"Großmutter, warum hast Du so lange Zähne?"

Ist Benedikt XVI. ein Wischiwaschi-Papst oder doch ein Wolf im Schafspelz?

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Als am 19. April 2005 um 17.50 Uhr aus dem Schornstein der Sixtinischen Kapelle zu Rom weißer Rauch aufstieg, nannte sich neugewählte Papst nicht Johannes Paul III. Ein erstes von vielen Zeichen der Distanzierung, des Abschieds vom romantischen Charismatiker. Diese Woche ist er 79 Jahre alt geworden, seit genau einem Jahr ist Joseph Kardinal Ratzinger nun als Papst Benedikt XVI. der Führer der Katholischen Kirche. Was hat er getan, wie hat sich die Kirche in diesem Jahr entwickelt?

Auch zum einjährigen Jubiläum setzt die deutsche Jubelpresse ihre distanzlose "Wir sind Papst!"-Euphorie fort. Obwohl über 50 Prozent der deutschen Bevölkerung sich in Umfragen Religion konstant als "nicht religiös" einstufen, und der Rest überwiegend nicht katholisch ist, gilt die Sympathie für den Amtsträger im Vatikan offenbar als patriotische Pflichtaufgabe. Dabei haben Ratzinger/Benedikt, seine Positionen und die von ihm verkörperte Institution keine Lobeshymnen verdient.

Als "Panzerkardinal" war Ratzinger angetreten, als Papst setzt er einstweilen weniger den Akzent auf das Abgrenzende, als auf das Einladende seiner Kirche. Die Zentralbegriffe seiner Reden sind Freiheit, Frieden, globale Gerechtigkeit, er definiert die Kirche als geschmeidigen Global Player und sich selbst als den globalen "spiritual leader". Doch vor dem Spirituellen kommt für diesen Papst die Institution.

Will man Paparatzis Wirken als Papst bewerten, geht es nicht um Religion, schon gar nicht um "die" "Rückkehr" "des" "Religiösen", sondern um die Kirche. Er besitzt hohe organisatorische Führungsstärke, eine Qualität, die Woityla fehlte. Im Gegensatz zu seinem Vorgänger ist Benedikt XVI. zuallererst ein absolutistischer Kirchenfürst, ein Manager des Apparates, ein Staatsmann, kein Volkstribun. Unter diesem Gesichtspunkt sind seine Reden und sein Handeln zu beurteilen.

Der Kirchenfürst zur Kanzlerin?

Johannes Paul II. war ein moderner Reaktionär, Benedikt XVI. ist ein reaktionärer Modernist. Was ist der Unterschied? Der polnische Papst vertrat altmodische voraufklärerische Inhalte in modernem Gewand. Woityla war ein Pop-Papst, aber was er vor hunderttausenden Entrückten predigte, war zutiefst antimodern und warf die Kirche ideologisch hinter das Zweite Vatikanische Konzil zurück. Der jetzige Papst hat Schluß gemacht mit dem Eventstil seines Vorgängers. Er bevorzugt ruhiges Auftreten statt Messianismus, mehr Distanz, mehr Gespräch, weniger Event und Spektakel. Auch der Kölner Weltjugendtag ist hierfür kein Gegenargument, denn er war in Inhalt und vor allem Form ganz und gar das Werk des Vorgängers. Sein Denken ist eines, dass sich auf die Moderne insoweit eingelassen hat, dass es sie zwar als Gegner sieht, aber um ihre Stärken weiß und selbst in vielem von ihr durchdrungen ist.

War Woityla ein Popstar, erinnert Ratzinger in seinen öffentlichen Auftritten an einen leutseligen Landpfarrer. Glaubt man daran, dass hinter der Vorstellung vom Zeitgeist Substanz steckt, könnte man in ihm oberflächlich die fleischgewordene große Koalition erkennen, Arbeit und Bescheidenheit, handwerklich gekonntes, sich selbst zurücknehmendes "Durchregieren" und viel Pragmatismus. Ist Ratzinger also der Kirchenfürst zur Kanzlerin, ein Wischiwaschi-Papst? Vielleicht gilt das auch für Merkel, aber bei Ratzinger jedenfalls kann der nette Schein leicht trügen.

"Hier waltet ein leerer Begriff von Freiheit"

Von Beginn an setzte Ratzinger seine Linie als Leiter der Glaubenskongregation und Großinquisitor fort und positionierte sich in der Tradition des Neozentralismus. Nach ihr wird die Universalkirche allein vom Papst repräsentiert. Aus seinen öffentlichen Reden ist erkennbar, dass der Papst behauptet, dass er der Interpret und zwar der einzige Interpret des Glaubens sei. Die Gegenposition, gegen die hier argumentiert wird, ist "der Relativismus", dessen Kritik sein ganzes bisheriges Wirken durchzieht. Ratzinger zitiert ("Werte in Zeiten des Umbruchs", S.49ff) als deren theoretische Repräsentanten den vor den Nazis emigrierten Rechtsphilosophen Hans Kelsen, und den liberalen US-Philosoph Richard Rorty. Doch seine Kritik des Relativismus - "hier waltet ein leerer Begriff von Freiheit" - meint keineswegs nur den liberalen Atheismus der Mehrheit, er trifft vor allem auch innerkirchliche Kritiker.

