Das Webforum als "besonders gefährliche Einrichtung"

Heise-Urteil: LG Hamburg bremst User Generated Content

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Knapp fünf Monate nach Verkündung des Aufsehen erregenden Urteils zum Webforum des Heise Zeitschriften Verlages hat die Zivilkammer 24, die Pressekammer des Landgerichts (LG) Hamburg, die Urteilsgründe bekannt gegeben (Urteil vom 2. Dezember 2005 – Az.: 324 O 721/05; nicht rechtskräftig). Dem Heise Zeitschriften Verlag wurde bekanntlich verboten, Forumsbeiträge zu verbreiten, in denen dazu aufgefordert wird, durch massenhafte Downloads den Serverbetrieb eines Dritten zu stören. Das Urteil wird wegen seiner weit reichenden Begründung bis auf weiteres erhebliche Auswirkungen für alle Anbieter von „User Generated Content“-Angeboten, wie etwa Webforen, Diskussionsboards, aber auch Weblogs und Gästebüchern haben.

Bevor sich Gerichte „User Generated Content“ (UGC) Angeboten widmeten, galt UGC vor allem als Schlagwort für wirtschaftliche und gesellschaftliche Hoffnungen: Morgan Stanley sieht hier eine der Formen des „Next Generation Content“, mit dem die Medien- und Internetbranche ihre Umsätze noch deutlich wird steigern können. UGC-Nutzer wiederum schätzen an den Angeboten, dass sie nicht dem „Mainstream“ klassischer Presse- und Rundfunkangebote folgen. Bei ihnen gilt UGC als Speerspitze der Demokratisierung der Medienproduktion durch neue Technologien, die zugänglich und erschwinglich sind.

Für das LG Hamburg dagegen ist ein Webforum eine „Gefahrenquelle“, eine „besonders gefährliche Einrichtung“, eine „Einrichtung, von der wegen ihrer schweren Beherrschbarkeit besondere Gefahren ausgehen“. Was in der Medienlandschaft Kopfschütteln hervorruft, hat einen nüchternen juristischen Hintergrund: die Störerhaftung. Im Interesse des Verletzten nimmt das Recht nicht nur Zugriff auf den Verletzer, etwa den Urheber einer persönlichkeitsrechtsverletzenden Äußerung. Auch Dritten, die dessen Rechtsverletzung begünstigen und aufrechterhalten, zum Beispiel durch die Bereitstellung eines Mediums, kann die weitere Verbreitung kostenpflichtig verboten werden. Dies ist aber nur dann möglich, wenn ihm die Verbreitung als Störer zugerechnet werden kann. Weiß er nicht um die konkrete Verletzungshandlung, ist dies nur der Fall, wenn ihm unter Berücksichtigung aller Umstände eine Pflicht zur Überprüfung auferlegt werden kann.

Dabei sind allgemeine und individuelle Interessen zu berücksichtigen: An der Zulässigkeit der Produktion von Kraftfahrzeugen wird trotz unvermeidlich hoher Unfallzahlen nicht gezweifelt, Verlage müssen bei der für sie grundsätzlich gebotenen Überprüfung des Inhalts ihrer Presseprodukte zum Teil, wie bei Leserbriefen und Anzeigen, nur offensichtliche Rechtsverstöße erkennen. Die Presse muss aber den gesamten Inhalt des Produkts vor Erscheinen überprüfen. Genau diese Pflicht sieht das LG Hamburg nun uneingeschränkt auch für Webforen vor. Besondere allgemeine oder individuelle Umstände, die eine Überprüfung unzumutbar machten, kann das LG Hamburg nicht entdecken. Mit Blick auf die individuelle Zumutbarkeit sieht die Pressekammer keinen Unterschied darin, ob fünf ausgewählte Leserbriefe nach redaktioneller Entscheidung mit der Auslieferung der Ausgabe veröffentlicht werden, oder ob tausende Kommentare in Echtzeit ins Netz gestellt und gegebenenfalls auch zeitnah wieder entfernt werden können. Wirtschaftliche Argumente, die für eine Unzumutbarkeit sprächen, lässt die Kammer ebenfalls nicht gelten: Wer in „riesenhafter Zahl“ Äußerungen verbreite, müsse mit „sachlichen und personellen Ressourcen“ in der Lage sein, den „Geschäftsbetrieb zu beherrschen“.

