Gehirnwäsche der Sonderklasse

Albrecht Müller über die Riesterrente, die Große Koalition und neoliberale Netzwerke

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Albrecht Müller, ehemaliges MdB der SPD, Redenschreiber von Wirtschaftsminister Karl Schiller, Leiter der Planungsabteilung im Bundeskanzleramt unter Willy Brandt und Helmut Schmidt und Initiator des neoliberalismuskritischen Internetforums NachDenkSeiten hat vor zwei Jahren mit dem Buch “Die Reformlüge“ einen Bestseller gelandet, in dem er allgemeinverständlich die zentralen Thesen für einen neoliberalen Umbau des Sozialstaats einer empirischen Untersuchung unterzog und auf schlagende Weise relativierte.

Auch seine neueste Publikation “Machtwahn. Wie eine mittelmäßige Elite uns zugrunde richtet“ ist bereits nach kürzester Zeit in den Bestsellerlisten , ohne dass der Autor die übliche Tour durch großen Talkshows machte. Müller untersucht in „Machtwahn“ den Wahrheitsgehalt der bekannten neoliberalen Dogmen und nimmt sich verschiedene Netzwerke vor, wie etwa die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM), die diese Leitbilder in Deutschland erst gesellschaftlich wirkungsmächtig haben werden lassen.

Etliche “unabhängige“ Autoritäten, die in den Medien als prominente Meinungsführer fungieren, werden auf ihre Verstrickungen mit den Wirtschaftslobbies und neoliberalen Netzwerken hin untersucht, was ein zwiespältiges Licht auf die Wirtschaftswissenschaftler, Politiker und Intellektuellen wirft, die scheinbar selbstlos für mehr Eigenverantwortung und Reformen plädieren und sich dies mit Beraterverträgen, lukrativen Aufsichtsratsposten und dergleichen vergelten lassen.

Das Loch in den Rentenkassen wird ausschließlich mit der Bevölkerungsentwicklung in Zusammenhang gebracht. Dabei wird einiges verschwiegen, wie etwa dass die Rentenkasse seit der Einheit in hohem Maße mit versicherungsfremden Leistungen belastet wurden. Oder dass durch die Fortschritte in der Produktivität die Abnahme der Einzahler kompensiert wird und zudem das Umlageverfahren relativ krisenfest ist und weniger Betriebskosten verursacht als die kapitalgedeckte Rente. Wie steht es mit unserem Rentensystem und seinen Alternativen?

Albrecht Müller: Das Umlageverfahren müsste man erfinden, wenn wir es nicht schon über 100 Jahre hätten. Denn es arbeitet preiswert und sicher. Nach meinen Erkundigungen werden gerade mal 4 % der Einnahmen, also der Beiträge für die Verwaltung aufgewandt. Norbert Blüm spricht von 1,5 %. In jedem Fall verursacht das Einnehmen der Beiträge und das Auszahlen der Renten um vieles weniger Kosten als die privaten Vorsorgesysteme.

Verwaltung und Vertrieb der Riester-Rente nehmen etwa 10 % in Anspruch; das chilenische Modell der Privatvorsorge, das ich in meinem Buch erwähne, weil es eine Art Vorreiterrolle für die Kommerzialisierung der Altersvorsorge spielte, verbraucht 18 % der eingenommenen Versicherungsprämien, andere Systeme 25 %, in Großbritannien bis zu 40%. Diese Kosten fallen an für den Betrieb, für Vertrieb, für Werbung, für Kapitalanlage und Spekulation, für Provisionen und Beratungshonorare und dann auch noch für den Gewinn der Lebensversicherungsunternehmen. Diese Kosten müssen erst einmal verdient werden.

