Deutschland ist ein Medienprodukt

Über Friedrich Kittlers Kulturtechnikgeschichte, den Werkzeugkastenzugang und die Rückkehr des Befehlsnotstandes unter medienwissenschaftlichen Vorzeichen

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Geoffrey Winthrop-Young, geb. 1960 in London, ist Germanist am Department of Central, Eastern and Northern European Studies der University of British Columbia in Vancouver. Im Zentrum seiner Forschungsarbeit steht die deutsche Kultur- und Wissensproduktion. Insbesondere die "deutsche Medientheorie" hat es ihm angetan. Er hat zahlreiche Aufsätze und Schriften Friedrich Kittlers ins Amerikanische übersetzt, darunter auch (zusammen mit Michael Wutz) "Grammophon Film Typewriter". Winthrop-Young ist zwar Literaturwissenschaftler, der aber, wie viele seiner Generation, ziemliches Unbehagen an seiner Disziplin empfindet, und sich vornehmlich für Medien interessiert. Allerdings bezeichnet er sich selbst nicht als Medientheoretiker oder Medienwissenschaftler, sondern eher als jemand, der beobachtet, wie andere Leute Medien beobachten. Der erste Teil des Gesprächs mit Rudolf Maresch: Die Zeit der Kulturkriege ist vorbei

Geoffrey Winthrop-Young. Foto: Rudolf Maresch

Friedrich Kittlers Aufschreibesysteme und sein Grammophon-Buch haben Epoche gemacht. Es gibt nicht wenige in Deutschland, die sie zu den wichtigsten Publikationen der letzten Jahrzehnte (zumindest in den Geistes- und Literaturwissenschaften) zählen und meinen, dass man seitdem nicht mehr so denken und schreiben könnte wie zuvor. Worin würdest du diesen Epochenbruch für die Geisteswissenschaften festmachen? Im Antihumanismus, im Aufbrechen von Diskursgrenzen, im Schleifen emanzipatorischer Glücksversprechen …

Geoffrey Winthrop-Young: Es gibt Bücher, die sind wie Schleusen oder Stromschnellen. Sie reißen dich fort, bewältigen für unüberwindbar geltende Höhenunterschiede und bringen dich in kürzester Zeit von A nach B. Dazu gehören die Aufschreibesysteme nicht, dafür ist es ein viel zu unebener, verquerer Text. Es ist eher ein großer Block, den Kittler Mitte der 1980er ins Wasser geschubst hat. Jetzt liegt er da und du musst dich entscheiden, ob du rechts oder – was bei Kittler leichter fällt – links an ihm vorbei willst. Und dann gibt es auch einige, die auf den Block auflaufen und dort stecken bleiben.

Auf jeden Fall kann man nicht weiterhin gemütlich dahinplätschern. Wie bei Nietzsche – der ja zugleich tragischer Held und Patient der Aufschreibesysteme ist – liegt der epochale Charakter nicht in den oft fragwürdigen Neuigkeiten, die geboten werden, sondern im Errichten von Misstrauensschwellen. Entscheidend ist weniger, was Kittler sagt, als das, was man nach ihm nicht mehr sagen kann, ohne recht naiv zu wirken.

Das Aufbrechen der Diskursgrenzen gab es früher schon, entscheidend ist, dass man nach den Aufschreibesystemen und Grammophon Film Typewriter Kultur nicht mehr von Technik, Kommunikation nicht mehr von Kanälen, Botschaften nicht mehr vom technisch implementierten Code abtrennen kann; entscheidend ist weitherhin, dass es mittlerweile selbstverständlich geworden ist, sich mit diesen Verbindungen zu beschäftigen, auch wenn einem Kittlers Techno-Arrangement absolut nicht liegt. Das ist für mich ein Teil des Kittler-Effekts: Dass sich seine Arbeiten auch da noch auswirken, wo sie nicht direkt rezipiert, ja oft sogar angefeindet werden.

Die Vererdung der Diskurse

Ist diese neue Art zu schreiben und zu denken nicht schon durch die Diskursanalysen Michel Foucaults abgedeckt? Werden nicht doch bloß diskursanalytische Verfahren auf Medien übertragen? Oder worin besteht für dich die Originalität Friedrich Kittlers?

Wenn man – was ich für falsch hielte – Kittler ganz in Foucault aufgehen ließe, dann könnte man mit gleichem Recht Foucault (mitsamt eingebautem Kittler) ganz in Heidegger aufgehen lassen. Dann wäre Foucault nichts als ein Heidegger mit mehr Geschichtsbüchern und Zeichentheorien, und Kittler nichts als ein Foucault mit mehr Knöpfen und Tasten. Wo kämen wir hin, was bliebe uns zu tun, wenn alles so einfach wäre?

Um es unzulässig verknappt zusammenzufassen: Die Originalität Kittlers besteht in einer Kombination aus Kulturimplosion, theoretischer Erdung und anschließender Ausweitung:

  1. In den besten Texten seiner Frühphase verknüpft er auf höchst wirksame Weise Diskursanalyse und strukturale Psychoanalyse; er zeigt (im Anschluss an Lacan), wie Leuten vermittels umfassender Spracherwerbspraktiken und Lektüreprotokollen Reden und Denken eingeschrieben wird, und er zeigt im Anschluss an Foucault, dass diese Praktiken und Programme von einschneidenden diskursgeschichtlichen Zäsuren punktiert werden. Texte (mitsamt allem, was an Geist aus diesen Texten empor dünstet) werden nicht mehr interpretiert, sondern (das ist sein Ausdruck, nicht meiner) implodiert. So hat das vor ihm kein Germanist gemacht, und nach ihm nur sehr wenige.
  2. In einer zweiten Phase wird dieser gesamte Apparat vom diskurskritischen Kopf auf die medientechnischen Füße gestellt. Diese Form der Erdung ist natürlich nicht neu, bloß muss man Kittler zugestehen, dass er sie auf eine Weise vollzieht, die ältere Versuche, darunter auch die McLuhans, in den Schatten stellt.
  3. In seiner imperialen Spätphase erfolgt der Versuch, dies zu einer technisch-mathematisch informierteren Seinsgeschichte in Form einer umfassenden Kulturtechnikwissenschaft auszuweiten. Letzteres stößt auch und gerade bei Jüngern und Sympathisanten auf Widerstand. Das war wohl beim alten Freud nicht anders, als er anfing, sich mit Moses zu beschäftigen.

Das mit den Filiationslinien ist immer so eine Sache. Da gebe ich dir Recht. Überrascht hat mich nur, dass in deinem Kittler-Buch zwar Foucault und Heidegger (auch Hegel) eine große Rolle spielen, der Name „Nietzsche“ aber fast gar nicht auftaucht. Nicht wenige seiner Meisterschüler sind jedoch der Überzeugung, dass Nietzsche der eigentliche Urheber und Stammvater des Kittlerschen Diskurses wäre.

