiv zu sein wie die blinde Restmenschheit, die sich noch an irgendwelche Glücksversprechen klammert. Vor allem bietet Luhmanns Theorie keinerlei Möglichkeit, diese Pathosformeln zu vereinigen und zwischen ihnen zu changieren, was bei der außerordentlich erfolgeichen Rezeption von Benjamin und Foucault, aber auch jüngst in geringerem Umfang bei Hardt/Negri oder Agamben eine große Rolle gespielt hat. Meiner Erfahrung nach wirken viele seiner Texte auf viele Studenten hier wie überlange Kubrick-Filme, ein Germish aus abweisender Perfektion und fast schon bürokratisch unterkühlter Leblosigkeit. Und das zündet in Nordamerika nicht. Es gibt hier keine Tradition, die man – überspitzt ausgedrückt – das Pathos der Beobachtung nennen könnte.
  3. Albrecht Koschorke hat mal sehr schön darauf hingewiesen, dass die Luhmannsche Systemtheorie im Kern eigentlich immer noch die Verwaltungswissenschaft ist, als die sie begann. In der Tat: All diese tiefschürfenden Analysen über systemspezifische Codierungen, Inklusionen und Exklusionen, Interpenetrationen und strukturelle Kopplungen: Ist das nicht der Versuch, ein für alle mal festzulegen, zu welcher Tageszeit welcher Bittsteller auf welchem Korridor Zugang zu welchem Beamten hat? All die hochkomplexen Kommunikationen zur Kommunikationslosigkeit: Geht es nicht darum, sicher zu stellen, dass diese Beamten und ihre herrlichen Werke, die kein Außenstehender je zu ergründen vermag, künftig noch weniger gestört werden? Koschorkes verwaltungstechnische Konkretisierung ist Teil einer kulturwissenschaftlichen Entzauberung Luhmanns, die seinen Luhmanns flächendeckenden Abstraktionen oft sehr konkrete Anliegen, Umstände, Bedingungen oder Vorurteile aufdeckt. Es gibt für das, was Luhmann hier betreibt, eigentlich noch kein Wort. Ich nenne es mal sehr ungeschickt Zu-Abstrahieren. Es funktioniert so: Man nehme eine historische oder geistesgeschichtliche Entwicklung und reduziere die einzelnen diskreten Abschnitte auf bestimmte logische Widersprüche und Kontingenzen, so dass Abschnitt n+1 als Antwort auf die inneren Widersprüche von Abschnitt n erscheint. Das erlaubt Luhmann, die eigene Theorie, wenn nicht als endgültigen Abschluss, so doch zumindest als das fortgeschrittenste Glied einer logischen Sequenz zu präsentieren. Denn was er zu sagen hat, enthält entweder die Lösung der entsprechend arrangierten früheren Widersprüche oder macht zumindest fruchtbareren Gebrauch von ihnen. Ähnlichkeiten mit Hegel sind weder zufällig noch ungewollt. (Mir persönlich ist dieses Schema vor allem im Zusammenhang mit Luhmanns machiavellistisch raffiniertem Ge- und Missbrauch darwinistischer Evolutionstheorien aufgefallen.) Wenn man freilich diese Abstraktionen wieder mit historischem Gehalt füllt, dann merkt man auf einmal, dass Luhmann sich letztlich in einer sehr kontinentalen Philosophietradition bewegt; und einzig sein komplexes „Zu-Abstrahieren“ ermöglicht den Anschein, über diese Tradition hinaus zu sein. Kurzum: Gerade in ausländischen Beobachteraugen entpuppt sich Luhmann als Repräsentant genau dessen, wovon er sich abzusetzen versucht: des Denken Alteuropas, wenn nicht gar Altdeutschlands. Kein Wunder, dass anderswo die Frage aufkommt, warum man sich intensiver mit ihm beschäftigen soll.
  4. Das alte Problem mit dem Übersetzen. Ich will auf keine Fälle den einfältig-provinziellen Kehrreim anstimmen, man könne Leute nur im Original richtig verstehen. Aber man muss sich immer vor Augen halten, wie sehr der Übersetzungsvorgang Autoren die Möglichkeit zur Selbststilisierung beschneidet, die für das (Selbst)Verständnis ihrer Theorie oft unabdingbar ist. Das eklatanteste Beispiel ist Nietzsche. Liest man Nietzsche auf Englisch, dann klingt er eben nicht wie Nietzsche, sondern eher wie ein verklemmter Oberstudienrat, der versehentlich LSD geschluckt hat, euphorisch durch seinen Schrebergarten schreitet und sich einbildet, ein donnernder Prophet zu sein, der in fernen Eiswüsten allerlei Weltumwälzendes verkündet. Im Falle Luhmanns hat der sehr redliche Versuch, seine Texte in der Übersetzung zugänglich(er) zu machen, zu einer merklichen stilistischen Verflachung geführt. Zum Beispiel neigen viele Luhmann-Übersetzer dazu, Aktivsätze voller we und our zu benutzen, wo Luhmann im Original sehr bewusst man und/oder ausladende, unpersönliche Passivkonstruktionen bevorzugt. Durch die Hintertür der Übersetzung schleicht sich das von der Theorie verfemte Subjekt wieder rein. Aber ich habe keine Ahnung, wie man das besser machen könnte. Entweder man hält sich streng an den Stil des Originals und produziert (wie etwa im Falle vieler Heidegger-Übersetzungen) ein holpriges Gemisch. Oder man zieht Luhmann im Interesse allgemeiner Zugänglichkeit den stilistischen Reißzahn. Aber dann klingt er eben nicht wie Luhmann, sondern nur wie der nette Onkel aus Bielefeld, der nicht recht gelernt hat, sich kurz zu fassen.

