"We fucked up the west some time ago ..."

Der Dokumentarfilm "We feed the world" regt mit eindringlichen Bildern ein Nachdenken über den Umgang mit unserer Nahrung und natürlichen Ressourcen an

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Horrorstreifen oder Science-Fiction-Filme sind in Zeiten wie diesen eigentlich überflüssig. Sich in der realen Welt umzusehen, reicht völlig aus, um einen gewissen Schauder zu verspüren. Diesen zu erzeugen, gelingt sogar, wenn man sich mit dem recht schlichten Thema Ernährung auseinandersetzt, wie die Dokumentation We feed the world zeigt. Der Streifen des österreichischen Filmregisseurs Erwin Wagenhofer führt die Absurdität des Systems der industrialisierten Nahrungsmittelproduktion von heute vor. Die eingespielten Kommentare des UN-Sonderberichterstatters Jean Ziegler erinnern daran, dass Essen auch Politik ist.

Alle Bilder aus We Feed The World

Die Küken schlüpfen am Fließband, werden im Akkord von flinken Händen aussortiert, in Körbe geschubst und landen - ohne jemals Tageslicht gesehen zu haben (?) - demnächst auf unseren Tellern. 45 Millionen Hühner werden allein in Österreich, in einem Land mit gerade mal 8 Millionen Einwohnern, jährlich geschlachtet. In der Landeshauptstadt Wien wird Tag für Tag gleich viel Brot entsorgt, wie die zweitgrößte Stadt Österreichs an einem Tag verbraucht. Durchschnittlich zehn Kilogramm künstlich bewässertes Treibhausgemüse aus Südspanien verzehren jede Europäerin und jeder Europäer pro Jahr, weshalb in dem südlichen Land die Wasserreserven knapp werden ...

Für die kurzweilige Doku „We feed the world“ begab sich der österreichische Regisseur Erwin Wagenhofer auf eine Spurensuche, die ihn quer über den Globus führte. Er sprach mit dem „einfachen“ Fischer ebenso wie mit Managern und Konzernbossen. Die Interviews und Bilder sind simpel aneinandergereiht. Auf Eigenkommentare verzichtet Wagenhofer. Den roten Faden bildet ein Interview mit dem UN-Sonderberichterstatter für das Menschenrecht auf Nahrung, Jean Ziegler. In bekannt prägnanter Manier bringt Ziegler viele Fragwürdigkeiten in der Nahrungsmittelproduktion, wie wir sie heute erleben, auf den Punkt und ordnet sie politisch ein. „Alle fünf Sekunden verhungert ein Kind unter zehn Jahren. Ein Kind, das an Hunger stirbt, wird ermordet“, so Ziegler. Wir leben in einer Überflussgesellschaft, in der bis heute kein Weg gefunden wurde, Hunger und Mangelernährung auszumerzen. Immerhin leiden laut UN-Welternährungsorganisation (FAO) 825 Millionen Menschen an Hunger, die meisten davon in Afrika und Lateinamerika. Aber auch in Industrieländern geht die Schere zwischen arm und reich immer weiter auf. Die FAO spricht von ca. 10 Millionen Menschen, die in wohlhabenden Staaten hungern.

Ein wesentliches Problem ist die Subventionierung der Landwirtschaft in den Industrieländern. Denn diese orientiert sich primär an Exportprämien. Das System fördert Überproduktion, die dann in Entwicklungsländern abgesetzt wird und den dort ansässigen Bauern die Existenzgrundlage entzieht. „Wenn Sie im Senegal auf den Markt gehen, können Sie europäische Früchte zu einem Drittel der einheimischen Preise kaufen. Also hat der senegalesische Bauer keine Chance mehr, das Auskommen zu finden“, so Ziegler.

Dass die landwirtschaftlichen Produktion und der Saatgutmarkt inzwischen in eine teils recht problematische Richtung geht, wird auch aus dem Interview mit Karl Otrok ersichtlich. Der Produktionsdirektor von Pioneer in Rumänien findet deutliche Worte: „We fucked up the west some time ago and now that we are coming to Romania, we will fuck up all the agriculture here…” Otrok ist inzwischen pensioniert, das war bereits beim Dreh absehbar. Er brauchte sich kein Blatt mehr vor den Mund zu nehmen. In seiner Rente hat er einen eigenen Landhandel aufgezogen, erklärte Wagenhofer im Anschluss eines Film-Previews in Berlin im Januar. Kurz nach der Filmpremiere in Österreich wäre ein Fax weltweit verschickt worden, mit dem Hinweis, dass keine Geschäfte mit Otrok mehr gemacht werden sollten. „No Business with Otrok“, zitierte Wagenhofer das Schreiben. Dem Ex-Pioneer-Manager dürfte dadurch einiges Geschäft entgangen sein. Angeblich will er die Affäre aber aussitzen.

In der Doku schwärmt Otrok jedenfalls von den kleinen, manchmal unförmig gewachsenen Melanzani, die rumänische Landwirte seit langem selbst kultivieren und die geschmacklich viel besser wären als die Hybrid-Melanzani der Saatgutkonzerne, die von einheitlicher Form und eben wesentlich größer sind. Daneben steht ein rumänischer Landwirt: „Wer mitspielen will am internationalen Markt, muss die großen anbauen...“ Wer exportieren will, sollte es wohl heißen, der hat nur mit den „uniformierten“ Früchten eine Chance am Weltmarkt. Und: Es geht ums Mitspielen. Wir alle spielen mit, die Politik, die Erzeuger, die Verbraucher. Letzteren fühlt Wagenhofer in seiner Doku weniger auf den Zahn, obwohl die Verantwortlichkeit des Verbrauchers im Filmtitel anklingt.

Die Bilder und Interviews zeigen dennoch, welchen Preis wir für den oft recht sorglosen Umgang mit Nahrung zahlen. Er geht auf Kosten der Umwelt und bringt in vielen Ländern soziale Probleme mit sich. Ganz zu schweigen davon, dass Tierschützern bei manchen Szenen aus der Massentierhaltung wohl der kalte Schauer über den Rücken laufen wird. Wagenhofer verweist auf Politik und einige Konzerne, die industrialisierte Landwirtschaft und Überproduktion fördern, oftmals ohne Rücksicht auf negative Auswirkungen.

Inzwischen haben etwa 180.000 Menschen in Österreich den Streifen gesehen. In deutschen Kinos läuft er am 27. April an. Einige Kritiker warfen Wagenhofer Schwarz-Weiß-Malerei vor oder dass dem Streifen durch Schnitt, Ton und Montage eine einseitige globalisierungskritische Note verpasst wurde, indem etwa Interview-Ausschnitte (z.B. mit Nestle-CEO Peter Brabeck) aus dem Zusammenhang gerissen wiedergegeben worden wären. Das mag durchaus zutreffen. Doch was kann man Wagenhofer eigentlich wirklich anlasten: Dass er ein absurdes System zur Kenntlichkeit entstellt?