Geoffrey Winthrop-Young: Klar, Nietzsche ist ein Eckpfeiler, das steht außer Frage. Hätte ich eine Monographie geschrieben, hätte er eine größere Rolle gespielt – aber dann stünde dort auch mehr über Lacan und Lohmann, Hegel und Heidegger, Pynchon und Pythagoras, und so weiter. Man muss schon ein ziemlich schulmeisterlicher Meisterschüler sein, um Kittler ganz auf Nietzsche zu reduzieren. Bloß habe ich keine Monographie geschrieben, sondern eine Einführung, die bestimmten Didaktisierungs- und Längenbegrenzungsvorgaben zu folgen hatte; und aus Erfahrung weiß ich, dass in Sachen Kittler Foucault sich besser dazu eignet, einen halbwegs brauchbaren roten Faden zu spinnen.

Hinzu kommt, dass Allerweltskategorien wie Einfluss oder Urheberschaft dieses doch sehr merkwürdige Verhältnis Kittlers zu Nietzsche nicht recht erfassen. Liest man beispielsweise die Ausführungen zu Nietzsche in der Kulturgeschichte der Kulturwissenschaft, vor allem die Nebenbemerkungen über Nietzsches kulturrevolutionäres Projekt, seine Leser- und Hörerschaft dionysisch anstecken zu wollen, dann muss man schon mit Butler und der Bibel ankommen. In gewisser Weise erscheint (wie in einer schriftgelehrten theologischen Exegese) Nietzsche als Präfiguration Kittlers und Kittler (wie auch Syd Barrett, Jimi Hendrix und Roger Waters) als Postfiguration Nietzsches; Kittlers Wechsel zwischen Rausch- und Regelanalyse wiederum ist eine gleichermaßen Identität etablierende wie aufweichende Performanz der Duplizität des Dionysischen und Apollinischen... All das müsste mal gesondert untersucht werden, aber nicht im Rahmen einer Einführung, wie ich sie versucht habe.

Genau das habe ich mich auch immer gefragt: Wie kann man eigentlich ständig, wie Kittler das macht, zwischen Rausch und Regelsystem, Drogen und Bürokratie, Romantik und Klassik, Nietzsche und Shannon, Verschwörungstheorie und Analyse hin und her zappen, ohne dabei verrückt zu werden. Hast du dafür eine passende oder griffige Erklärung?

Geoffrey Winthrop-Young: Nein, da musst du ihn selbst fragen. Hier spielen auch persönlich-biographische Dimensionen hinein, da traue ich mir schon aus Unkenntnis kein Urteil zu.

Nur eine kleine Aus- oder Abschweifung. Gleich zu Beginn von Grammophon Film Typewriter liest man (und das ist ein gutes Beispiel für dieses Ineinander von Rausch und Regelanalyse): „Wem es also gelingt, im Synthesizersound der Compact Discs den Schaltplan selber zu hören oder im Lasergewitter der Diskotheken den Schaltplan selber zu sehen, findet ein Glück.“ Als ich das zum ersten Mal las, dachte ich mir, das ist doch ein Update – Freiburg, 1986 – der großen zwei Zeilen von Sappho: „Gliederlösender Eros schüttelt mich wieder / bittersüß, unbezähmbar, ein dunkles Tier.“ Dabei geht es weniger um die erotische Komponente, die in Musik und Mathematik auf recht befeuernde Art anwesend ist, als um den Versuch, beides gleichzeitig zu haben: den gliederlösenden Rausch sowie das Vermögen, das in Worte zu fassen. Und diese technisch informierte Koinzidenz von Begreifen und Ergriffensein, da haben die Meisterschüler recht, scheint eine schalttechnisch auf Vordermann gebrachte Harmonie des Apollonischen und Dionysischen.

Jenseits von Gut und Böse

Du monierst an mehreren Stellen in dem Buch, dass Kittler „Kriegsgeschichte und Kriegspolitik“ voneinander entkoppelt. Wer von Kriegstechnik spricht, so lese ich, sollte von Völkermord nicht schweigen. Ist die Trennung von Technik und Moral, oder meinetwegen auch von Technopolitik und Moral, nicht geradezu die Voraussetzung, um ihre Entwicklung überhaupt verstehen zu können? Ist es nicht geradezu die Tragik der letzten Jahrzehnte, dass die Geschichte der Medien durch ihre ständige Moralisierung verzerrt, entstellt und damit der Blick darauf möglicherweise sogar verstellt worden ist?

Geoffrey Winthrop-Young: Moment mal. Ich teile deine Einschätzung, dass gerade in technik- und medientheoretischen Bereichen unreflektierte Moralisierung (und dazu gehört für mich auch eine seit den großen Tagen des jungen Marx auf den Hund gekommene Ideologiekritik, die nur aus dem stupiden Verteilen politischer Betragensnoten besteht) intellektuell nicht besonders ertragreich ist. Aber daraus kann man nicht den Umkehrschluss ableiten, das Ausblenden aller moralischen Dimensionen sei die unabdingbare Voraussetzung wissenschaftlicher Erkenntnis. Schau dir den semantic drift in deiner Frage an: Du gleitest direkt von „Kriegspolitik“ zu „Völkermord“ und „Moral“ und endest bei der „Moralisierung“. Ist das nicht spiegelbildliche Umkehr jener reflexartigen Moralisierung, die du kritisierst?

Aber direkt zu Kittler: Mir ging es darum, dass er in seinen Arbeiten, die sich direkt mit nationalsozialistischer Kriegs- und Kontrollpolitik befassen (siehe etwa den Aufsatz „Unconditional Surrender“) eine gewisse Einseitigkeit an den Tag legt. So zitiert er gern und widerspruchslos den Ausspruch Albert Speers, das Dritte Reich sei „die erste Diktatur eines Industriestaates in dieser Zeit moderner Technik“ gewesen, in der neue Medien es ermöglichten, „Befehle höchster Instanzen unmittelbar bis in die untersten Gliederungen weiterzuleiten“. Nun, abgesehen davon, dass das früher auch schon möglich war, handelt es sich um die übliche Selbstentschuldigungsrhetorik Speers (wenn der Führer jedem Rottenführer telephonisch Anweisungen erteilen kann, dann trifft ihn, Speer, der ja in seinen eigenen Worten nur „Zweiter Mann im Staate“ war, keine Schuld). Vor allem aber hat das mit der Art und Weise, in der im Dritten Reich allgemeine Weisungen von oben sich mit Initiativen von unten ergänzten, sehr wenig zu tun. Ob Evans und Gerlach, Burleigh oder Aly, Gellately oder Browning, Wildt oder Kershaw – all die wichtigen Analysen des nationalsozialistischen Machtgefüges bleiben außen vor. Hier besteht die Gefahr einer Rückkehr des alten Befehlsnotstandes unter medienwissenschaftlichen Vorzeichen. Wovor mir graut (ja, da bin ich Moralist), ist, dass die Einsicht in die Konstruiertheit des Subjekts dazu führt, Kategorien wie Verantwortlichkeit und Initiative über Bord zu werden.

