Darwins Alptraum

Der Stärkere setzt sich durch - und kassiert ab

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In den 60er Jahren wurden im Viktoriasee Nilbarsche zu Versuchszwecken ausgesetzt. Dieser Eingriff brachte das ökologische Gleichgewicht ins Wanken. Binnen kurzer Zeit verdrängte der gefräßige Raubfisch, der fast zwei Meter lang werden kann, alle einheimischen Arten. Heute ist er als Viktoriabarsch ein Exportschlager. Doch das damit erwirtschaftete Geld kommt nicht dem Land zugute, sondern wandert in Waffenkäufe.

Der Viktoriasee ist aus dem Gleichgewicht geraten: Es mangelt an Wasser (Wird der Viktoriasee zum Auslaufmodell?), dafür gibt es zu viele Fische im See. Jedoch nicht zu viele Fischarten, sondern nur eine einzige, den Nilbarsch, der alle anderen weggebissen hat. Der Raubfisch von der Größe eines Kalbes hat die zuvor heimischen, pflanzenfressenden Fische ausgerottet; deshalb wachsen die Algen ungebremst und der See wird trübe und stirbt.

Wenn die russischen Flugzeuge zuviel Fisch geladen haben, stürzen sie beim Start ab (Bild: Arsenal Filmverleih)

Eine ökologische Katastrophe, doch ein ökonomischer Segen für die armen, an den Viktoriasee grenzenden Länder, sollte man annehmen, denn täglich starten große russische Transportmaschinen mit frischem Fischfilet an Bord in die Industrieländer. 500 Tonnen Nilbarsch werden am Tag alleine in Mwanza verarbeitet. Nilbarsch wird als Viktoriabarsch täglich von zwei Millionen Weißen gegessen. Die Fischkarkassen werden verwertet, die Fischköpfe im Land verzehrt. Die Arbeit in den Ammoniakdünsten führt zu Übelkeit und Verlust des Augenlichts.

Dieser so schonungslose wie erschütternde Film zeigt uns die Fratze der Globalisierung

New York Times

Die russischen Flieger kommen zweimal täglich, sie können bis zu 55 Tonnen je Flug laden. Wenn am Flughafen das Funkgerät streikt, wird die Start- und Landungsfreigabe mit einem roten beziehungsweise grünen Scheinwerfer durchgeführt. Doch auf dem Rückflug nach Afrika besteht die Ladung häufig aus Waffen. So hängt die Geschichte des Fisches eng mit den Bürgerkriegen in Zentralafrika zusammen. Dieser florierende globale Handel von Kriegsmaterial und Lebensmitteln hat das Leben der Menschen am Ufer des größten tropischen Sees der Erde radikal verändert.

Französisches Filmposter (Bild: Coop 99)

Der österreichische Filmemacher Hubert Sauper zeigt in seinem 2004 entstandenen, 2005 in die Kinos gekommenen und von einer halben Million Besucher gesehenen und 2006 nun erstmals in voller Länge im mitfinanzierenden Fernsehen zu sehenden, vielfach prämierten Dokumentarfilm "Darwins Nightmare" (in Deutschland: "Darwins Alptraum") den Überlebenskampf der Menschen und stellt die Frage, ob es ihnen im Strudel der Globalisierung mittlerweile ähnlich geht wie den Fischen im Viktoriasee: Nur der "Stärkste" überlebt - ein darwinistischer Alptraum.

Die Idee zu diesem Projekt entstand während der Arbeit am Film "Kisangani Diary", der die ruandischen Flüchtlinge am Beginn des Bürgerkriegs 1997 bis tief in den Dschungel des Kongo verfolgt. Eines Tages sah ich zwei gigantische Frachtflugzeuge auf dem kleinen Flugfeld von Mwanza geparkt, die beide randvoll mit Lebensmitteln bepackt waren. Ein Flugzeug hatte 50 Tonnen gelber Erbsen aus Amerika an Bord, welche die Flüchtlinge in den UN-Lagern ernähren sollten. Der zweite Flieger hob in Richtung Europa ab, mit einem schweren Bauch voller frischer Fischfilets. Die russischen und ukrainischen Piloten wurden bald meine "Kameraden", denn nur mit ihnen konnte ich mich in der Gegend fortbewegen. Schon nach wenigen Bieren und Wodkas erzählten sie mir lachend, dass sie nicht nur humanitäre Hilfsgüter in die Kriegsherde liefern, sondern eben auch das, was der Krieg braucht: Bomben, Minen, Kalashnikovs, Munition...

