Genialer Vereinfacher

Hans Magnus Enzensberger setzt den Islamismus kurzerhand auf die Couch, befeuert dabei aber nur eigene Ressentiments

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Was haben Amokläufer und Selbstmordbomber, Robert Steinhauser und Mohammed Atta gemein? – Sie sind allesamt „radikale Verlierer“, die ihr Tun als permanente Niederlage erleben. Das behauptet jedenfalls Hans Magnus Enzensberger in „Schreckens Männer“, einem gerade per Sonderdruck bei Suhrkamp erschienenen Essay, der einen Text ausformuliert, der bereits vor knapp einem halben Jahr unter dem Titel „Der Radikale Verlierer“ im Spiegel (Englische Fassung: The radical loser) zu lesen war und der, bei Lichte betrachtet, nur variiert, was der Autor ein paar Tage nach Nine-Eleven schon in der Frankfurter Allgemeine („Die Wiederentdeckung des Menschenopfers“) und Jahre vorher („Aussichten auf den Bürgerkrieg“) veröffentlicht hat.

Die kraftlose Schönheit hasst den Verstand.

Hegel, Phänomenologie

Motivsuche

Was sie dazu macht und warum ihre Zahl stetig wächst, und zwar weltweit, ist schnell erzählt. Schuld sind, wie sollte es auch anders sein, die Verhältnisse, Weltmarkt, Imperium, Konkurrenz usw. Indem sie Gleichheitserwartungen, Menschenrecht und Menschenwürde, mit Füßen treten und das Versprechen, den Kampf um Anerkennung zu demokratisieren, mit Lügen strafen, trennen sie die Spreu vom Weizen, Gewinner von Verlierern, Erfolgreiche von Versagern, Täter von Opfern.

Immerhin, und Gottseidank für ihre Umgebung, schießen nicht alle, die von Kapitalismus und Globalisierung zu Losern, Überflüssigen oder Taugenichtsen gemacht werden, wild um sich. Um „radikal“ zu werden, auszurasten und mit Pistole, Kettensäge oder Sprenggürtel am Leib auf „die Anderen“ loszugehen, braucht es mehr als das. Laut Enzensberger muss sich dieser Zeitgenosse das Votum derer, die er für Gewinner hält, zu Eigen machen und sich selbst zum „Verlierer“ stempeln.

Richtschnur seines Handelns sind folglich nicht die anderen, denen es besser oder schlechter geht, sondern vielmehr die eigene Befindlichkeit, das empfundene Leiden an der Welt. Es geht daher weniger um Partner oder Rivalen, um Herrn oder Knechte, sondern ausschließlich um einen selbst, darum, dem eigenen Ärger, der eigenen Wut, der eigene Demütigung gewalttätig Kraft und Ausdruck zu verleihen. Filmisch etwa umgesetzt in „Falling Down“ mit Michael Douglas in der Hauptrolle.

Anders als andere Versager, Opfer oder Besiegte, um die sich längst eine Heerschar gut bezahlter Therapeuten, Sozialarbeiter und Kriminologen kümmert, sondert sich der „radikale Verlierer“ zunehmend ab. Er pfeift auf die Wohltaten des Sozialstaates oder des Kollektivs. Unauffällig und zurückgezogen haust er im Verborgenen, in sozialen Nischen, die die liberale Gesellschaft bietet. Dort sammelt er seine Energie und wartet, unbemerkt von seiner Umgebung, auf seine Chance. Schon die kleinste Kränkung oder Demütigung: die Nörgelei seiner Ehefrau, das Quengeln von Kindern, die Kündigung des Arbeitsplatzes, die Verweigerung eines Kredits, die Niederlage seines Lieblingsvereins, können urplötzlich und unvermittelt zur Explosion führen, dazu, dass er seinen Körper zur Waffe formt und zum privaten Weltkrieg gegen sich und andere aufbricht.

Die Publizität, die er während und nach der Tat erfährt, hievt ihn für kurze Zeit aus seiner selbst gewählten Isolation. Für ein paar Tage wird er zur „öffentlichen Person“, man untersucht mögliche Motive, befragt Bekannte und Verwandte oder veröffentlicht Tagebucheinträge und Musikvorlieben, was wiederum andere häufig zur Nachahmung ermuntert.

Dass es sich fast immer um Männer handelt, dürfte eigentlich niemand verwundern. Die Fallhöhe, die ein Loser männlichen Geschlechts hinter sich bringt, ist aufgrund der sozialen Rolle, die er im Anerkennungsdrama der Gesellschaft spielen muss, um ein Vielfaches höher als bei einer Frau. Erlittenen Ansehens- oder Machtverlust zu verarbeiten oder anderweitig zu kompensieren, fällt Männern daher immer noch viel schwerer als Frauen.

