Heute Abend im Fernsehen: Alles

Videoüberwachung neuer Qualität: in London sollen Bewohner ihr Viertel selbst beobachten

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James Morris ist stolz: „Ehrlich gesagt hat mich dieses Interesse selbst überrascht!“ Seit im Januar die Pläne von Shoreditch Trust, einem Londoner Wohlfahrtsverband, bekannt wurden (s.a. Blair will "antisoziales Verhalten" ausrotten), kann sich der Vorstandsvorsitzende der Anfragen von Journalisten und Stadtpolitikern kaum erwehren. Sogar aus dem Ausland kommen interessierte Anrufe – kein Wunder, denn was Morris plant, ist weltweit einzigartig: Bald sollen bis zu 20.000 Menschen Zugang zu den Aufnahmen von Überwachungskameras erhalten und von ihren heimischen Fernsehgeräten und Computerbildschirmen aus ihre Nachbarschaft beobachten.

„Das East End war dafür bekannt, dass die Menschen hier aufeinander aufgepasst haben“, glaubt Morris. „Heute sind die Menschen so beschäftigt mit ihrem Berufsleben, dass es einfach weniger Gemeinschaftsgefühl gibt. Und wir bringen das zurück, mit Hilfe moderner Technik.“ Der gemeinnützige Vereins soll Shoreditch wiederaufwerten. Das Viertel ist Teil des Londoner East End, geprägt von Arbeitslosigkeit, Verarmung und Kriminalität, gleichzeitig aber auch eine attraktive Gegend in unmittelbarer Nähe des innerstädtischen Bankenviertels. Der Etat von Shoreditch Trust ist dementsprechend beeindruckend: Über 60 Millionen Pfund hat der Verein bis zum Jahr 2010 zur Verfügung, bezahlt vom britischen Staat und der Regionalförderung der Europäischen Union.

„Es geht darum, die Leute wieder zusammenzubringen!“ Deshalb bietet der Verein nun ein lokales Fernsehprogramm namensShoreditch Digital Bridge (SDB) an. „Heute Abend kommt im Fernsehen alles!“, lautet der Werbespruch für dieses Angebot, und tatsächlich kommt Morris aus dem Aufzählen der verschiedenen Angebote kaum heraus: „Schüler können mit ihren Lehrern kommunizieren und Hausaufgabengruppen bilden; die Eltern können feststellen, ob ihre Kinder tatsächlich in der Schule sind; man kann seine Sozialleistungen berechnen lassen; ärztliche Beratung; selbstgedrehte Filme … .“ Und das alles für knapp 4 Pfund im Monat.

Während der jetzt laufenden Testphase können zunächst 1.000 Haushalte dieses Angebot nutzen. Erklärtes Ziel ist, mit Hilfe eines Crime Channels die Zusammenarbeit zwischen Bewohnern und Polizei zu verbessern. Neben allgemeinen Ratschlägen und Informationen stehen die Zuschauern Echtzeitübertragungen von elf Kameras in ihrer Gegend zur Verfügung. Sie sind aufgefordert, Verdächtiges sofort der Polizei zu melden. Was für Delikte denn so bekämpft werden sollen? Morris bleibt vage: „Drogenhandel, potentielle Überfälle und so was...“ Weiterhin gibt es im Crime Channel eine Galerie von Anwohnern, die in der Vergangenheit auffällig und deshalb mit Verhaltenauflagen belegt wurden. “Naming and shaming“ nennt sich diese Strategie, die in den letzten Jahren in Großbritannien immer beliebter wird.

„Wir sind davon überzeugt, dass sie das nicht zum Voyeurismus benutzen werden“, versichert Dan Hodges, Pressesprecher von Shoreditch Digital Bridge. Überhaupt gehe es auch um das subjektiv größere Sicherheitsgefühl. Aber Kritiker sind entsetzt über dieses Vorhaben. Etwa William McMahon, Direktor der Crime and Society Foundation, einem Forschungsinstitut, das sich mit Kriminalität und ihren Ursachen beschäftigt:

Durch dieses Projekt wird das Strafrechts in den Alltag ausgedehnt. Warum sollen Anwohner etwas tun, was Aufgabe der Polizei ist?

Und Andrew Mackay von der Bürgerinitiative ASBO Concern:

Wir befürchten unter anderem Selbstjustiz, wenn auf den Bildschirmen zum Beispiel Bettler zu sehen sind. Dieses Projekt ist geradezu eine Aufforderung, das Gesetz in die eigenen Hände zu nehmen.

Shoreditch Trust betont dagegen, die Idee stamme von den Bewohnern selbst. Man komme nur einem Bedürfnis der Menschen selbst nach. „Natürlich geht es auch um Neugier“, gibt Morris zu, „andererseits ist das für die Menschen eine Möglichkeit, sich bei der Kriminalitätsbekämpfung einzubringen!“

Die vier Straßen um die Haberdasher Estates wirken wie viele englische Straßen, die vom sozialen Wohnungsbau geprägt sind. Ein einzelnes Hochhaus, daneben ein langgestrecktes vierstöckiges Gebäude mit Innenhof und Garagen, das einen neuen Anstrich nötig hätte, ein paar renovierte Häuser mit kleinen Läden dazwischen. Es ist ein ruhiger Nachmittag. Unten bei den Garagen langweilen sich ein paar Kinder, misstrauisch schauen sie dem Fremden nach.

„Ja, von diesen Kameras habe ich gehört“, meint ein alter Mann, in dessen freundlichem Lächeln einige Zähne fehlen, „interessiert mich aber nicht. Ich seh’ sowieso lieber Fußball.“ Die meisten in dem Wohnblock bezweifeln, dass sie die Kameras langfristig nutzen werden. „Es geht ja mehr um Abschreckung“, meint John, der kürzlich seine Wohnung hier gekauft hat. „Damit diese Leute sich nicht asozial verhalten, weil sie beobachtet werden. Aber werde ich wirklich stundenlang die Garagen beobachten? Bestimmt nicht.“ „Das ist ne gute Sache“, meint Lisa. Findet sie denn nicht, dass ihr Privatleben durch die Maßnahme eingeschränkt wird? Sie lacht: „Ich kümmere mich um mich und meine Familie, ich gehe arbeiten und ansonsten bleibe ich zuhause. Wer soll das interessant finden?“