Die Familie: das "Zukunftsmodell unserer Gesellschaft"

Es gibt viel zu tun: In Berlin wurde der siebte Familienbericht vorgestellt und etwa das Problem der "spezifisch deutschen Lebensverlaufsplanung" aufs Korn genommen

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Am 20. Februar 2003 berief die damalige Ministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Renate Schmidt, eine jener in rot-grünen Regierungszeiten obligatorischen Sachverständigenkommissionen ein. Sie sollte unter dem Vorsitz des Familien- und Jugendforschers Hans Bertram, der einen Lehrstuhl für Mikrosoziologie an der Berliner Humboldt-Universität innehat, das Thema „Zukunft der Familie“ unter den Aspekten gesellschaftlicher Wandel und soziale Integration grundlegend analysieren und im Gegensatz zu früheren Familienberichten – der sechste erschien im Jahr 2000, sein Vorgänger 1994 - nicht vorrangig die Fehler der Vergangenheit beschreiben. Stattdessen ging es diesmal um die Entwicklung zeitgemäßer Perspektiven und politischer Handlungsinstrumente, um auf „die neuen Herausforderungen spätmoderner Gesellschaften“ angemessen reagieren zu können.

Nach drei Jahren haben die Wissenschaftler ihre Arbeit nun abgeschlossen. Der siebte Familienbericht Familie zwischen Flexibilität und Verlässlichkeit wurde am gestrigen Dienstag in Berlin vorgestellt, vom Bundeskabinett verabschiedet und auf der Homepage des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend durch die Sachverständigenkommission auch noch gesondert kommentiert.

Schon im Vorfeld der Veröffentlichung hatten Formulierungen für Aufsehen gesorgt, die sich wie die familienpolitische Variante des legendären Altkanzler-Sprichworts „Lehrer sind faule Säcke“ ausnehmen. Und tatsächlich erscheint auf der 72. von insgesamt 607 Seiten die zwielichtige Textstelle:

Die geringste Präsenz am Arbeitsmarkt findet sich bei deutschen Müttern, die diese gewonnene Zeit aber nicht in Hausarbeit investieren, sondern in persönliche Freizeit. Die höhere Präsenz finnischer, schwedischer und norwegischer Eltern am Arbeitsmarkt wird genauso wie in Frankreich durch einen zusätzlichen Verzicht an Freizeit erreicht.

Aus dem 7. Familienbericht

Allerdings erschöpft sich die Beschreibung der deutschen Situation und ihrer europäischen Vergleichsbasis nicht in derlei simplifizierenden Schuldzuweisungen. Das in den letzten Wochen viel diskutierte Problem der deutschen Kinderlosigkeit führen die Wissenschaftler vornehmlich auf die geringe Quote an Mehrkinderfamilien zurück, welche die sinkenden Geburtenraten wieder anheben könnten, wie das beispielsweise in Frankreich oder Finnland geschehen ist. Das entscheidende Hindernis sehen die Autoren in der „spezifisch deutschen Lebensverlaufsplanung“ mit ihrer strikten Dreiteilung in Ausbildung, Beruf und Rente. In vielen anderen europäischen Ländern werden persönliche Lebenszeit und Erwerbsbiografie flexibler aufeinander abgestimmt:

So kann man in Frankreich z.B. vom Hilfslehrer zum Professor aufsteigen - und zwar noch im Alter jenseits der aktiven Elternschaft. Deutschland hingegen kennt eine „rush hour des Lebens“. Deutsche Akademikerinnen nehmen sich nach Ausbildungsabschluss und Berufseinstieg etwa 5 Jahre Zeit, um sich für oder gegen Kinder zu entscheiden. Das macht bei einer Lebenserwartung von fast 100 Jahren für Frauen des Jahrgangs 1970 einen Lebensanteil von 2% aus!

Sachverständigenkommission des Siebten Familienberichts

In angelsächsischen Ländern ist es mittlerweile selbstverständlich, dass Frauen und Männer einen B.A.-Abschluss erwerben, fünf Jahre arbeiten oder eine Familie gründen und anschließend ihre Ausbildung durch einen M.A. vervollständigen. Abgesehen davon, dass diese Beispiele sehr deutlich machen, wie einseitig die Studie bisweilen auf die Lage der Akademikerinnen und Akademiker konzentriert ist, bleibt festzuhalten: Deutschland ist es im Gegensatz zu vielen Nachbarstaaten noch nicht gelungen, den Wandel von der Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft zu bewältigen und auf die schleichende Umstellung vom männlichen Alleinverdiener zum „individual-adult-worker-Modell“ angemessen zu reagieren.