Dieselben Flüchtlinge, die am Tag gelbe Erbsen gefüttert bekamen, wurden in den tropischen Nächten mit Maschinengewehrsalven niedergeschossen, zehntausende Menschen waren plötzlich nicht mehr da. In den Morgenstunden filmte meine zitternde Kamera die zerstörten Lager und Körper. Eine derartige zynische und hässliche Realität zu kennen, ohne sie gesucht zu haben, war der erste Ansatz zu "Darwins Alptraum", mein bisher größtes persönliches und filmisches Unterfangen.

Regisseur Hubert Sauper (Bild: Coop 99)

Die "Wiege der Menschheit" ist bekannt für ihre weiten grünen Flächen, für ihre wilden Tiere und die schneebedeckten Vulkane im Hintergrund. Gleichzeitig ist diese Gegend das Herz der Finsternis unserer Zeit. Massive Epidemien, Hungersnöte und natürlich die niemals endenden Bürgerkriege passieren beinahe unbeachtet vom Rest der Welt. Diese bewaffneten Konflikte sind seit dem 2. Weltkrieg bei weitem die blutigsten in der Geschichte. Allein im Osten des Kongo sterben täglich ebenso viele Menschen gewaltsam, wie am 11. September 2001 in New York starben. Jeden Tag, das ganze Jahr, findet ein 11. September statt. Wenn nicht total ignoriert, werden die Konflikte oft als Stammeskriege qualifiziert, wie etwa in Ruanda, Burundi oder Sudan. Der wahre Hintergrund ist aber meistens der Einfluss von internationalen Interessen um Rohstoffe.

[...]

In Tansania konnten wir kaum als normales Filmteam auftreten. Um mit den Frachtflugzeugen hin- und her zu fliegen, mussten wir uns mit weißen Hemden, gebügelten Hosen und gefälschten Papieren bewegen, als Piloten verkleidet gingen wir durch die Kontrollen. In den Dörfern sah man selten Weiße, und man hielt uns demnach für Missionare. In den Fischfabriken fürchtete man, wir seien Hygienekontrolleure der EU, und in den Bars der Hotels mussten wir australische Geschäftsmänner darstellen, denn Missionare sieht man dort ungern. Wir waren immer dort, wo man eigentlich nichts zu suchen hat: Im Tower des Flughafens, an welchem die Holzkisten mit den Waffen aus und die Fische eingeladen werden, bei den Prostituierten, wo Kunden gewöhnlich nicht mit Kameras sitzen, an den Fischmüllhalden, zu denen Westler keinen Zutritt erhalten.

Das Ergebnis waren unzählige Tage und Nächte in Polizeistationen und lokalen Gefängnissen. Stundenlange Verhöre von dicken, schwitzenden Offizieren. Checkpoints in der Nacht. Einen großen Teil des Filmbudgets brauchten wir, um uns die Freiheit immer wieder zurückzukaufen. Der Golfkrieg machte unsere Lage in diesem muslimischen Land auch nicht leichter. Noch weniger lustig wurde es, als Eliza, eine der Hauptfiguren im Film, plötzlich von einem ihrer männlichen Kunden erstochen wurde. Nachdem die Weißen bekanntlich alle Brüder vom gleichen Stamm sind, waren wir in den Augen vieler also die Brüder des Mörders ... und man hat uns alsbald verdächtigt, "Blue Movies" mit nackten Mädchen zu drehen. Eines Tages hielt man uns tatsächlich auf einer Insel gefangen, Pässe und Papiere wurden konfisziert. Die nationalen Zeitungen schrieben "Western Journalists Kidnapped on Lake Viktoria". Es war eine Übertreibung der Presse. Aber wieder einmal saßen wir ohne arbeiten zu können auf unseren Kisten, umgeben von ein paar tausend Fischskeletten in der Tropensonne, und versuchten, das langsame Verrücktwerden hinauszuschieben.