Merkwürdig ist nur, dass beispielsweise Zizek, der oft nicht weniger verkopft schreibt, in Amerika relativ gut ankommt und sogar eine leidlich funktionierende Fangemeinde um sich versammelt hat.

Geoffrey Winthrop-Young: Zizek hat auf alle Fälle einen größeren Unterhaltungswert. Hat Luhmann jemals so schöne Verbindungen hergestellt zwischen Lacan, der Antigone des Sophokles und Stephen Kings Friedhof der Kuscheltiere? Ganz zu schweigen von Zizeks Versuch, tiefer liegende kulturelle Differenzen zwischen Frankreich, Deutschland und Anglo-Amerika an der Form ihrer unterschiedlichen Kloschüsseln festzumachen. Zu philosophischen Örtchen dieser Art ist der Systemtheorie bislang wenig eingefallen.

Nein, Zizek ist wirklich in einer ganz anderen Position: Bei aller klabauterhaften Originalität bewegt er sich doch in etablierten Bahnen. Seine Hintergründe, von Hegel bis zum Poststrukturalismus, sind ja auch hier verbreitet, also finden viele seiner Texte (die sich zudem, wie die Baudrillards, oft direkt auf amerikanische Phänomene beziehen) zumindest in theoretisch ähnlich ausgerichteten Kreisen rasch Anschluss. Anders als Luhmann konnte er sich in ein halbwegs gemachtes Bett legen – er hat zwar die Laken abgezogen und alles kräftig verwüstet, aber zumindest waren Gestell, Matratze und Bettzeug schon da.

Der Burggraben zwischen Campus und Volk funktioniert

Kommt Habermas vielleicht deswegen in Amerika so gut an, weil sich sein Kantischer Pragmatismus möglicherweise so gut mit dem amerikanischen Universalitätsanspruch (Stichwort: Wilsonianismus) verträgt, nämlich Vorreiter der globalen Verbreitung von Demokratie und Freiheit zu sein? Und zwar trotz oder gerade wegen aller heftigen Dementis, die Habermas da selbst vortragen würde?

Geoffrey Winthrop-Young: Nein, das wäre eine grobe Entstellung rezeptionsgeschichtlicher Fakten. Habermas ist mehrfach in den USA angekommen, doch immer wieder mit neuen Untertiteln. Die meisten dieser Ankünfte jedoch, ob sie nun von Richard Rorty oder Thomas McCarthy, Seyla Benhabib oder Paul Piccone moderiert wurden, haben sich im Rahmen der umfangreichen Modernitäts- und Rationalitätskritikdebatten abgespielt, also weit ab der machtpolitischen Problematik, auf die du anspielst.

Allerdings höre ich diesen Verdacht nicht zum ersten Mal. Daher frage ich mich, was den Versuch rechtfertigt, Habermas in ein Loch zu zwängen, in das ein Leo Strauss viel besser hineinpasst. Vielleicht gibt es, pauschal formuliert, gewisse Strukturähnlichkeiten zwischen dem großen amerikanischen Problem, wie man mit denen umgeht, die zwar frei sein wollen, darunter aber etwas anderes verstehen als die absolut gesetzte westlich-amerikanische Freiheit, und dem kommunikationstheoretischen Dilemma, wie und ob man die zum Gespräch zulassen kann, die zwar als vollwertige Partner am Gespräch teilnehmen wollen, aber eine grundsätzlich andere Auffassung davon haben, wie dieses Gespräch zu regeln ist und wer überhaupt am Tisch sitzen darf.