Nebenbei gesagt (um mal die Moralisierung zu historisieren statt die Historie zu moralisieren): Mir scheint, dass dieser anti-moralisierende, zuweilen betont amoralische Affekt auch etwas recht Generationen spezifisches ist. Er ist vor allem bei denen ausgeprägt, die zwischen Ende der 1950er und Ende der 1960er geboren sind, also bei den Nach-Achtundsechzigern. Manchmal frage ich mich, ob es sich hier nicht zum Teil (natürlich keineswegs ausschließlich) um einen Anti-68er-Affekt handelt, der gerade bei denen so stark ausgeprägt ist, die in der Schule die Verbalradikalismen verbeamteter Revoluzzer über sich ergehen lassen mussten und die daher – ich zitiere direkt aus Heinz Budes schönem Altern einer Generation – ein „auf kleinste Differenzen reagierendes Sensorium für 68er-Verhalten“ haben, beispielsweise für „Du-Vertraulichkeiten“, „sauertöpfische Empörtheit“ oder „jammervolles Selbstmitleid“. Zuweilen klingt es so, als führten die härteren Medienwissenschaftler einen Kampf gegen ihren inneren Sozialkundelehrer.

Die Bemerkung finde ich höchst interessant. Was mich angeht, kann ich das unterstreichen. Ich weiß zwar nicht, ob ich noch heimlich oder unbewusst gegen Sozialkunde- oder linke Hochschullehrer rebelliere. Zum einen habe ich selbst viel zu lange dieselben hohlen Phrasen gedroschen. Zum anderen wäre mir da auch ein Schuss zu viel Psychoanalyse drin. Sicher ist aber, dass Nietzsche und Bataille, Foucault und Baudrillard und eben auch Kittler oder Carl Schmitt die Wahrnehmung erweitert und vom schnöden Glauben an die Macht von Subjekt, Klasse und Geschichte befreit haben. Weswegen ich die Modernisierung Deutschlands („Reeducation“), die du dem Rock ’n’ Roll, AFN und Hollywood attestierst, aus heutiger Sicht viel kritischer beobachten würde als du oder Klaus Theweleit. Nicht, dass ich die Geschichte umdeuten oder gar umkehren möchte, dazu ist das alles viel zu sehr Lebensmittelpunkt geworden, aber man bekommt durch Vergleich oder Lektüre (links)politisch verfemter Denker ein breiteres und auch klareres Bild davon, wie Realitäten oder die so genannten „Verhältnisse“ durch politische Klipp-Klapp-Technik oder ihre Simplifizierung verzerrt oder entstellt werden, sei es durch den naiven Glauben, man könne Mündigkeit ebenso produzieren wie Unmündigkeit, sei es durch die Pädagogisierung sämtlicher sozialer Beziehungen.

Damit will ich nur sagen: Man kann sehr wohl Aufklärer sein, ohne das idealistische Erbe der Aufklärung mittragen zu wollen; und man kann auch Antimodernist sein, ohne die Errungenschaften der Moderne dementieren zu müssen. „Abklärung“ hat Luhmann das bekanntlich immer genannt, „Jenseits von Gut und Böse“ Nietzsche, während Kittler gern von der „Soße der Geisteswissenschaften“ sprach, die ihn zum „Ketzer“ und „Überläufer“ werden ließ. Meiner Beobachtung nach macht genau das den Erfolg Luhmanns, Kittlers und der Französischen Theorie in Deutschland in den 1980er und auch noch in den 1990er Jahren aus, dass sie das Denken (nicht von allen natürlich, siehe AKWler, Öko-Fuzzis und Friedensbewegte) vom moralischen Überbau befreien, der den bundesrepublikanischen Diskurs seit Auschwitz prägt, und den Blick wieder geschärft haben für das, was ist oder für die Geschichte davor.

Geoffrey Winthrop-Young: Klar, das ist vor allem im Zusammenhang mit Luhmann oft gesagt worden. Weil der Weg nach links immer abschüssiger wird, schlägt sich Genosse Trend nach rechts. Die MEW Bände verschwinden aus dem Regal, das Konkret-Abo wird gekündigt und utopisch befeuerte Sozialkritiker verkleinern sich zu funktionalistischen Systemtheoretikern. Luhmann bietet unterkühlte postemanzipatorische Ernüchterungstheorie, also das sachliche Schwarzbrot, das man zu sich nimmt, wenn man mit dem Kater fehlgeschlagener Revolutionen erwacht.

Das mag eine Rolle spielen. Ich finde bloß, Zeitgeistanalysen dieser Art sind – wie würde Luhmann das ausdrücken? – intellektuell nicht besonders satisfaktionsfähig. Vor allem untermauern sie historische Entstellungen, weil sie, so abgehoben sie sich auch präsentieren mögen, oft aus der Fortschreibung von Innenperspektiven bestehen. Einerseits reproduziert die These den Moralismus- und Naivitätsvorwurf an die erweiterte Frankfurter Theoriesippe, den ja schon Luhmann und Kittler selbst erhoben haben, andererseits reproduziert sie den von den Achtundsechzigern ja selbst schon erschaffenen Mythos, ihr Denken sei so beherrschend gewesen, dass alles, was danach kommt, in erster Linie als Reaktion auf ihren Beitrag zu werten sei. Polemisch formuliert: Die oft vorgetragene These, der Erfolg Luhmanns und Kittlers sei vornehmlich eine Reaktion auf das moralisierende Gehabe der Kritischen und anderer vermeintlich linksemanzipatorischer Theorien, besteht letztlich daraus, zwei diametral entgegengesetzte Projektionen zu einer These zu verramschen und das Ergebnis als historische Analyse zu verbraten. Umfassende historische Kontinuitäten fallen unter den Tisch. Statt Luhmanns Gegnerschaft zu Habermas et al. zu betonen, ist es sehr viel interessanter, darauf hinzuweisen, wie hinter und unter dem hohen Profil der Kritischen Theorie Verbindungen zwischen Luhmann und beispielsweise der in den 1950er Jahren so wirkmächtigen negativen Anthropologie von Gehlen et al. fortbestehen. Luhmanns Theorie wird für Zeitgeistanalysen interessanter, wenn man sie als den Abschlussmonolog, als die letzte große Arie der skeptischen Generation betrachtet.