Projektion aufs Kollektiv

Sieht man mal von der Tatsache ab, dass sich Enzensberger nicht recht entscheiden kann, ob er eher eine gesellschaftliche oder strukturelle Sicht der Dinge einnehmen will (unter „die“ Verhältnisse subsumiert er nämlich auch Prüfungsordnungen oder vorenthaltene Leistungen), ist an dieser sozialpsychologischen Studie zunächst nicht viel auszusetzen. Jedoch ist sie vielfach schon andernorts formuliert worden und deswegen nicht besonders neu oder gar originell.

Problematisch wird es allerdings, wenn Enzensberger die individuelle Täterperspektive verlässt und den Typus des „radikalen Verlierers“ auf ein Volk, eine Nation oder gar eine Religionsgemeinschaft überträgt. Erneut muss der Nationalsozialismus herhalten, um diesen Perspektivenwechsel, der genau betrachtet ein Platzwechsel ist, zu rechtfertigen. Erst die narzisstische Kränkung von 1918, weiß Enzensberger, sowie das von vielen Deutschen als Schande empfundene Friedensdiktat von Versailles, putscht Hitler an die Macht. Statt nach Kompromissen Ausschau zu halten und den Interessenausgleich mit den Siegern zu suchen, radikalisiert der Nationalsozialismus den Loserstatus des deutschen Volkes und gewinnt die Wahlen. Geschickt spielt er mit den verletzten nationalen Gefühlen und macht die Juden zum Sündenbock. Es ist letztlich Hitlers „Größenwahn“, die die Schmach von Versailles tilgt, sie kompensiert und den „Verliererstatus […] verewigt“.

Ähnliches dichtet Enzensberger nun dem Islamismus an. Auch dieser weiß „radikale Verlierer“ mit seiner Ideologie zu mobilisieren und für das „Phantasma der Weltherrschaft“ zu gewinnen. Zumal es sich um eine Zivilisation handelt, die dem Westen früher kulturell und wirtschaftlich haushoch überlegen war, und die sich auch spirituell für die überlegenere hält. Anders als asiatische Gesellschaften, die auch unter dem westlichen Imperialismus und Kolonialismus gelitten haben, weigern islamische sich bis heute standhaft, die technische und kulturelle Modernisierung, die Aufklärung und Säkularisierung bieten, anzunehmen und zu gestalten. So sind es für Enzensberger letztlich „Wissensdefizite“, die ihren Niedergang beschleunigt haben und dazu führen, dass sie notwendiges Know-how, beispielsweise um eigene Ressourcen ausbeuten, fördern und nutzen zu können oder materielle Infrastrukturen zu verbessern, aus dem Ausland importieren müssen. Aber auch mangelnde Freiheiten im Inland, die zum Brain Drain der technischen Intelligenz führen.

„Alles worauf das tägliche Leben im Maghreb und im Nahen Osten angewiesen ist“, schreibt Enzensberger, „jeder Kühlschrank, jedes Telefon, jede Steckdose, jeder Schraubenzieher, von Erzeugnissen der Hochtechnologie ganz zu schweigen, stellt daher für jeden Araber, der einen Gedanken fassen kann, eine stumme Demütigung dar.“ Das sind Erfahrungen, die laut Enzensberger zu kollektiver Kränkung und Projektion führen und nach Kompensation verlangen. Im Islamismus sammeln sich folglich alle Charakteristika, die den „radikalen Verlierer“ prägen: Versagenserlebnisse, Sündenbocksuche, Realitätsverlust, Rachebedürfnis, Zerstörungslust, Todessehnsucht…

Was den Amokläufer vom Selbstmordbomber unterscheidet ist ausschließlich der Grad der Organisation und die Dimension des Verbrechens. Während jener allein und amateurhaft agiert, hat dieser in aller Regel ein ausgefeiltes Trainingsprogramm durchlaufen, das von potenten Geldgebern finanziert und von einem logistischen Netzwerk unterstützt wird. Hinzu kommt, dass Islamisten die Aufmerksamkeitsökonomie, die Fernsehen und Internet bieten und jede Tat zum Massenspektakel aufbauschen, für ihre Zwecke strategisch zu nutzen wissen.

Eurozentrische Perspektive

Soweit, so gut! Könnte man sagen. Das klingt einfach und griffig. Die Frage ist nur, ob man damit, gemeint ist die europäische Brille, durch die Enzensberger die Dinge in Augenschein nimmt, der Sache auch wirklich gerecht wird. Guckt man sich beispielsweise die Biographien vieler Islamisten und Selbstmordbomber an, die von bin Laden oder Atta, von Zawahiri oder Sarkawi, von Bouyeri oder anderen, so fällt es schwer, sie in die Kategorie des „Losers“ einzuordnen. Meist genossen sie eine technische und westliche Ausbildung an Colleges oder Eliteschulen, die blendende Karrieren in Aussicht stellten. Sie frönten dem Hedonismus und trugen Markenkleidung von Dior oder Yves Saint Laurent (Wo samma, Osama?).