Hinzu kommt in beiden Fällen ein heikles Gemisch aus Einzigartigkeit und Universalität. In welcher Grundannahme wurzelt der amerikanische Führungsanspruch? Es ist die Annahme, dass die amerikanische Freiheit, die ja bis in die letzte kleine Dorfparade hinein als Errungenschaft einer historisch sehr spezifischen Entwicklung gefeiert wird, ein allgemein vorbildliches, unbegrenzt übertragbares und daher global erstrebenswertens Ziel darstellt. Der Prozess ist einzigartig, das Ergebnis universell. Und ähnlich, scheint mir, klingt das zuweilen bei Habermas, vor allem, wenn das republikanische Freiheitsverständnis, das sich ja auch einer sehr spezifischen westlichen Entwicklung verdankt, auf Kreise trifft, deren Freiheitsvorstellungen – und dazu gehören auch und gerade Vorstellungen über das Verhältnis zwischen Freiheit und Religion – aus ganz anders gearteten historischen Abläufen hervorgegangen ist.

Meist steht am Ende dieser Begegnung der Fundamentalismusvorwurf. In beiden Fällen fehlt es an einer historischen Selbstrelativierung. Das heißt, es fehlt am Willen, der sehr unbequemen, potenziell selbstzerstörerischen Frage auf den Grund zu gehen, bis zu welchem Grad die Werte-Erträge eines historisch kontingenten Prozesses einen Anspruch auf Universalität erheben können und dürfen. Hier mag es die von dir angedeuteten Strukturähnlichkeiten zwischen Habermas und bestimmten Tendenzen der traditionellen amerikanischen Ideologie geben. Sie aber zu Wahlverwandtschaften oder gar zu Komplizenschaften umzudeuten, wie das manche tun, das ist entweder bodenlos ignorant oder schlicht denunziatorisch.

Hat denn die Irak-Kampagne, der Streit zwischen altem Europa und Amerika, der die transatlantische Drift weiter verstärkt hat, irgendwelche Auswirkungen auf den philosophischen Diskurs gehabt? Zumal Allan Bloom, Camille Paglia u. a. auch schon vorher die „French Theory“ für ein Versiffen der US-Humanities verantwortlich gemacht haben und für ein Zurückbesinnen auf ursprüngliche amerikanischen Werte und Tugenden plädiert haben. Oder ist dieser Konflikt an den geisteswissenschaftlichen Departements vollkommen vorbeigerauscht?

Geoffrey Winthrop-Young: Nein, das ist im Theorienbetrieb ganz sicher nicht der Fall. Die allermeisten meiner US-Kollegen würden – kopfschüttelnd, befremdet, entrüstet oder aufgebracht – die Unterstellung zurückweisen, dass sie mit den antieuropäischen Affekten bestimmter Neocon-Kreise sympathisieren, ja sich sogar von ihnen beeinflussen ließen, zumal besagte Kreise gerade in jüngster Zeit an Einfluss verloren haben. Da haben die Burggräben zwischen Campus und Restwelt ihr Gutes.

Übrigens finde ich es komisch, dass du ausgerechnet Camille Paglia zur amerikanischen Tugendwächterin erhebst. Das wirft ein ganz neues Licht auf Sexual Personae und ihre Madonna-Exegesen. Aber ernsthaft: In den gegenwärtigen Debatten über die transatlantische Entfremdung steckt viel historisch kurzsichtige Leitartikeldramatik, die einen Hauskrach zu einem Strindbergschen Geschlechterkrieg hochstilisieren will. Antieuropäische Affekte sind ein unabdingbarer Bestandteil amerikanischer Außenpolitik. Es gibt sie spätestens seit 1776, und die gegenwärtige Verstimmung nimmt sich harmlos aus im Vergleich zu früheren Anfeindungen. Historisch gesehen erwächst Amerikas kulturelles Selbstverständnis ja zu einem maßgeblichen Teil aus der Auseinandersetzung zwischen den zwei Positionen, die Amerika der Alten Welt gegenüber eingenommen hat und immer noch einnimmt. Nennen wir sie der Kürze halber Revolution und Reformation.