Mir ist übrigens nicht ganz wohl bei deinem Versuch, Luhmann, Kittler und die Franzosen in einen (Rezeptions)Topf zu werfen. Vor allem aber habe ich Schwierigkeiten mit deiner These, ihre Wirkung verdanke sich der Tatsache, dass sie uns den Blick geschärft hätten für „das, was ist“. Da wir hier persönliche Lektüreerlebnisse austauschen: Ich halte mich für einen Leser von repräsentativer Durchschnittlichkeit, oder vielleicht blicke ich da einfach nicht durch, aber ich habe mir damals die billigen Merve-Bändchen voller Foucault, Deleuze, Virilio etc. ganz bestimmt nicht gekauft, um im Vollgefühl ernüchterter Abklärung und sachlicher Klarheit Einsicht zu gewinnen in das, was ist. Da waren doch Aufwallungen und delirierende Leserauscherlebnisse im Spiel, die auf der affektiven Ebene dem entsprochen haben mögen, was eine kurze Generation zuvor Leute beim Lesen der Dialektik der Aufklärung oder der Minima Moralia verspürten.

Monstersubjekt der Geschichte

Dass Friedrich Kittler sich in expliziter Frontstellung zu Adorno, Habermas und ihren Schülern positioniert und von Humanismus und Pazifismus nicht viel hält, ist bekannt. Mich hat aber verwundert, dass du ihn gleich noch zum „reaktionären Modernisten“ gestempelt hast?

Geoffrey Winthrop-Young: Als Michael Wutz und ich vor rund zehn Jahren an der Einleitung zur Übersetzung von Grammophon Film Typewriter saßen, ging es uns darum, Kittler in einen größeren Traditionszusammenhang einzuordnen, um das einseitige Bild vom poststrukturalistischen Techniktheoretiker zu korrigieren, das sich vor allem in der amerikanischen Kittler-Rezeption eingespielt hat. Wir hätten, wie etwa Knut Hickethier das tut, eine Verbindung herstellen können zwischen Kittlers Medienwissenschaft und dem differenzierten Medialitätskonzept der Aufklärung, wie es bekannterweise in Lessings Laokoon auftaucht. Aber wir wollten etwas, was sich mit Kittlers Selbstaussagen deckt. Und da bietet es sich an, Kittler als Verlängerung der Linie Jünger-Heidegger zu untersuchen.

Was Kittler an Jünger fasziniert, ist dessen Versuch, die Technik – genauer: die Auswirkungen der kriegsbedingten Entfesselung der Technik einschließlich der dazu gehörigen Gesamtmobilisierung von Material und Menschen – so hoch anzusetzen, dass sie alle ökonomischen Entwicklungen, politischen Organisationsformen und ideologischen Träume unter sich begräbt und am Ende quasi als Monstersubjekt der Geschichte übrig bleibt. Nun hat Jeffrey Herf in seiner im angelsächsischen Raum weithin rezipierten Studie Reactionary modernism die griffige These aufgestellt, dass solche Technikspekulationen den Versuch darstellen, dem rechtskonservativen Lager die angestammte Technikfeindschaft auszutreiben. Diese Feindschaft beruhte auf der Gleichsetzung des technischen Fortschritts mit dem ungeliebten sozialen Wandel. Mehr Technik und Industrie, das führt automatisch zur Auflösung natürlicher Herrschaftsverhältnisse und den Verwahrlosungen der modernen Massengesellschaften. Wo die Industrie herrscht, herrscht der ungeliebte Liberalismus und nach ihm vielleicht noch Schlimmeres.

Die reaktionären Modernisten mobilisierten ein recht effektives Gegenargument: Ja, die Technik ist eine umwälzende Kraft, aber es stimmt nicht, dass sie automatisch zum Liberalismus und anderen Erkrankungen der Moderne führt. Im Gegenteil, es ist möglich, vormoderne Gesellschaftsformen und hochmoderne Technik zu vereinigen. Tönnies’ Gemeinschaft und der Ruhrpott – das geht zusammen. Diese seltsame Mischung aus Morgen und Vorgestern klingt noch in der ‚stählernen Romantik’ der Nazis an; man munkelt sogar, dass sie in vielen utopischen Szenarien der freiheitlich bewegten 1960er anwesend ist. Der Vorschlag, zwecks Erhellung intellektueller Hintergründe eine versuchsweise Verbindungslinie zwischen Kittler und den reaktionären Modernisten herzustellen (von „abstempeln“ kann keine Rede sein), hat nichts mit einem vermeintlichen antidemokratischen Gestus Kittlers zu tun, sondern einzig und allein mit der drastischen Entkopplung von technischem und sozialemanzipatorischem Fortschritt. Unter dieser Prämisse halte ich den Vorschlag für durchaus legitim.

Mir geht es bei alledem weniger um eine politische Einordnung, die zu oft und dann auch zu automatisch betrieben wird, als vielmehr um eine historische Einordnung Kittlers, die zu selten und dann auch zu kurzsichtig erfolgt. Freilich kommen mir oft Zweifel am Label reactionary modernism. Letztlich bleibt es einem fragwürdigen Deutschlandbild verhaftet. Herfs Formel erweitert, was Thomas Mann dem Bismarckreich attestiert hat, nämlich dessen „Mischung von robuster Zeitgemäßheit, leistungsfähiger Fortgeschrittenheit und Vergangenheitstraum“. Aber diese heterochrone Mixtur aus vorwärts und rückwärts, morgen und vorgestern, ergibt ja nur Sinn, wenn man davon ausgeht, dass es einen normalen Geschichtsverlauf gibt, in dem alles einigermaßen synchron abläuft, und von dem der deutsche Sonderweg abzuzweigen scheint. Doch worauf beruht diese Normalität? Wo kommt sie her? Antwort: Es ist nichts als die anglo-französische Nationalstaatsentwicklung. Wieder einmal wird ein kleines Stück Nordwesteuropa zur historischen Norm zu erheben.

Im Übrigen haben Michael Wutz und ich auch versucht (wir fanden das recht unterhaltsam), Kittler, salopp gesagt, in eine deutsche Daniel-Düsentrieb-Tradition einzuordnen. Grammophon Film Typewriter ist schließlich die größte Ingenieursverherrlichung aus den Händen eines entlaufenen Geisteswissenschaftlers seit Spenglers Untergang des Abendlandes. Von Kittler führt ein Weg zurück zu den Romanen Hans Dominiks, Bernhard Kellermanns schönem Tunnel, den überlebensgroßen kruppstahlharten Ingenieur-Heroen vergessener Gründerzeitromane und schließlich zu Goethes mörderischem Deichbauer Faust. Wie Daniel Düsentrieb zu sagen pflegt (und ist das nicht das geheime Motto der härteren Medienwissenschaften?): Dem Ingenör ist nichts zu schwör.

Werkzeugkastenzugang

Wie kommt übrigens Friedrich Kittler in Amerika an? Genießt er mehr Resonanz als beispielsweise Luhmann? Und wenn ja, warum ist das so? Was hat er, was Luhmann nicht hat?