Hubert Saupers Anmerkungen zum Kinostart des Films

"Darwins Alptraum" hat seit 2004 eine Vielzahl von Auszeichnungen erhalten, so die als bester europäischer Dokumentarfilm. Er gewann die Hauptpreise bei 19 internationalen Festivals, unter anderem in Venedig, Wien, Silver Spring, Chicago, Tel Aviv, Thessaloniki, Angers und Mexiko. In diesem Jahr wurde "Darwins Alptraum" für den Oscar in der Kategorie Dokumentarfilm nominiert.

Während in Deutschland globalisierungskritische Filme als "links" und "alternativ" eingestuft werden, gelten sie in Frankreich längst als Mainstream, so Sauper, was auch den großen Erfolg von "Darwin's Nighmare" in Frankreich erklärt. Ursache dürfte sein, dass Frankreich traditionell lieber eigene, nationale Projekte auch mit Kolonien auf anderen Kontinenten durchzieht und die Globalisierung folglich völlig unabhängig von sozialen oder Umweltaspekten als schädlich wahrgenommen wird.

"Darwin's Nightmare" könnte ich in Sierra Leone erzählen, nur wäre der Fisch ein Diamant, in Honduras eine Banane, und in Angola, Nigeria oder Irak schwarzes Öl.

Hubert Sauper

Im deutschen Sprachraum brach dagegen beim Kinostart eine Diskussion los, dass der Film unsachlich sei und übertreibe. Konservativere Blätter kritisieren, "der Fisch stinke ein wenig", was ja eigentlich auch die Aussage des Films ist, doch wird dem Regisseur vorgeworfen, selektiv nur die dunklen Seiten der Globalisierungsfolgen zu zeigen und die positiven Aspekte des Fischgeschäfts zu unterschlagen. Ausgerechnet die TAZ wurde noch deutlicher: Sauper weide sich an langen Aufnahmen verfaulender Fischskelette und habe mit seinen abschreckenden Bildern ein neues Genre kreiert, nämlich eine Kreuzung aus Dokumentation und Splatterfilm.

Szenen aus der mit EU-Geldern geförderten Fischverarbeitungsfabrik (Bild: Arsenal Filmverleih)

Mit der Oscarnominierung erreichte diese Diskussion nun auch Frankreich. Hauptvorwürfe dabei: Die Waffentransporte würden nicht mit Fisch bezahlt, sondern seien teils sogar offizielle Hilfsaktionen gegen Putsche gewesen.

Ich bin Filmemacher und ich will mit meinem Medium Zusammenhänge darstellen. Ich habe mit "Darwins Alptraum" einen sehr persönlichen Kinofilm gemacht, keine investigative Fernsehreportage über Fische und Waffenschmuggel.

Hubert Sauper im Arte-Magazin

Sauper bleibt dabei, dass erst die Rückflüge mit Waffen die Fisch-Luftfracht rentabel machten und zudem der "Fall Viktoriabarsch" nur ein Symbol für die überall ähnlich negativen Folgen der Globalisierung sei; anderswo seien es stattdessen Öl, Diamanten oder Bananen, die nur wenige reich und die meisten ärmer machten. Zudem handele es sich zwar um einen Dokumentarfilm, aber keine journalistische Nachrichtensendung. Doch der Waffenhandel lässt sich nicht wegdiskutieren und ebenso unstrittig ist die ökologische Verarmung des Viktoriasees durch das Aussetzen der Raubbarsche; Ursache der harten Kritik sind die aufrüttelnden Bilder des Films, die ihn sehenswert machen und keineswegs übertrieben wirken, sondern im Gegenteil trotz des Drehens mit einer Videokamera von Ausnahmen abgesehen ausgesprochen ruhig und bedacht wirken. Auch die Showelemente, die Michael Moore's Dokumentationen oft fragwürdig erscheinen lassen, sind bei Sauper nicht zu finden

Darwins Alptraum, Dokumentarfilm, Deutschland / Frankreich / Österreich 2004, Original mit deutschen Untertiteln, Regie: Hubert Sauper, 105 Minuten. Erstausstrahlung Arte TV, Montag, den 24. April 2006, 20.40 Uhr, ab 22.25 Uhr Diskussion zwischen dem Regisseur Hubert Sauper und dem afrikanischen Sozialwissenschaftler Monsieur Elikia M'Bokolo, unter Leitung des französischen Filmemachers Pierre-André Boutang. Wiederholung: Montag 1. Mai 2006, Nacht auf den 2. Mai, 00.50 Uhr