Wer die päpstliche Interpretation in Frage stellt, wird des Relativismus beschuldigt. Ratzinger versteht sich als Verkünder einer Christologie von Oben und Religion als eine Gewissheit über die Welt und unseren Platz in ihr, die jedem Zweifel entzogen ist. Dabei hat Jesus nicht gesagt, er sei das Fundament, sondern er sei der Weg. Christentum als Dynamik, nicht Stagnation. Daher gibt es im Rahmen der Kirche auch andere Positionen. Etwa die des italienischen Kardinals Carlo Maria Martini: "Es gibt auch einen christlichen Relativismus" sagte dieser während einer öffentlichen Ansprache, "In vielen Fragen wird erst Gott entscheiden, was richtig oder falsch war."

Durchbuchstabiert wird Ratzingers päpstlicher Absolutheitsanspruch im neuen Katechismus, der im vergangenen Jahr erschien. Dort wendet sich der Papst nicht nur gegen Konsumismus und Relativismus, sondern mit großer Schärfe gegen das Zusammenleben von Unverheirateten, das er als "Vereinigungen ohne Gott" charakterisiert und der theoretisch so geschätzten Freiheit in der Praxis enge Grenzen setzt:

Die verschiedenen heutigen Formen der Zerstörung der Ehe, wie die freien Vereinigungen oder die Ehe auf Probe, bis hin zur Pseudo-Ehe von Personen des selben Geschlechts sind Ausdruck einer anarchischen Freiheit, die zu Unrecht als Befreiung des Menschen hingestellt wird.

Der Verdacht der Theologie gegen die Moderne

In solchen Ausführungen polemisiert Benedikt XVI. gegen Modernität als solche, die gerade durch ein "anarchisches", relativistisches Freiheitsverständnis gekennzeichnet ist. Die dahinter liegende Vorstellung ist die einer allgemeinen Dekadenz. Dafür steht der apokalyptische Titel seines ersten, nach der Papstwahl erschienenen Buches: "Das Europa Benedikts in der Krise der Kulturen." Der Titel bezieht sich nicht auf den Papst selbst, sondern auf den Heiligen Benedikt von Nursia (480-547), einer der Väter des Mönchtums.

Dort kritisiert der Papst die Legalisierung der Abtreibung und das, was ihm ein "Ausschluss der Religion aus dem öffentlichen Leben" ist, das laizistische Staatsverständnis der Trennung von Religion und Kirche, das er im Verzicht auf den Gottesbezug in der Präambel für die EU-Verfassung erkennt. Europa habe eine Kultur entwickelt, "die in einer nie da gewesenen Art Gott aus dem öffentlichen Gewissen ausschließt", schreibt Benedikt. Gottes Existenz werde entweder verneint oder als unsicher dargestellt. demgegenüber verlangt der Papst vom Staat, diese Lehren in ihrer konkreten päpstlichen Interpretation zu schützen.

Solche Modernitätsschelte trifft auch den Ökomenismus, die Zusammenarbeit zwischen den Religionsgemeinschaften, die in der Praxis auch eine zwischen den Kulturen ist. Die päpstliche Verklärung des - christlichen - Europa ist zugleich eine Absage an ein größeres Eigengewicht für die Kirchen Asiens und Afrikas. Folgerichtig hat er den von Johannes Paul II. eingerichteten "Rat für innerreligiösen Dialog" de facto abgeschafft, indem er ihn in den päpstlichen Kulturrat eingegliederte.

Die Politik Papst Benedikt XVI. in seinem ersten Amtsjahr steht für den Verdacht der Theologie gegen die Moderne. So modern man selbst auch sein mag - die Moderne bleibt der Feind, weil sie subversiv gegenüber überlieferten Autoritäten ist, und deren Fundamente längst ausgehöhlt hat. Weil sie Diskussion statt Dezision fordert. Weil sie all die Elemente "anarchisch", "occasionalistisch" ausdifferenziert, die Joseph Ratzinger seit jeher verzweifelt zusammenzuhalten versucht.

Die für sein Papsttum entscheidende Frage der Zukunft wird sein, wie weit sich dieser Papst trotzdem auf die Moderne einlässt. Tut er das nicht, dürfte die Katholische Kirche in vorkonzialiaren Fundamentalismus zurückfallen und in einer globalisierten Welt darüber auseinanderbrechen. Tut er das aber, kann er Dissidenz, Konfliktbereitschaft und Opposition nicht mehr als Sünde ausgrenzen, wird er sich von Heilspolitik verabschieden und sich eine Demokratie ohne Metaphysik vorstellen müssen. So oder so hat sein Gott Benedikt XVI. für die nächste Zeit noch einige harte Prüfungen auferlegt.

Joseph Kardinal Ratzinger: "Werte in Zeiten des Umbruchs. Die Herausforderungen der Zukunft bestehen"; Herder Vg., Freiburg 2005