Geoffrey Winthrop-Young: Er kommt nicht schlecht an; zurzeit befindet er sich in der großen Grauzone zwischen Geheimtipp und Autorität. Zwei Bücher, eine Sammlung, diverse Aufsätze und Buchkapitel von ihm (und über ihn) und Ende dieses Jahres ein Spezialausgabe für eine angesehene englische Theoriezeitschrift – das ist gar nicht so selbstverständlich, wenn man bedenkt, dass seine Texte zuweilen recht esoterisch sind und sich nur schwer übersetzen lassen.

Schaut man jedoch genauer hin, stößt man auf etwas Interessantes. Die ersten – übrigens sehr guten – nordamerikanischen Einführungen zu Kittler stammen von zwei US-Germanisten, Robert Holub und David Wellbery. Die sind gleich zu Beginn der 1990er Jahre erschienen. Doch danach herrscht, von ein paar Anmerkungen und Rezensionen abgesehen, germanistischerseits Schweigen im Walde. Rund zehn Jahre lang vollzieht sich die Kittler-Rezeption in erster Linie in den Englischabteilungen, und zwar unter der Obhut von Forschern wie Mark Hansen, John Johnston, Mark Seltzer oder Joseph Tabbi, Wissenschaftlern also, die sich auf die Wechselwirkungen zwischen Literatur und Technologie in der amerikanischen Moderne und Postmoderne spezialisieren. Dementsprechend konzentriert sich diese Rezeption primär auf Grammophon Film Typewriter, die Sammlung Literature Media Information Systems (die in etwa Draculas Vermächtnis entspricht) und den zweiten Teil der Aufschreibesysteme. Kittler ist also fast ausschließlich als Medientheoretiker, nicht als Literaturwissenschaftler angekommen. Was er in seiner diskursanalytischen Frühphase über die Goethezeit geschrieben hat, war in Nordamerika irrelevant (in der aktiven skandinavischen Rezeption Kittlers ist das ganz anders).

Und das beantwortet zum Teil deine Frage, was er Luhmann voraushat: Kittler ermöglicht einen Werkzeugkastenzugang. Man kann seinen Turing aufgreifen, ohne sich um seinen Lacan kümmern zu müssen. Hinzu kommt, dass er vor allem für technologisch interessierte US-Literaturwissenschaftler eine zeitgemäße Vertiefung bietet. Es ist kein Zufall, dass das Interesse an Kittler zu genau dem Zeitpunkt zunahm, als die Euphorie für Hypertexte, die man auf Teufel komm raus als Materialisation der Theorien Derridas anzupreisen versuchte, abflaute. Kittler bot eine umfassende, weniger naive und interpretationssüchtige Alternative zur medienwissenschaftlichen Herangehensweise an Texte, die freilich immer noch den geschätzten poststrukturalistischen Vordenkern verpflichtet schien. Ob das vorhält, weiß ich nicht. Die wenigen mir bekannten amerikanischen und medienwissenschaftlichen Kollegen, welche des Deutschen mächtig sind und die die neueren kulturwissenschaftlichen und griechischen Arbeiten Kittlers gelesen haben (mitsamt ihrer europazentrischen Perspektive), schütteln, glaube ich, etwas ratlos die Köpfe.

Deutschen Kulturraum neu vermessen

Das Kopfschütteln hat auch manche Beobachter hier zu Lande erfasst. Wie einst Heidegger am Ende seines Lebens hält auch Friedrich Kittler Einkehr bei den Griechen. Warum sucht er den Weg zurück zu den Griechen? Handelt es sich da nur um die private Obsession eines Universalgelehrten, der, wie ein Kritiker jüngst bemerkte, die „unselige exzessive Segmentierung der Geisteswissenschaften“ fortsetzt? Oder was ist dort Neues zu entdecken, was nicht schon gesagt und aufgeschrieben ist?

Geoffrey Winthrop-Young: Es gilt zu entdecken, wie genau damals Sachen gesagt und aufgeschrieben worden sind. Dafür gibt es zwei Gründe. Erstens wurden diese frühen Aufschreibetechniken schon sehr bald, nämlich bereits zur Zeit des von Kittler nicht sonderlich geschätzten Aristoteles (quasi der mazedonische Habermas) philosophisch ignoriert; und auf genau dieser Entstellung hat die klassische Philosophie ihr Haus errichtet, in dem wir zum Teil immer noch Unterschlupf suchen. Philosophie ist bei Kittler ja immer eine Form von Schriftsystemvergessenheit. Zweitens fielen in diesen Techniken Schreiben, Rechnen und Zupfen zusammen, weil ein und dasselbe Zeichenrepertoire Buchstaben, Ziffern und Noten umfasst, bevor sie in je eigene Zeichensysteme ausdifferenziert wurden. Und da eröffnen sich Bezüge zur digitalen Wiederaufhebung dieser Unterschiede im Computer.

Ganz nebenbei handelt es sich hier um ein neues Kapitel in der stürmischen Affäre zwischen Deutschland und den Vorsokratikern bzw. anderen, weniger bekannten und von der Schulphilosophie abgekanzelten altgriechischen Denkschulen, die im Vergleich zu Platon und Aristoteles nicht erst genommen werden. Ob Nietzsche, die Weimarer Vorsokratiker-Begeisterung (Heidegger, Karl Reinhardt, Ernst Hoffmann, Kurt Riezler, Julius Stenzel) oder Kittler – unter der Hand handelt es sich immer wieder um den Versuch, die kulturellen Probleme der Gegenwart anhand des Verhältnisses zwischen klassischer Griechenzeit und den verpönten Vorsokratikern oder Pythagoräern abzuhandeln, indem man erstere auf- und letztere abwertet. Es ist allerdings ein recht merkwürdiges Kapitel, diese Wendung zum Archaischen unter hochtechnischen Liebes-Vorzeichen.

Zuweilen ist eine merkwürdige Form von wortzentrierter intentio rectissima. In gewisser Weise erinnert das ganze Projekt an Heinrich Schliemann: Vom Wörtlichnehmen der Ilias zur Fundamentaletymologie des homerischen Vokabulars. Letztere ist Heidegger abgeschaut, und da frage ich mich, inwieweit die Einwände, die gegen Heideggers philologisch dubiosen Wortversenkungen erhoben worden sind, auch auf Kittler zutreffen.