Umso dringender ist nun eine planvolle Neuorganisation von Erwerbsarbeitszeit und privater Zeit, in deren Verlauf aber auch über die Entwicklung alternativer Berufsbilder, effektive Weiterbildungsangebote, eine umfassende Kinderbetreuung, moderne Formen der Nachbarschaftshilfe und vieles mehr nachgedacht werden müsste.

In Anlehnung an die Erziehungszeit schlägt der Bericht die Einrichtung von geschlechtsneutralen Optionszeiten vor, in denen sich die Menschen Erziehungs-, Bildungs- oder Pflegeaufgaben widmen können. Bertrams Team hält diese Optionszeiten im Idealfall sogar für geeignet, den wachsenden demographischen Schwierigkeiten der Gesellschaft zu begegnen und die höhere Lebenserwartung produktiv zu nutzen.

Die heute etwa 25 Jahre dauernde „Teilhabezeit“ (= Berufszeit bis zur Rente) würde ausgedehnt. Finanziert werden soll das Modell über die Rente: Die heute an einem Stück zu erbringenden 45 Erwerbsjahre bis zum Bezug der Rente könnte man aufteilen in mehrere Phasen, um dann in dazwischengeschobenen Optionszeiten z.B. 67% des Nettoeinkommens sozusagen als „Vorschuss“ auf die Rente zu beziehen.

Sachverständigenkommission des Siebten Familienberichts

Ein Grund für den deutschen Sonderweg könnte das überdurchschnittlich lange Festhalten an tradierten Rollenvorstellungen sein, das hierzulande oft spätestens nach der Geburt des ersten Kindes wieder gesellschaftliche Realität wird. Die Frauen geben ihren Beruf auf, die Männer arbeiten mehr als zuvor, die finanzielle Situation spitzt sich gleichwohl zu, und so gerät neben der beruflichen schließlich auch die private Aufgabenteilung aus der Balance. Eine Ausweitung der Betreuungsmaßnahmen, die in Deutschland sicher dringend geboten wäre, um die Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu optimieren, kann deshalb nicht die einzige Lösung sein.

Hier kommt es darauf an, neben den angesprochenen nötigen Infrastrukturmaßnahmen (wie Kinderbetreuung und Ganztagsschulen) auch schon im Kindesalter Kompetenzerweiterungen für Mädchen und Jungen zu ermöglichen. Jungen sollen mehr weibliche „care“-Fähigkeiten, Mädchen mehr männliche Berufsorientierung entwickeln. Es stellt sich nämlich auch die Frage, warum Männer aus der Familie „aussteigen“. Bisher ist die Familienrolle für Männer wenig attraktiv: sie haben als Haupternährer ausgedient, aber im Haushalt gesteht man ihnen meist nur Zuarbeiterdienste zu. „Care“ muss auch für Männer als Gewinn erkennbar sein, um die Familienarbeit als attraktiv zu erleben.

Sachverständigenkommission des Siebten Familienberichts

Möglicherweise ist es auch so, dass Männer die Beschränkung auf „Zuarbeiterdienste“ selbst initiieren oder dankbar zur Kenntnis nehmen ...

Es muss sich vieles ändern

Dass sich im Bereich der Familienpolitik nicht nur „etwas“, sondern sehr viel mehr ändern muss, als in den letzten Jahrzehnten in Bonn, Berlin, auf Länderebene oder in den Kommunen geplant wurde, zeigt auch die Entwicklung der Städte. Die Autoren weisen u.a. auf das „unterschiedliche Reproduktionsschema in deutschen Familien und in Familien mit Migrationshintergrund“ hin. Eine wichtige Rolle spielen daneben die „Wanderungsbewegungen der besserverdienenden Familien aus der Stadt heraus“. Diese und viele andere soziale, ökonomische, kulturelle oder ökologische Verwerfungen, die allesamt auch Familien betreffen, begünstigen einerseits das Phänomen der schrumpfenden Innenstädte, andererseits die Bildung schnell wachsender Megacitys, deren Konturen immer undeutlicher werden.

Die Kommunen sollen deshalb in Zukunft eine ganz neue Wirtschaftspolitik betreiben, indem sie nicht mehr versuchen, sinnlos Gewerbegebiete aus dem Boden zu stampfen, sondern stattdessen Familien anzusiedeln, die dann als Investoren und nicht länger als bloße Leistungsempfänger betrachtet werden müssten. Ein Ort, der über eine funktionierende soziale Infrastruktur und qualifizierte Arbeitskräfte verfügt, wird nach Einschätzung der Autoren schließlich auch investitionsfreudige Unternehmen anziehen.

Für die benachteiligten Gebiete ist dann offenbar der „aktivierende Sozialstaat“ zuständig. Um dem immer größer werdenden Armutsrisiko zu entgehen, unterscheidet der Bericht Familien in schwierigen finanziellen Situationen nach ihren jeweils aktivierbaren Potenzialen. Manchen könnte mit simpler Beratung und einer Stärkung ihrer Alltagskompetenzen geholfen werden, in anderen Fällen wäre die gezielte Förderung von Kindern „in niedrigschwelligen Zentren“ sinnvoll, wie sie etwa in den englischen Early Excellence Centres versucht wird.