Da muss die Rendite schon sehr hoch sein. Das ist sie aber nicht. Manche der Versicherer spekulieren auf den Aktienmärkten, um auf bessere Renditen zu kommen. Viele haben dabei viel verloren. Das ist der zweite Aspekt: Das Risiko der privaten Vorsorge ist um vieles höher als beim Umlageverfahren. Und dennoch wird die Zerstörung des Vertrauens in die gesetzliche Rente und das Umlageverfahren bei uns massiv weiter betrieben - ohne Rücksicht darauf, was das für die Masse der Menschen bedeutet. Diese waren bisher nämlich auf das Funktionieren der gesetzlichen Rente angewiesen. Wer das Vertrauen zerstört, macht das Funktionieren in Zukunft unmöglich und wird Altersarmut produzieren.

Aber dann sind die Kräfte, die heute die Zerstörung betreiben, nicht mehr im Amt oder es interessiert sie nicht, weil sie von der Politik auf üppig bezahlte Jobs in der Wirtschaft gewechselt sind. Obwohl also alles für die Erhaltung und Stabilisierung der gesetzlichen Rente spräche, wird der massive Umstieg, beziehungsweise die Ergänzung durch private Vorsorge - wie man verharmlosend sagt - betrieben. Der Hintergrund ist einfach zu verstehen. Es geht um viel Geld: wenn es den privaten Lebensversicherern gelingt, nur 10 % des Umsatzes der gesetzlichen Rente, also der eingezahlten Beiträge, auf ihre Mühlen umzulenken, dann erreichen die Versicherungsunternehmen einen Zuwachs von 15 Milliarden pro Jahr.

Bei einem solchen Anstieg lassen sich locker größere Beträge abzweigen: für Werbung - also für Anzeigen, Fernsehspots und Public-Relations Aktionen bei den Medien, für die Einfluss-Arbeit bei Politikern, für Gutachten, Institute und Vortragshonorare für Wissenschaftler. Das alles ist keine graue Theorie, sondern inzwischen gängige und teilweise schamlose Praxis in der Bundesrepublik Deutschland.

BILD, Allianz und T-Online pro Riesterrente

So arbeitet etwa die Bild-Zeitung mit der Allianz AG und T-Online zu Gunsten ihrer Riester-Rente, der so genannten Volksrente der Allianz, zusammen, nicht nur im erlaubten Bereich der Werbung. Auch redaktionelle Beiträge der Bild-Zeitung werden auf die Marketing-Strategie des Kooperationspartner Allianz AG abgestimmt. Monitor hat letzthin diese Absicht, wie sie in einer Schulungsunterlage der Allianz AG für ihre Vertreter formuliert ist, dokumentiert.

Hier wird also das publizistische Prinzip, Werbung und redaktionelle Arbeit zu trennen, bewusst und willentlich gebrochen. Wir alle sind dann Zeugen dieses Bruchs, wenn in der Bildzeitung Schlagzeilen wie „Schrumpfrente“ auftauchen und in Variationen wiederholt werden.

Wer will, kann auch die Interessenverflechtung von wichtigen Teilen unserer Wissenschaft ohne Schwierigkeiten nachprüfen. Ich habe in meinem Buch u.a. dokumentiert, wie zum Beispiel der Heidelberger Finanzdienstleister MLP mit den Professoren Raffelhüschen und Rürup wirbt. Auch die Herren Miegel und Sinn sind als Vortragreisende mit dabei .

Immer wenn ich in den Talkshows erlebe, dass solche Personen als Wissenschaftler vorgestellt werden, muss ich deshalb laut lachen. Die Versicherungswirtschaft beteiligt sich auch an der Finanzierung von Instituten unserer angeblichen Wissenschaftler. So gibt es in Mannheim das Institut mea, das von der Versicherungswirtschaft und dem Land Baden-Württemberg finanziert ist. Im Vorstand sitzen gleich zwei Vertreter des Gesamtverbandes der Deutschen Versicherungswirtschaft GDV. Den Vorsitz hat der Vorsitzende des angeblich unabhängigen Sachverständigenrates, Bert Rürup. Das ist ein gutes Beispiel für die Verflechtung.