Bei all ihren Taten handelt es sich mitnichten um einen unkontrollierten Gewaltausbruch, sondern um eine bewusste Entscheidung und Hinwendung zu einem anderen Leben wider Konsumismus und Materialismus. Nicht die Niederlage oder gekränkter Stolz treibt sie an, sondern Verachtung für einen Lebensstil, der bar jeder Moralität und Spiritualität ist. Weshalb auch eine „geistige Vorbereitung“ mit Exerzitien und Körperwaschungen, Rasuren und Gebete vor jeder Tat vonnöten ist. Die „Geistliche Anleitung“, die bei einem der Attentäter des 11. September im Handgepäck gefunden worden ist und die von den Religionswissenschaftlern Kippenberg und Seidensticker minutiös analysiert worden ist, gibt Auskunft darüber.

Terror als Gottesdienst

Eigentlich müsste Enzensberger diese Erfahrungswelten kennen. Nicht nur aus der Literatur, wo es eher Langeweile oder die pure Lust an Gewalt und Selbstzerstörung sind, die die Täter, (die alles Mögliche sein mögen, aber mit Sicherheit keine Verlierer, siehe Pat Bateman in Ellis’ „American Psycho“ oder Tyler Durden in Palahniuks „Fight Club“), zur Tat schreiten lässt. Sondern auch aus dem frühen politischen Christentum, wo Hingabe, Todessehnsucht und Opferbereitschaft nicht gänzlich unbekannt gewesen sind. Auf die Formel: „Symbolischer Tausch und der Tod“ hat Jean Baudrillard diese Art, sein Leben zu verschwenden, einmal gebracht.

Für eine große Sache zu sterben und sein weltliches gegen ein geistiges Leben einzutauschen, galt auch unter Heiligen und Märtyrern als größte Herausforderung, die das Leben für sie bereithält. Noch Hegel unterzieht diesem Mut, bis zum Äußersten zu gehen, in der Anerkennungsdialektik einer genauen Analyse. „Aber nicht das Leben, das sich vor dem Tode scheut und von der Verwüstung rein bewahrt, sondern das ihn erträgt und in ihm sich erhält, ist das Leben des Geistes“, heißt es in der „Phänomenologie“. Dem Negativen ins Auge zu schauen, bei ihm zu verweilen, ist die Kraft, die das Subjekt aufbringen muss, um sich selbst zu gewinnen.

Und noch Georges Bataille plagt dieses „Fieber“. Weswegen er die „ungesättigte Begierde“, die er bei Nietzsche, aber auch bei de Sade entdeckt, flugs zu seiner Lebensmaxime macht. Während bürgerliche Moral „stets das Wohl des Menschen im Auge hat“, schreibt er in „Nietzsche und der Wille zur Chance“, ist sein „moralisches Bestreben von der Suche nach einem Gegenstand“ geprägt, „dessen Wert über die anderen triumphiert“. Nicht Nützlichkeiten, Bedürfnisse nach Markenartikel oder Karrieren, treiben ihn an, sondern das Verlangen und die Sehnsucht nach dem „ganz Anderen“. Und dieser Gegenstand, der in seinen Augen „unkommensurabel“ ist, ist „nichts anderes als die Transzendenz Gottes“, die Quintessenz der „atheologischen Summe“.

Schutz und Sicherheit

Über all die Jahre ist dieses „Glühen“ und „Brennen“, das ein Leben „auf dem Siedepunkt“, wie es bei Bataille heißt, verspricht, jedoch in Vergessenheit geraten. An die Stelle der exzessiven Selbstverschwendung und des Selbstverlusts ist die neutestamentarische Sorge um das Dasein oder das Seelenheil getreten. Der Bürger hat sich gegen die Freiheit und für die „politische Nullität“ entschieden. In „den Früchten des Friedens und des Erwerbs und in der vollkommenen Sicherheit des Genusses“, schreibt Hegel in den „Jenaer Schriften“, findet er auch entsprechende Ersatzhandlungen.

