Frankreichs wolkendichte Grenzen

Die radioaktive Wolke, die im April 1986 von Tschernobyl aus weite Teile Europas erfasste, hat angeblich vor den Staatsgrenzen der Grande Nation halt gemacht

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Am 29.April 1986 kam die radioaktive Wolke, geladen mit den Isotopen Iod-131 und Cäsium-137, in Frankreich an. Doch das wusste damals, abgesehen von einer handvoll berufsbedingt Eingeweihter, niemand. Frankreich war nämlich „auf Grund seiner Entfernung von Tschernobyl vom radioaktiven Fallout völlig verschont geblieben“, wie der damalige Landwirtschaftsminister treuherzig versicherte. Zudem waren die Winde angeblich günstig gesinnt und die unheimliche Wolke hatte Frankreich nicht einmal gestreift. Empfehlungen für besondere Vorkehrungen wie die vorübergehende Umstellung der Ernährungs- und Freizeitgewohnheiten wurden daher gar nicht erst ausgegeben.

Dies war der Beginn einer „Staatslüge“, wie es Kernkraftgegner und unabhängige Strahlenschutzorganisationen bezeichnen. Eine „Staatslüge“, die teils noch bis heute andauert, und seit 2001 auch die Justiz beschäftigt. Der Umstand, dass Frankreich über 58 Reaktoren verfügt und in seiner Stromversorgung zu über 80% von der Kernenergie abhängt, dürfte wohl eine nicht ganz unwesentliche Rolle in der Entstehung dieser seltsamen (Des-)Informationspolitik gespielt haben.

In einer detaillierten Chronologie einer Staatslüge zeichnen die Kernkraftgegner vom Netzwerk „Sortir du nucléaire“ (Ausstieg aus der Kernkraft) den genauen Hergang dieser Vertuschungsaktion nach: Demnach begann alles, als der Leiter des staatlichen Strahlenschutzservice SCPRI (Service central de protection contre les rayons ionisant), Prof. Pierre Pellerin, am 30.April 1986 öffentlich erklärte, dass in Frankreich „keine signifikante Erhöhung der Radioaktivität“ gemessen wurde. Am 1.Mai sollen allerdings sämtliche Nuklearanlagen des Landes eine außergewöhnlich hohe Radioaktivität festgestellt und dies auch dem SCPRI mitgeteilt haben. Doch Prof. Pellerin, der mittlerweile in Frankreich zu trauriger Berühmtheit gelangte, verkündete weiterhin unbeirrt, dass es 10.000 bis 100.000-fach höherer Strahlenbelastungen bedürfe, um die Gesundheit seiner Landsleute in Gefahr zu bringen.

Am 16.Mai soll laut „Sortir du nucléaire“ eine Krisensitzung im Innenministerium stattgefunden haben, weil mehr als 10.000 Becquerel pro Liter korsischer Ziegenmilch gemessen wurden. Obwohl die europäischen Richtlinien eine Zurücknahme von Lebensmitteln bereits ab 500 Bq/L empfahlen, unternahm die Regierung weiterhin nichts, um die Öffentlichkeit zur Vorsicht zu mahnen. Ganz im Gegenteil, noch am selben Tag veröffentlichte das Gesundheitsministerium folgendes Kommunique:

Die öffentliche Gesundheit ist vom Unfall in Tschernobyl absolut nicht bedroht. Die laufenden Aktivitäten können also ohne besondere Schutzmassnahmen, wie beispielsweise bei der Ernährung oder bei Aktivitäten im Freien, fortgesetzt werden.

Es ist wohl unnötig, daran zu erinnern, dass zu diesem Zeitpunkt sämtliche Nachbarländer natürlich schon längst eben diese Empfehlungen an ihre Bevölkerungen ausgegeben hatten.

Mitten in der Krise, von der nur Wenige wussten, gründeten einige aufrechte Staatsbürger, die den verheimlichten Braten dann doch gerochen hatten, eine unabhängige Kommission zur Information zur Radioaktivität, die CRIIRAD, deren damalige Verstrahlungskarten des Landes erst am 27.März 2006 (!) vom Nachfolgeinstitut IRSN des überkommenen staatlichen Strahlenschutzservice kleinlaut bestätigt wurden.

Die wundersame Erhöhung der Messwerte

20 Jahre später, rechtzeitig zum runden Geburtstag der „sowjetischen“ Katastrophe, berichtet die Tageszeitung Le Monde, dass der „Tschernobyleffekt in Frankreich bis zu 1.000 Mal unterschätzt wurde“. So hatte der Strahlenschutzservice des Prof. Pellerin im Mai 1986 Karten veröffentlicht, wonach in der Bretagne angeblich 25 Becquerels/m² und im Osten Frankreichs 500 Bq/m² am Boden gemessen wurden. Anfang Mai waren allerdings starke Regenfälle zu verzeichnen gewesen. Ein Grund mehr für die CRIIRAD, die „niedlichen“ Messwerte anzuzweifeln und selbst die Sache in die Hand zu nehmen.

2005 reichte das neue Strahlenschutzinstitut überarbeitete Karten vom Mai 1986 nach, in denen sich die Messwerte der Radioaktivität weit beeindruckender ausnahmen: So überstiegen die Messwerte des abgelagerten Cäsium-137 z.B. im Elsass, in der Umgebung von Nizza und auf Korsika nun die 20.000 Bq/m². Selbst lokale Spitzenwerte von 40.000 Bq/m² wurden nun der Öffentlichkeit bekannt gegeben. Ein beachtlicher Sprung in der Größenordnung, der für die Leiterin der CRIIRAD, Corinne Castanier, entweder von der Inkompetenz des damaligen staatlichen Strahlenschutzes herrührt oder ganz einfach eine gezielte Lüge gewesen ist. Wobei sie angibt, eher der zweiten Hypothese zuzuneigen.