Revolution heißt: Man setzt sich mit alttestamentarischem Posaunenknall ab und verlässt das groteske Gestell aus Fabrik, Bordell und Zuchthaus, das sich Europa schimpft; man segelt über das große freie Wasser, kappt alle Nabelschnüre und entwirft eine gänzlich neue Welt, an der gerade das gut ist, was nicht europäisch ist, derweil Alteuropa im eigenen Morast ersäuft. Dieser Impuls setzt sich politisch um in der misstrauischen Verachtung eines Europas, das weder sich selbst noch anderen zu helfen weiß. Reformation, das ist hingegen der Versuch, das gute alte Europa mit aufs Schiff zu nehmen und in der neuen Welt zu heilen; es ist die Überzeugung, dass ab der Mayflower das bessere Europa ausgewandert ist, welches es vor dem zurückgebliebenen schlechteren zu schützen gilt. Die Revolution feiert Amerika als kämpferische Alternative, die Reformation sieht es als hegendes Archiv. Und zu letzterem gehören auch die Bücher von Allan Bloom und Paglia, die unter ihrem amerikanischen Firnis festmeterweise europäisches Kulturgut verwalten. Ihre Texte sind keineswegs anti-europäisch, im Gegenteil, sie legen Zeugnis ab vom Auftrag Amerikas, das große alteuropäische Kulturerbe vor neueuropäischen Geistesvandalen zu schützen.

Was ist dann aber der Grund für diesen Clash of Civilizations, der sich zwischen Humanities auf der einen und den Bewohnern des Mittleren Westens auf der anderen Seite auftut? Die Neocons mögen zwar an Macht und Einfluss auf die Regierung eingebüßt haben, doch dass sie auch die Meinung eines Großteils der Amerikaner wiedergeben, hat nicht zuletzt der überwältigende Sieg von George W. Bush gezeigt.

Geoffrey Winthrop-Young: Dass viele Akademiker anders denken als die Bürger draußen im Lande, ist ein alter Hut. In einem Land mit derart ausgeprägter Campuskultur ist das unvermeidlich. Neu scheint mir in erster Linie das vom Internet ermöglichte hohe Medienprofil dieses gegenseitigen Misstrauens, etwa in Gestalt der Campus Watch Webseiten oder der größeren Präsenz, mit der beispielsweise David Horowitz sein neues Buch „The 101 Most Dangerous Academics“ anpreisen kann, das die These vertritt, rund 50 000 Professoren betrieben antiamerikanische Propaganda (sein Buch ist zu kurz, um alle ausführlich würdigen zu können, also beschränkt er sich auf die gefährlichsten 101).

Zweitens bezweifle ich, dass Bushs Wahlsieg ein Indiz dafür ist, dass die Mehrheit der Bevölkerung mit den Neocons – und das ist ja eine ziemlich kleine, wenn auch harte und gut organisierte Prätorianergarde im großen gemischten Zirkus der amerikanischen Rechten – übereinstimmt. Sein (keineswegs „überwältigender“) Wahlerfolg verdankt sich anderen Faktoren. Wir besprechen im Seminar gerade Heinrich von Kleists Hermannsschlacht: ein Student meinte, das Stück, nicht die derzeitige US-Außenpolitik, zeige am besten, wie die Neocons agieren würden, wenn sie wirklich die Mehrheit der Bevölkerung hinter sich hätten und am Steuer säßen.

Die Zeit theoretischer Übersättigung

In jüngster Zeit haben die Geisteswissenschaften etliche „Turnarounds“ vollzogen, was hier zu Lande zur Neugründung eine Vielzahl neuer Crossover-Disziplinen geführt hat, von denen Medienwissenschaft, Bildwissenschaft oder Wissenschaftsgeschichte vielleicht nur die prominentesten sind. Wie beobachtet man in Amerika diese Transformationen? Nimmt man das überhaupt wahr? Oder welchen Widerhall finden diese neuen Wissenschaftsformen dort?

Geoffrey Winthrop-Young: Fehlanzeige. Es gibt parallele Entwicklungen, speziell in den vielen Visual Studies- und Media Studies-Programmen, die derzeit wie Kraut aus dem Boden schießen, doch wenn man von spärlichen Ausnahmen absieht, besteht kein spürbares Interesse daran, wie sich diese Transformationen anderswo vollziehen. Es ist schwer genug, Theorien und Theoretiker zu importieren; es ist fast unmöglich, einen produktiven Austausch auf der von dir angedeuteten organisatorisch-reformatorischen Ebene herzustellen. Da kämpft man nicht nur gegen die üblichen Vorurteile, sondern auch gegen die ganze institutionelle Trägheit des Apparats, gegen eine wissenschaftsgeschichtliche Herkunft dieser neuen Disziplinen, die sich mit europäischen Vorgeschichten nicht vergleichen lässt.