Dieses Bedürfnis nach Schutz und gesicherter Existenz, die der Bourgeois sucht und die der bürgerliche Staat ihm gewährt, erklärt zu einem gewissen Maße auch den Zug zum Postheroischen, dem westliche Gesellschaften seit geraumer Zeit unterliegen. Vermutlich hatte es deswegen das vergangene und auch das vorvergangene Jahrhundert leichter, „alle Verlierer“ an die Front zu schicken und das Problem, das Enzensberger aufwirft, auf diese Art zu entsorgen. Doch seit Humanitarismus und Pazifismus die Köpfe und Herzen der Bürger erobert hat, der Krieg ein chirurgisch-sauberer geworden ist und die Heimatfront Blutopfer und Marter der eigenen Regierung nicht mehr durchgehen lässt, ist dieser Ausgang und diese „elegante“ Lösung des Problems für moderne Gesellschaften verstopft.

Unverstandene Rückständigkeit

Was Enzensberger für „rückständig“ hält und den islamischen Gesellschaften ankreidet, ist also eher ein spirituelles Unverständnis „dem Feind als eigene Gestalt“ gegenüber. Das ist das eine. Im Übereifer, den Motiven der Täter auf die Spur zu kommen, verliert er indes die Politik vollkommen aus den Augen. Das ist das andere. Wer sich aber der Ursachenforschung annimmt, statt sich mit den Zielen zu beschäftigen, muss scheitern. Motive und Zwecke sind, das weiß jeder, der in den Siebzigern eine Schulung bei der „Marxistischen Gruppe“ gemacht hat, zwei unterschiedliche Paar Stiefel. Sie weisen diametral in entgegengesetzte Richtungen, die eine in die Vergangenheit, die andere in die Zukunft.

Der Islamismus mag für alles Mögliche stehen, für Gemeinschaftlichkeit, Seelenheil, Trost... Eines ist er aber mit Sicherheit nicht, eine „unpolitische Bewegung“, wie Enzensberger meint. Selbstverständlich hat er politische Ziele. Bin Laden, Zawahiri und andere islamistische Führer und Imame haben sie in unzähligen Videobotschaften und Interviews immer wieder formuliert: Sie reichen vom Sturz willfähriger Regierungen in den arabischen Staaten über den Schutz der Gläubigen und der Forderung nach Abzug fremder Truppen von den Heiligen Stätten bis hin zur Verteidigung islamischer Länder vor der Ausplünderung durch die Ungläubigen.

Es stimmt nicht, dass die politischen Akteure des Islamismus keine „verhandelbaren Forderungen“ erheben würden. Bin Ladin hat aus seiner Zustimmung zu Samuel Huntingtons Diagnose kein Hehl gemacht und die territoriale Aufteilung der Welt in verschiedene Kulturkreise ausdrücklich als richtig bezeichnet. Auch wenn dies in ihren Augen langfristig nur ein Zwischenschritt auf dem Weg zur vollkommenen Islamisierung der Welt sein kann.

Und es stimmt auch nicht, dass terroristische Bewegungen keine politischen Erfolge einheimsen können. Ganz im Gegenteil, die letzten Jahrzehnte sind voll davon. Terror und Zermürbungstaktik lohnen sich, wenn der Atem der Akteure und die Unterstützung durch die Bevölkerung entsprechend lang und groß sind. Das hat man, um ein paar Beispiele zu erwähnen, an der IRA oder der ETA, an Menachem Begin oder Yassir Arafat, an den Tamil Tigers in Sri Lanka oder an der UCK in Kosovo gesehen. Wobei es einige der Anführer sogar bis zum Staatspräsidenten gebracht haben. Weswegen auch der Westen und Israel wohl nicht umhin kommen werden, über kurz oder lang mit der Hamas in Verhandlungen einzutreten.

Wer sich mit Islamismus und transnationalem Terrorismus beschäftigen will, tut denn auch besser daran, das Buch von Ulrich Schneckener zur Hand zu nehmen. Darin wird er ausführlich über Potential, Infrastruktur und begünstigendes Umfeld informiert, aber auch über Möglichkeiten der Bekämpfung, politische Lösungsansätze also, die man bei Enzensberger völlig vermisst. Da herrscht zum Ende nur literarische Ohnmacht und Ratlosigkeit, Inschallah, wie ein Hindu sagen würde.

Hans Magnus Enzensberger, Schreckens Männer. Versuch über den radikalen Verlierer, Frankfurt: Suhrkamp 2006, ca. 60 Seiten, € 5
Hans G. Kippenberg / Tilman Seidensticker (Hg.), Terror im Dienste Gottes. Die ‚Geistliche Anleitung’ der Attentäter des 11. September 2001, Franfurt: Campus 2004, 128 Seiten, € 14,90
Ulrich Schneckener, Transnationaler Terrorismus, Frankfurt: Suhrkamp 2006, ca. 290 Seiten, € 11. Georges Bataille, Nietzsche und die Wille zur Chance, Berlin: Matthes & Seitz 2006, ca. 400 Seiten, € 34