Sehr viel wichtiger, merkwürdiger, bedenklicher erscheint mir jedoch die ganze Liebesproblematik. Oder, um Klartext zu reden: die Frauenproblematik. Wenn ich hier gefragt werde, was denn die heiklen Punkte Kittlers seien, rede ich immer von den drei W: war, women and writing style. Und die beiden letzteren sind im Griechenprojekt besonders heikel. Mein Eindruck war immer, dass sowohl feministische als auch genderwissenschaftliche Ansätze die Aufschreibesysteme nicht richtig aufgegriffen haben. Natürlich ist es ein sehr problematischer Text, aber das sind die Texte von Lacan auch, und sowohl in Frankreich als auch in Deutschland gab es da sehr viel weniger Berührungsängste. Es ist noch zu früh, hier Urteile zu fällen, doch mir scheint, dass die neuen griechischen Texte dazu neigen, Geschlechterverhältnisse, die in den Aufschreibesystemen noch als kulturtechnisch kodierte analysiert wurden, auf elementare heteronormative Natürlichkeiten zurückgeführt werden. Es gibt Mann und Frau, und zu unser aller Leidwesen mischen sich keine Götter und Göttinnen mehr zwischen sie. Was hätte der an anderen griechischen Liebesverhältnissen interessierte Foucault dazu gesagt?

Techno-kulturelle Sonderwege

Spannend daran ist vielleicht weniger das „Geschlechterverhältnis“ als vielmehr die (du hast es gerade erwähnt) „europazentrische Perspektive“, die sich da plötzlich neu öffnet. Mit ihr könnte man nämlich die Rede von der „Einheit des Westens“ bzw. der ursprünglichen Einheit westlicher oder abendländischer Werte explizit in Frage stellen oder gar dementieren. Es gäbe mithin allenfalls Griechen und Westler, Byzantiner und Römer, Alteuropäer und Universalisten. Diese Unterscheidung, wenn sie sich denn historisch untermauern ließe, könnte dem „Kampf der Kulturen“ möglicherweise eine neue Variante, Wendung oder gar Spitze geben.

Geoffrey Winthrop-Young: Die besondere Spitze kommt dadurch zustande, dass diese Rückkehr zu den Griechen mit einer Abkehr von außereuropäischen, d.h. orientalischen und amerikanischen (Kultur)Räumen zusammen zu fallen scheint. In einem schönen Aufsatz, der Ende des Jahres erscheinen wird, analysiert Claudia Breger (die auch sehr klar über die eben erwähnte Frauenproblematik schreibt), wie Kittler darum bemüht ist, ein quasi reines, von allen vorderasiatischen Einflüssen geläutertes europäisches Griechenland herzustellen. Nimmt man seine antiamerikanischen Ausfälle hinzu (also vor allem den Versuch, den cultural studies eine sehr deutsche, klassikerbewusste Kulturwissenschaft gegenüberzustellen), so erinnert das doch sehr an Heidegger: Ist von Europa die Rede, so steckt dahinter in erster Linie Deutschland, und ist von Deutschland die Rede, dann geht es in erster Linie um Sprache und Kultur bzw. um ein kulturraumspezifisches Ensemble kulturtechnischer Fertigkeiten, die eine besondere Beziehung zu griechischen Altkultur herzustellen vermögen. Und aus diesem privilegierten innereuropäischen Kurzschluss, der griechisch-deutschen Kulturachse, erwächst der dritte, vornehmlich deutsche Weg, der sich von Ost und West gleichermaßen absetzt.

Dann wären wir wirklich wieder bei einem deutschen Nationalkonservatismus gelandet, bei Carl Schmitt und der Frage nach einer europäischen Großraumordnung, die durch eine Art kultureller Monroe-Doktrin, ein Interventionsverbot für kulturfremde Mächte abgesichert wird, eine Option, die geopolitisch schon WK II befeuert hat.

Geoffrey Winthrop-Young: Aber auch und gerade wenn wir in Kittlers Parametern verbleiben, stellt sich doch die Frage, ob angesichts der technisch, zumal waffentechnischen Entwicklung, die er beschreibt, kulturraumzentrierte Selbstbehauptungsprojekte überhaupt noch ins Gewicht fallen. Wie steht es denn sechzig Jahre nach Peenemünde um solche Monroe-Großräume? Und der Weltkrieg, so wie zumindest Kittler ihn schildert, war kein territorialer Konflikt, sondern ein pynchoneskes Spektakel, in dem Ressourcen, Technologien und Konzerne miteinander im Clinch lagen. Die Geopolitik war der Technopolitik eindeutig nachgeordnet.

Genau diese Raumvergessenheit würde ich den Medienwissenschaften zum Vorwurf machen. Weniger vielleicht Kittler, bei dem diese Komponente m. E. stets, aber unausgesprochen mitschwingt, als vielmehr dem Tross von Händlern, die sie jetzt verbreiten. Geopolitik der Technopolitik nach- oder gar unterzuordnen, war und ist aber ein großer Fehler. Das zeigt nicht nur ein Blick in die jüngere Geschichte, wo Landnahmen mit medialen Expansionen Hand in Hand gehen; das zeigen auch die humanitären Kriege auf dem Balkan, der Kampf um Rohstoffe, Ressourcen und Energiereserven, oder auch der Versuch Chinas, dem Free Flow of Information eine eigene Monroe-Doktrin entgegenzuhalten. Bis heute ist mir unerfindlich, warum man die Raumdimension aus dem Mediendiskurs ausblendet. Außer man wertet das als Zeichen, dass auch die Medienwissenschaften (wie vorher schon die Soziologie) ihre Prüfung in „Reeducation“ bestanden hätten und den Raum für ein politisch vermintes und höchst vergiftetes Terrain halten.

Geoffrey Winthrop-Young: Ich glaube, diese Ausblendung der Raumdimension hängt nicht zuletzt damit zusammen, dass wir bei aller Kritik den Medien immer noch ein bisschen auf den Leim gehen. Es hat so lange gedauert, bis der automatische Kurzschluss zwischen Medien und Sinneserweiterung oder der zwischen Medien und Kommunikation hinterfragt wurde. Aber wir wollen noch nicht so recht begreifen, in welchem Maße Medien statt der scheinbar natürlichen Expansion auch der Abwehr und der Intransparenz dienen können. Schon bei Harold Innis findet sich die Tendenz, sich, was den Zusammenhang von Medien und Imperien angeht, in erster Linie auf Raum erweiternde statt auf Raum abgrenzende Funktionen zu konzentrieren. In gewisser Weise wird den Medien unterstellt, was vom Kapitalismus gesagt wird: Sie gehen immer nur nach außen, wollen mehr, besetzen immer größere Räume bis kein Raum außerhalb ihres Einzugsbereiches mehr übrigbleibt und es sich folglich auch nicht lohnt, am Raumbegriff festzuhalten.