Strategie der Zerstörung des Vertrauens

Weil ich in früheren Funktionen als Wahlkampfplaner und als Leiter der Planungsabteilung im Bundeskanzleramt immer wieder an der Entwicklung und Formulierung von Strategien der Politik und Öffentlichkeitsarbeit beteiligt war, kann ich mich sehr gut in die Lage jener Personen und Planungsstäbe versetzen, die für die Versicherungswirtschaft und die Banken die Strategie der Störung und Zerstörung des Vertrauens in die gesetzliche Rente und der Werbung für die private Vorsorge formuliert haben.

Ich bewundere sogar ihre Professionalität, nicht ihr Ziel und nicht ihre Methoden. Aber ihre Professionalität ist Spitze. Wer meint, es gäbe solche Strategien nicht, den muss ich leider naiv nennen In meinem neuen Buch habe ich zur Veranschaulichung und zum besseren Verständnis der Leser eine solche Strategie der Finanzwirtschaft formuliert, ich habe mich dazu einfach in die Lage meiner Kolleginnen und Kollegen Strategieplaner der Versicherungswirtschaft und der Banken versetzt.

Man kann davon ausgehen, dass es eine Doppelstrategie gibt: zum einen den Versuch, politische Entscheidungen anzuregen und auf sie einzuwirken zum anderen die Propaganda in allen ihren Facetten. Die Strategen haben klar erkannt, dass es einiger politischer Entscheidungen bedurfte und bedarf, um die Leistungsfähigkeit der gesetzlichen Rentenversicherung zu mindern und damit das Vertrauen zu zerstören. Ich zähle einige dieser politischen Entscheidungen auf:

  1. Den Rentenkassen wurden die von Ihnen erwähnten versicherungsfremden Leistungen aufgedrückt.
  2. Man hat in den neunziger Jahren sehr viele Menschen in den Vorruhestand entlassen, einvernehmlich zwischen Wirtschaft und Politik.
  3. Man hat gleichzeitig irrationaler Weise die Beitragsgrenzen fixiert, so als sei die Zahl „19,9“ die von Gott vorgegebene Beitrags-Höchstgrenze.

Dies zusammen hat dazu geführt, dass die Leistungsfähigkeit gesunken ist. Es gibt vorerst keine Rentenerhöhungen mehr, real sinken sie.

Ebenfalls eine politische Tat zur Zerstörung des Vertrauens war die kürzlich erfolgte Erhöhung des Renteneintrittsalters auf 67 Jahre. Rational ist diese Entscheidung nicht zu begreifen. Bei heute und in absehbarer Zeit über 5 Millionen Arbeitslosen jetzt eine Entscheidung zur treffen, dass ab dem Jahr 2012 stufenweise länger gearbeitet werden soll, ist bar jeder Vernunft.

Dieser Vorgang bekommt nur dann den Anstrich von Vernunft, wenn man mit einbezieht, dass diese jetzt gefällte Entscheidung das Vertrauen in die gesetzliche Rente weiter schwächen soll und damit den privaten Versicherungskonzernen die Hasen in die Küche treibt. Das ist dann aber keine gesamtgesellschaftliche Vernunft, sondern nur vernünftig aus der Sicht privater Konzerne.

Die Politik macht sich zu ihrem Büttel. Dafür haben wir unsere Politiker allerdings nicht gewählt. Es ist interessant, dass sich unsere Politiker auch direkt in die Propaganda der Versicherungswirtschaft haben einspannen lassen. Sie werben offen und ohne Scham für private Vorsorge. Die Bundeskanzlerin tut es, der Sozialminister Müntefering und die Gesundheitsministerin Ulla Schmidt tun es. Die erwähnten Wissenschaftler tun es. Ich erschrecke jedes Mal, wenn ich das höre, von neuem. Und ich merke: Die Schamlosigkeit hat inzwischen so um sich gegriffen, dass die meisten Menschen schon gar nichts mehr dabei finden, wenn die von ihnen gewählten Politiker und Politikerinnen offen für private Interessen eintreten.

Können Sie noch andere Reformen aufzählen, an denen sich ähnliche Verlaufsformen feststellen lassen?