2001 hat die unabhängige Strahlenschutzkommission denn auch gemeinsam mit der „Französischen Vereinigung der Schilddrüsenkranken“ (AFMT) Klage gegen Unbekannt) erhoben. Anklagebegründung: „Mangelhafter Schutz der Bevölkerung vor dem radioaktiven Niederschlag, der dem Tschernobylunfall folgte.“

Noch im selben Jahr ordnete die Untersuchungsrichterin Bertella-Geffroy in verschiedenen Ministerien und Behörden, deren Aufgabe der Strahlenschutz gewesen wäre, erste Hausdurchsuchungen an, um deren tatsächlichen Informationsstand zu ergründen. Doch die Wahrheitsfindung erweist sich als ziemlich zäh. Die Mauer des Schweigens ist nur schwer zu durchbrechen. Im März 2005 wird für die Untersuchungsrichterin eine Expertise fertiggestellt, die der damaligen Regierung ein denkbar schlechtes Zeugnis ausstellt: Die verantwortlichen Behörden hätten nicht bloß einen Fehler begangen, sondern bewusst gelogen. Das Verfahren ist immer noch anhängig.

Währenddessen gründete die Regierung 2002, als Reaktion auf den spürbar wachsenden öffentlichen Druck, eine Arbeitsgruppe zu den Konsequenzen des Tschernobylunfalls. Doch die Sache hat freilich einen Haken, wie „Sortir du nucléaire“ vermerkt: Der Vorsitz dieser Arbeitsgruppe wird einem gewissen Prof. André Aurengo, übertragen, der nebenbei auch im Aufsichtsrat des französischen Energiekonzerns EDF sitzt, der wiederum die 58 Nuklearreaktoren der Nation betreibt.

Der französische Nuklearkomplex

Warum die Wahrheit über den Durchzug der radioaktiven Wolke über dem französischen Territorium derartige Schwierigkeiten hat, ans Licht zu kommen, ist laut „Sortir du nucléaire“ leicht erklärt: 1986 war es eine „cohabitation“, eine Koalitionsführung, die das Land regierte, bestehend aus dem sozialistischen Präsidenten Mitterand und seinem wohlbekannten bürgerlichen Premierminister Chirac. Tschernobyl wurde lange als sowjetischer Unfall verkauft. Eine Katastrophe, die selbstverständlich niemals der französischen Nuklearindustrie widerfahren könnte. Alle darauffolgenden Regierungen, wie die sozialistischen von Bérégovoy, Cresson, Rocard (1988-1993) und Jospin (1997 bis 2002) sowie ihre konservativen Pendants Balladur, Juppé, Raffarin und jetzt Villepin, hatten offenbar bislang keine große Lust, ihre politischen Vorgänger zu desavouieren.

Zumal die Kernkraft für Frankreich ein milliardenschweres Geschäft darstellt. Das französische elektronukleare Programm wurde 1974 unter dem konservativen Premier Pierre Messmer gestartet, der damit den Erdölkonsum drosseln wollte. Der sogenannte „Plan Messmer“ sah vor, 3 Kernkraftwerke pro Jahr zu bauen. Der Umstand, dass Messmer 1962 bei einem Unfall im Laufe eines unterirdischen Nuklearversuchs in der Sahara verstrahlt wurde, scheint ihm allerdings später keine atomaren Berührungsängste beschert zu haben. Seitdem kann sich EDF dank seiner Kernkraftwerke rühmen, die weltweite Nr. 1 bei der Energieproduktion zu sein.

Der Kernkraftkonzern AREVA, der weltweit 58.760 Personen beschäftigt, laut Eigendefinition globaler Leader sämtlicher industrieller Aktivitäten rund um die Kernkraft, liefert dem Planeten dankenswerter Weise die dringend benötigte „CO2-freie Energie“.

Ein Argument, das die Umweltschutzorganisation Greenpeace selbstverständlich nicht gelten lassen will, da laut ihren Recherchen nur 16% des gesamten französischen Energiebedarfs durch die Kernkraft abgedeckt wird, denn letztere liefert bekanntlich nur Strom und bislang noch kein Erdöl. Die Benzinersparnisse, die sich Messmer noch erhofft hatte, sind freilich nie eingetreten. Die nukleare Sackgasse in die sich die Grande Nation freiwillig gestellt hat, führt laut den Umweltschützern zu einer doppelten Abhängigkeit: einerseits von der Kernkraft für die Stromversorgung zu 80% und andererseits vom Erdöl für das Transportwesen zu 95%.

Doch solche Argumente verhindern natürlich nicht, dass die Atommeiler weiterhin Frankreichs Landschaften behübschen und seine Wirtschaft ankurbeln werden. Die nächste Reaktorgeneration, der EPR (European Pressurised Reactor), der gemeinsam mit den Deutschen entwickelt wurde, soll ab 2012 ein brandneues Kernkraftwerk in Flamanville nahe dem Ärmelkanal bestücken. Der EPR ist angeblich noch sicherer und noch produktiver als die zur Zeit verwendeten Reaktoren. Preisfrage: Wie hoch ist bei 58 Reaktoren die Wahrscheinlichkeit eines sowjetischen Unfalls à la française?