Es gibt aber bemerkenswerte Ausnahmen. Beispielsweise die Arbeiten von Bernhard Siegert. Er zeigt gerade im Zusammenhang mit überseeischen Landnahmen (wie auch dem Versuch, der Ortlosigkeit des großen Meeres Herr zu werden), wie Medien und Navigationswissen von der Erkundung unbekannter Räume uneuropäischen Ausmaßes mobilisiert werden. Es werden in der Auseinandersetzung mit spezifischen Räumen spezifische Instrumente und Techniken entwickelt, die dann aber zu allgemeinen, von ihrem Ursprungstext abgelösten Beschreibungssystemen erweitert werden. Das ist weniger eine Medienarchäologie als eine Medienraumarchäologie; und das ist eine Vorgehensweise, von der im Zusammenhang mit heutigen Medien zu wünschen wäre, dass man nicht vierhundert Jahre warten muss, bis sie vorliegt.

Um vom Raum der Medien auf den der Medientheorie überzuleiten: Du sprichst von einer genuin „deutschen“ Medienwissenschaft, möglicherweise genau in dem Sinn, wie man vor und während WK II noch von einer „deutschen Physik“, „deutschen Kultur“, „deutschen Rechtswissenschaft“ usw. gesprochen oder vielmehr geträumt hat.

Geoffrey Winthrop-Young: Für mich klingt „deutsche Medientheorie“ eher wie deutsche Autos, deutsches Bier oder deutscher Haselnussbrotaufstrich – Konsumgüter also, wo gerade deutsche Markenartikel sich besonderen Ansehens erfreuen. Das hat mit brauner Nationalmystik nichts zu tun. Ich gebrauche deutsche Medientheorie zunächst mal als schlichte Herkunftsbezeichnung. Aber ich gebe gern zu, dass ich den Ausdruck auch (ganz wie französischer Poststrukturalismus, schweizer Kuckucksuhren oder schwedische Abholmöbel) als Qualitätsmerkmal verwende. Hier wird auf einem speziellen Gebiet im Vergleich zur internationalen Konkurrenz etwas Interessantes, Brisanteres, in mancherlei Beziehung Höherwertiges geleistet. Diese gegenwärtige Spitzenstellung, meine ich, verdankt sich spezifischen Bedingungen, die aus einem Zusammenfall von institutionellen, theoriegeschichtlichen und kollektiven Prozessen bestehen.

Um überflüssigen Missverständnissen vorzubeugen: Ich weiß, dass es kein urdeutsches Wesen gibt, aus dem man eine volkseigene Theorieproduktion ableiten kann. Ich weiß, es gibt auch in Deutschland medientheoretische Bereiche und Ansätze, die im internationalen Vergleich eher unterbelichtet sind. Und ich weiß, dass Vergleiche dieser Art immer ein bisschen nach Schulhof und Sandkasten riechen (Mein Papa ist viel größer als deiner – Ja, aber meiner hat ’ne viel bessere Medientheorie). Doch ich denke, man kann heutzutage nicht wirklich ernsthaft Medientheorie betreiben, ohne sich auf das einzulassen, was in Deutschland geleistet wird.

Medienwissenschaft ist spezifisch deutsch

Welche „institutionellen, theoriegeschichtlichen und kollektiven Prozessen“ prallen denn da aufeinander? Was wäre deiner Meinung nach diese kulturelle Besonderheit, die dazu führt, dass diese Form von Medientheorie oder Mediengeschichte gerade in Alteuropa gedeihen kann?

Geoffrey Winthrop-Young: Ich stecke zur Zeit mitten in einem längeren Paper zu genau dieser Frage und kann dir daher nur in sträflicher Verkürzung ein paar halbgare Spekulationen anbieten, wobei, erstens, ich dazu neige, das, was du in räumliche Kategorien fasst, als Ergebnis verschiedener evolutionärer Entwicklungen zu beobachten, und, zweitens, es mir spezifisch um Deutschland, nicht um „Alteuropa“ geht. (Ich weiß, du meinst das sicher nicht so ernst, aber ich muss als Kanadier, als Bürger des Landes, das nicht von ungefähr Innis und McLuhan hervorgebracht hat, jegliche Unterstellung zurückweisen, Medientheorie gedeihe nur auf europäischem Boden.).

Was fällt ausländischen Beobachtern an der deutschen medientheoretischen Szene auf? Da ist beispielsweise das hohe Profil konstruktivistischer und systemtheoretischer Ansätze, die anderswo nicht so wichtig sind. Mir scheint, ihre Präsenz im deutschsprachigen Raum hat nicht zuletzt mit ihrer Anschlussfähigkeit an epistemologische Fragestellungen zu tun, die – von Kant über die Phänomenologie bis hin zum Konstruktivismus selbst – in der deutschen Philosophie traditionell stark ausgeprägt sind. Medien ermöglichen es, Diskussionen über Erkenntnisvoraussetzungen und Wirklichkeitszugänge aufs Niveau des 21. Jahrhunderts zu heben.

Doch die Sache reicht, glaube ich, sehr viel tiefer. Um das nun wirklich fahrlässig amputiert anzuschneiden: So wie die anhaltende englische Beschäftigung mit kulturellen Binnenabgrenzungen – von den proletarierfeindlichen Bildungspropheten des Viktorianismus bis hin zur zweiten oder dritten Generation der identitätspolitisch engagierten cultural studies – sich einschneidenden kulturellen Differenzerfahrungen verdankt (seien sie nun, wie im 19. Jahrhundert, ökonomisch determiniert oder, wie jetzt in der nachimperialistischen Phase, eher eine Frage ethnischer und rassischer Bruchlinien), so sind Produktivität und Profil der deutschen Medientheorie der akademische Niederschlag einschneidender kollektiver Medienerfahrungen, die gut zwei Jahrhunderte zurückreichen.

Ob Kittlers „Medien bestimmen unsere Lage“, die Frankfurter Fragmente zur Herrschaft der bösen Kulturindustrie oder Sloterdijks Beschreibung Deutschlands als innermedial „stressierter“ Gemeinschaft, die zusammen das Gleiche hört, fernsieht und sich dann gemeinsam darüber aufregt – über formidable ideologische Gräben hinweg erscheinen Medien durchgängig als etwas Vorgängiges, Bestimmendes. Und das, behaupte ich mal ganz plump, ist (der kanadischen Situation übrigens durchaus vergleichbar) ein Ausfluss kollektiver geschichtlicher Erfahrungen im Umgang mit Medientechnologien. Um nur die allerwichtigsten Stationen aufzulisten: Die Mobilisierungen der Revolutions- und Napoleonsepochen über den katastrophal raschen Einbruch der Technik während der Gründerzeit, die technisch fabrizierten Massenabschlachtungen des Ersten Weltkrieges, der gleichermaßen desorientierende Einbruch der amerikanischen Massenmedien in die Weimarer Republik, der sich unter anderem in den berühmten futuristischen Szenarien jener Zeit und ihrer kulturell sehr aufschlussreichen Hypnose-Paranoia entlädt, und natürlich der Medienpopanz der Nazis.