Albrecht Müller: Ich nenne Hartz IV. Diese Reform hatte aus meiner Sicht in jedem Fall auch das Ziel, das Vertrauen in die Arbeitslosenversicherung zu zerstören. Das ist umfassend gelungen. Bisher sind viele Menschen, auch wenn die Arbeitslosenversicherung zeitlich begrenzt war, davon ausgegangen, dass bei einer einigermaßen vernünftigen wirtschaftlichen Entwicklung ihre eingezahlten Beiträge wirklich wie Versicherungsbeiträge wirken und sie für den Fall der Arbeitslosigkeit wenigstens finanziell abgesichert sind und so die Phase der Arbeitslosigkeit ohne sozialen Abstieg durchstehen können. Mit Hartz IV ist ihnen klargemacht worden - übrigens auch in der Propaganda der Politiker - dass die Arbeitslosenversicherung keine Versicherung ist. Und schon ist das Tor auf für ein neues Geschäftsfeld. Ähnlich wird es bei der Pflegeversicherung laufen, eventuell auch bei der Krankenversicherung.

Als letztes Beispiel in dieser Reihe nenne ich das noch vor der Wahl verabschiedete ÖPP-Gesetz. Es erleichtert die Privatisierung von öffentlichen – meist kommunalen - Einrichtungen und Unternehmen. Das ist ein weiteres lukratives Geschäftsfeld für eine Reihe von privaten Personen und Einrichtungen: für Beratungsunternehmen, für Wirtschaftsprüfer, für Rechtsanwälte, für eine Reihe von Spezialisten des Privatisierungsgewerbes. Hier kommt es offensichtlich nicht auf den Privatisierungserfolg an sondern auf den Privatisierungsvorgang an. Daran wird verdient.

Ich mache auf diesen Vorgang deshalb aufmerksam, weil wir erleben werden, wie die bisher einigermaßen vernünftige Mischung von privater Wirtschaft einerseits und öffentlichen, meist kommunalen, Unternehmen zur Daseinsvorsorge der Erosion preisgegeben wird.

Nicht weil das Sinn macht. Es geschieht, weil einzelne Personen, Gruppen und Unternehmen wie private Versorgungsunternehmen und Banken daran kräftig verdienen.

Unter Helmut Kohl wurde seinerzeit z. B. mit der Privatisierung von Rundfunk und Fernsehen eine ideale Plattform installiert, auf der heutzutage die neoliberalen Netzwerke ihre Heilsbotschaften unter das Volk bringen. Die Regierung Schröder hat dieses neoliberale Credo in einem bisher ungekannten Maß umgesetzt und ist genau dann abgetreten, als sie mit ihrer Politik an die Grenzen ihrer politischen Leistungsfähigkeit gelangt war und eine Diskussion über den tatsächlichen Nutzen der Reformen unausweichlich schien. Mit Schwarz-Rot wird nun wieder nicht über eine Rückkehr zur Nachfragepolitik nachgedacht, sondern es werden im Gegenteil weitere sozialstaatliche Errungenschaften zur Disposition gestellt.

Albrecht Müller: Ich habe in meinem neuen Buch ausführlich dokumentiert, dass insbesondere im Jahr 2005 eine Bilanz des Scheiterns der Reformen nach der andern erschienen. Auch Medien, die bis dahin den Reformkurs Schröders unterstützten, mussten zugeben, dass Hartz I bis III und Hartz IV und all die andern Reformen wenig gebracht und viel gekostet haben. Was viele, auch professionelle Beobachter in Deutschland nicht gesehen haben: Das Neuwahlbegehren von Gerhard Schröder und Franz Müntefering und die Unterstützung dieses seltsamen Begehrens durch Bundespräsident Köhler und das Bundesverfassungsgericht wirkte wie ein Befreiungsschlag für die neoliberale Bewegung.

Ab der Ankündigung von Neuwahlen wurde das Scheitern der Reformen nicht mehr durchschlagend thematisiert. Statt dessen wurde über die nächste Reform geredet. Das war eine Gehirnwäsche der Sonderklasse. Ich spreche auch von Konkursverschleppung.