Die Autoren plädieren grundsätzlich dafür, alle monetären Transferleistungen in einer „Familienkasse“ zusammenzufassen und im übrigen ein „Elterngeld nach skandinavischem Vorbild“ zu zahlen. Gleichwohl warnen sie ausdrücklich vor einer einseitigen Konzentration auf ökonomische Erwägungen, die der Komplexität des Phänomens nicht gerecht wird und sich auch deshalb nicht aufdrängt, weil beispielsweise die skandinavischen Ländern für ihre deutlich erfreulicheren Ergebnisse keineswegs mehr Geld investiert haben.

Bundesfamilienministerin Ursula von der Leyen ist lange genug im Amt, um zu wissen, wie Spitzenpolitiker auf solche Berichte reagieren müssen, auch wenn sie dieselben nicht persönlich in Auftrag gegeben haben. Folgerichtig fühlt sich von der Leyen in ihren eigenen Ansichten bestätigt und beschwört einen „Dreiklang aus Zeit, Geld und Infrastruktur“, den die neue Bundesregierung durch das geplante Elterngeld, die Absetzbarkeit von Kinderbetreuungskosten von der Steuer, den beabsichtigten Ausbau der Kindertagesstätten oder die Mehrgenerationenhäuser tatsächlich schon angeschlagen hat.

Aufpoliertes Familienbild für die deutsche Leitkultur

Über den leisen Verdacht, dass die Ministerin vorzugsweise mit sich selbst zufrieden ist und der Bilderbuch-Lebenslauf einer promovierten Professoren-Gattin und siebenfachen Mutter, die ganz nebenbei auch noch im Eiltempo Karriere macht, vielleicht doch nicht repräsentativ ist, lächelt von der Leyen beherzt hinweg. Ihr Auftrag heißt Optimismus, und den kann die 48-Jährige mit überschaubaren Lösungsansätzen offenbar besonders gut erfüllen, wie der Versuch, allein mit Vertretern der evangelischen und katholischen Kirche ein „Bündnis für Erziehung“ ins Leben zu rufen (Die Integrationsunfähigkeit der deutschen Minister), vor wenigen Tagen deutlich zeigte. Die Presseerklärung ihres Ministeriums interpretiert den Familienbericht denn auch ebenso forsch wie plakativ, gut verständlich und leicht verdaulich.

Der 7. Familienbericht hat eine klare Botschaft: Familie ist und bleibt das Zukunftsmodell unserer Gesellschaft.

Bundesfamilienministerium

Ob die einzelnen Mitglieder der Gesellschaft gleiche oder wenigstens ähnliche Vorstellungen von diesem Zukunftsmodell und der Bedeutung des Begriffs Familie haben, muss allerdings bezweifelt werden. Die voluminöse Bestandsaufnahme, die zahlreiche aktuelle Forschungsergebnisse berücksichtigt, trägt dem einerseits Rechnung, in dem beispielsweise das Thema Ehescheidungen ausführlich diskutiert wird:

In der Folge ist davon auszugehen, dass etwa ein Fünftel aller Kinder in den alten und ein Drittel in den neuen Bundesländern ihre Kindheit nicht mit ihren beiden leiblichen Eltern verbringen werden, sondern Erfahrungen in anderen Formen familialer Organisation machen sowie eventuell sogar mehrmals einen Wechsel zwischen verschiedenen familialen Settings bewältigen müssen.

Aus dem 7. Familienbericht

In der politisch korrekten Familienforschung wird die Scheidung der Eltern als „Transition im Entwicklungsprozess der Familie“ betrachtet und den Beteiligten das gemeinsame Sorgerecht als unter diesen Bedingungen optimalste Lösungsmöglichkeit vorgeschlagen.

Begriffe wie „homosexuell“ oder „gleichgeschlechtlich“ tauchen auf gut 600 Seiten dagegen nur je ein Mal auf, und in beiden Fällen müssen Fußnoten herhalten, um diesen Ausnahmefall zu behandeln. Ähnliches gilt für alle anderen Formen alternativer Lebensgestaltung – mit oder ohne Kind -, so dass sich dieser Bericht tatsächlich nicht damit begnügt, eine Situation zu beschreiben oder zu bewerten. Wer ihn so liest wie die Familienministerin mag sich aus der klassischen Konstellation Frau, Mann, Kinder und einigen spätmodernen Unvermeidlichkeiten durchaus ein aufpoliertes Familienbild für die deutsche Leitkultur zusammenbasteln.