Das sind medialgeprägte kollektive Erfahrungen, die oft als Zwangshomogenisierungen verarbeitet wurden und später dann Medien jenen eigentümlichen Nimbus verliehen haben, den sie in der deutschen Theorie mehr als anderswo haben. Ob es wirklich den von Kracauer behaupteten Übergang von Caligari zu Hitler gibt, weiß ich nicht, ganz sicher gibt es einen von Caligari zu Kittler. Und auch da, wo Medienerfahrungen eher positiv gewertet werden, wie beispielsweise in Klaus Theweleits Einschätzung der amerikanischen Rockmusik als dem eigentlichen Faschismusbesieger, bleibt die Struktur erhalten.

Medienwissenschaftliche Selbstüberschätzung

Das würde auch erklären, warum man mittlerweile nahezu jedes Problem zu einem Medien-Problem macht: die Wahrnehmung, den Sport, die Kommunikation, die Schule etc. Handelt es sich da um eine besondere Art von Medien-Panik, die die deutschen Wissenschaftler wie ein Virus befallen hat oder schlichtweg um Selbstüberschätzung?

Geoffrey Winthrop-Young: Kein Zweifel, die Medienwissenschaften sind von ihrer eigenen Wichtigkeit überzeugt. Aber für mich ist die Frage, ob diese Selbstüberschätzung berechtigt ist oder nicht, weit weniger interessant als die Frage, woher sie stammt. Aber das ist eine historische Frage, ein nachlässiger Luxus, den ich mir als Beobachter aus der Distanz leisten kann.

Hast du eine bündige Erklärung dafür? Woher kommt diese Selbstüberschätzung?

Geoffrey Winthrop-Young: Wenn an meiner flüchtigen historischen Herleitung dieser Medienfixierungen was dran ist, dann ist diese Selbstüberschätzung geradezu unvermeidlich. Was gibt es wichtigeres als Medien? Deutschland ist ja ein Medienprodukt. Ich würde ganz knapp noch zwei Dinge hinzufügen: Erstens besteht ein Zusammenhang (Hartmut Winkler hat in seiner Diskursökonomie darauf hingewiesen) zwischen medientheoretischem Anspruchsdenken und dem Dotcom-Boom der 1990er Jahre – jeder konnte eine Internetfirma gründen bzw. deren Aktien kaufen und übers Jahr Millionär werden, jeder kann Medientheorie betreiben und alle möglichen Probleme lösen. Zweitens handelt es sich um ein germanistisches Erbe. Viele Medientheoretiker sind ehemalige Germanisten, die ihre angeknackste Disziplin hinter sich gelassen haben und in die Relevanz der Medien geflüchtet sind. Zwei Dinge haben sie auf ihrer Flucht mitgeschleppt: eine Neigung zur philologischen Strenge und den Anspruch, einer Leitdisziplin zu dienen.

Flucht und Wille haben aber zu keinem einheitlichen Paradigma geführt. Weder ist es gelungen, sich über einen Medienbegriff zu verständigen noch sich theoretisch auf gewisse Vorgaben zu einigen. Jeder, gleich ob in Basel, Regensburg, Weimar oder Köln, scheint zu machen und zu forschen, wie es ihm beliebt. Was dazu geführt hat, dass man es mit mannigfachen, stetig ausufernden Einzelstudien und Kompendien zu tun hat, die langweilen und niemand wirklich interessieren.

Geoffrey Winthrop-Young: Persönlich habe ich nichts gegen „Sprachverwirrung“. Im Gegenteil, das Klagen darüber, dass sich Leute nicht darauf einigen können, was Medien eigentlich sind, erinnert mich an die große Szene zu Beginn von Asterix als Legionär: Obelix rennt versehentlich einen Baum um und bringt dann aber als Entschuldigung vor: Der Wald ist aber auch in einem schlechten Zustand, überall sind Bäume. Ähnlich klingt es hier: Die Medientheorie ist in einem schlechten Zustand, überall herrscht „Lärm und Zank“. Aber – um zum Beginn unseres Gespräches zurückzukehren – das ist doch völlig normal. Wieso verlangt man von den Medienwissenschaften eine Einigkeit der Einzelgänger, die Kultur-, Literatur- und Sozialwissenschaften ja auch nie erbracht haben?

Zumindest wissen diese Disziplinen, wofür sie zuständig sind und wofür nicht. Das scheint mir, wenn man sich die Studiengänge anguckt, in den Medienwissenschaften ungewisser denn je. Was erwartest du dir noch von den Medienwissenschaften? Wohin glaubst du könnte oder sollte der Zug fahren? Oder hat sie mit ihrer Institutionalisierung, wie ich meine, ihre Zukunft bereits hinter sich?

Geoffrey Winthrop-Young: Ob die Literaturwissenschaften – vor allem während der letzten zwanzig Jahren – immer noch einen genauen Begriff davon haben, wofür sie zuständig sind und wofür nicht, bezweifle ich. Und viele benutzen das Passepartout Kulturwissenschaften doch genau so wie Luhmann einst das Label Soziologie, also als Freibrief, über alles zu reden.

Ich kann keine Prognosen anstellen, dazu bin ich schlicht zu uninformiert. Was in Zukunft geschehen wird, wird zu einem großen Teil davon abhängen, wie die ständigen Reibereien zwischen Paradigmenvielfalt und Institutionalisierungsdruck sich entwickeln. Aber letzteres kann man wirklich nur aus der Insiderperspektive beurteilen, oder man muss zumindest mehr Einblick haben als ich.

Ich kann nur ganz egozentrisch sagen, was ich will bzw. was mir hier, fernab am westlichsten Ende der Welt, gefällt. Mir sagt diese medientheoretische Zersplitterung zu. Das ist nicht nur eine Temperamentsfrage; ich glaube auch, dass es einen ursächlichen Zusammenhang gibt zwischen dieser Raubrittermentalität (jeder hockt auf seiner Burg, zieht ab und zu plündernd zu Tal und kümmert sich nicht groß um den Nachbarn) und der erhellenden Schärfe vieler Beiträge. Möge das Paradigmenpandämonium noch eine Zeit lang währen. Mit einer Ausnahme: Ich wünsche mir, schlicht weil das meiner Veranlagung wie auch meinen Forschungsinteressen entspricht, mehr historische Modelle. Damit meine ich nicht historische Fallstudien, davon gibt es viele, sondern mehr Versuche, wie Hartmut Winkler das beispielsweise tut, aus dem Ineinander von Medienpraktiken technologischer Entwicklung kulturelle Kontinuitätsmodelle zu entwickeln. Wie gesagt, das ist meine persönliche Vorliebe; doch es wäre schön, wenn man irgendwann mal diese Modelle benutzen könnte, in selbstbezüglicher Manier die Geschichte deutscher Medientheorie besser auszuleuchten.