Was ist dann in Amerika in den Humanities derzeit en vogue? Was ist dort gerade angesagt, in Mode oder gilt als radical chic?

Geoffrey Winthrop-Young: Das ist so eine Frage, deren Beantwortung einzig die Auswahl zwischen großen und kleinen Fettnäpfchen übriglässt. Entweder stellt man die eigene Ignoranz zur Schau oder man gibt sich krampfhaft originell. Des Spaßes halber habe ich eine kleine Email Umfrage unter berufenen Kollegen durchgeführt. Zurück kam die Antwort: Nichts. Es gibt, so die einhellige Meinung, nichts, von dem man sagen könne, es gelte als so in, hipp, cool oder très chic, dass man es lesen müsse.

Von einer Kollegin kam indes die leicht indignierte Rückfrage, ob Erkundigungen dieser Art nicht von dem ureuropäischen Vorurteil zeugten, Amerikaner seien im Vergleich zu tiefschürfenden Europäern oberflächlich und folgten nur den Gesetzen der Mode. An dem Vorwurf ist was dran; zumindest erlaubt er es, an deine Fragen eine kleine Spekulation anzuhängen, warum im Moment diese vermeintliche Dürre herrscht.

Zuweilen spricht man in Deutschland im Anschluss an Werner Abelshauser von den langen fünfziger Jahren. Das ist eine primär wirtschaftsgeschichtlich orientierte Einteilung. Als Eckdaten gelten 1948/49 und 1966, das zerdehnte Jahrzehnt beginnt also mit der Gründung der Bundesrepublik und der Währungsreform und endet mit der Großen Koalition. Das lässt sich, eingedenk des großen Nachkriegsbooms, auch auf Nordamerika anwenden. Nun folgen in den USA – streng nach der Regel, dass der Überbau der Basis langsam aber sicher hinterhertrödelt – im direkten Anschluss an die langen 1950er Jahre des konjunkturellen Aufschwungs die langen 1970er Jahre des Theoriebooms, die weit darüber hinausreichen.

Der Beginn (François Cusset spricht zu Recht vom événement fondateur) ist die Johns Hopkins-Konferenz im Jahre 1966. Freilich gilt für diesen amerikanischen Theorieboom, was auch schon auf den wirtschaftswunderlichen Aufschwung der deutschen Nachkriegsjahre zutraf: Beiden liegt ein historisch sehr exklusives Zusammentreffen von Angebot und Nachfrage, Einsatzbereitschaft und Arbeitskräftepotential, Aufbaumöglichkeit und finanzieller Hilfestellung zugrunde. Der Theorieboom verdankt sich einem stimulierenden Rendezvous von steigenden Studentenzahlen, expandierenden Universitäten und einer entfesselten Theorienachfrage (wobei letztere direkt mit dem Verenden des New Criticism wie auch mit dem Bewusstsein zusammen hing, Europa gegenüber in Sachen Theorie spürbar im Rückstand zu sein).

Das aber sind einmalige Ausgangsbedingungen. Das gab es nur einmal, das kommt nicht wieder. So sehr ich dazu neige, deine Hinweise auf transatlantische Verstimmungen historisch zu relativieren, so sehr glaube ich, dass diese nachlassende Theorieimportbereitschaft einen kleinen Epochenwechsel markiert. Und so sehr es mir widerstrebt, die unvermeidlichen Metaphern aus dem Stoffwechselbereich zu aktivieren, hier treffen sie zu: Der akademische Theoriebetrieb hat einen Sättigungsgrad erreicht, der eine längere Verdauungszeit nötig macht. Wir sind in einer letztlich demographisch vorgegebenen Phase der Konsolidierung, die mit der fortschreitenden Institutionalisierung des vormals so skandalösen Poststrukturalismus, der Sichtung, Einverarbeitung und Veralltäglichung der Provokationen und esoterischen Radikalismen der letzten Jahrzehnte und einem Generationenwechsel zu tun hat. Und das ist völlig normal. Nur sehr weltfremde Theoretiker träumen von einer permanenten Diskursrevolution, aber nicht mal sie könnten in einer leben.

Ende von Teil 1: Im zweiten Teil des Gesprächs geht es vor allem um Friedrich Kittlers „Aufschreibesysteme“, seine diskursgeschichtliche Einordnung sowie die akademischen Folgen, die seine Schriften auf die deutschen Geisteswissenschaften ausgeübt haben.