Die eingangs erwähnten „medialen“ Hoffnungen verbindet die Kammer mit „User Generated Content“ anscheinend nicht, Besonderheiten des Mediums Internet kann das Gericht auch insoweit nicht erkennen. Auf die Frage, ob der Anbieter eines Webforums wegen eines allgemeinen Interesses an Diskussionsforen, in denen die Nutzer in Echtzeit und ohne vorherige Überprüfung kommunizieren können, eine weitergehende Privilegierung erfahren müsse, geht das Gericht erst gar nicht ein. Vielmehr durchzieht die Beschreibung der „pressemäßigen“ Verbreitung das gesamte Urteil. Inwieweit die Verbreitung über Internetforen der bei der Presse aber tatsächlich wirklich ähnelt, klärt das Gericht nicht.

Genau dieser Umstand wurde schon vor der Urteilsbegründung in der „ZEIT“ als „netzfremd“ kritisiert. Und in der Tat: Mit der gleichen Argumentation ließen sich auch Live-Interviews in Hörfunk und Fernsehen verhindern. Dabei hatte der Bundesgerichtshof (BGH) schon 1976 eben wegen eines allgemeinen Interesses an Liveformaten die Möglichkeit der Inanspruchnahme von Rundfunkveranstaltern als Störer im Fall „Bittenbinder“ deutlich reduziert. Das oberste Zivilgericht stellte ausdrücklich klar, dass es „dem Wesen und der Funktion des Mediums“ bei Live-Sendungen widerspräche, „neben oder gar anstelle des eigentlichen“ Verletzenden in Anspruch genommen zu können. Art. 5 GG verbiete die „vorschnelle Bejahung“ der Störereigenschaft.

Überhaupt ist bemerkenswert, dass das LG Hamburg die vielfältige Kritik, die schon vor dem Vorliegen der schriftlichen Urteilsgründe laut wurde, in den Gründen nicht reflektiert hat und im Gegenteil noch über die vor etwas mehr als einem Jahr ergangene Ricardo-Rolex-Rechtsprechung des BGH hinausgegangen ist. Dem BGH zufolge dürfen jedenfalls Internetversteigerern keine Prüfpflichten auferlegt werden, die das gesamte Geschäftsmodell in Frage stellen, und der BGH sprach auch von technischen Vorkehrungen zum Schutze Dritter, nicht von „verantwortlichen Mitarbeitern“. Nach dem Urteil des LG Hamburg aber werden Anbieter ihre Diskussionsforen abends nunmehr abstellen müssen oder diese Mitarbeiter für Nachtschichten einstellen müssen.

Dennoch: Auf Dauer werden UGC-Anbieter keine Heerschar von „Zensoren“ einstellen müssen. Aus dem Bundestags-Ausschuss Neue Medien ist bereits parteiübergreifend zu vernehmen, dass die Politik von der Zumutbarkeit der Kontrolle durch UGC-Anbieter andere Vorstellungen hat als die Hamburger Richter: Der Leiter des Ausschusses gab zu bedenken, dass bei einer Aufrechterhaltung dieser Kontrollpflichten auch die freie Meinungsäußerung im Internet unterwandert werden könnte. Bis zu einer Gesetzesänderung im Telemediengesetz, einer Entscheidung des Berufungs- und Revisionsgerichts oder notfalls zu einer verfassungsgerichtlichen Überprüfung des Urteils werden die Anbieter mit den Folgen dieser „pressemäßigen“ Rechtsprechung und einer schon jetzt „internetmäßigen“ Abmahnwelle aber leben müssen.

Der Artikel ist ein Vorabdruck aus dem Newsletter Medien der internationalen Anwalts-Sozietät Lovells.