Wie lässt sich Rechtsextremismus erklären?

Vom Konsens, der immer wieder nach Rechtsaußen verrutscht: der Potsdamer Präzedenzfall Ermyas M.

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Der rassistische Übergriff auf Ermyas M. vor knapp drei Wochen in Potsdam (vgl. Zu gut inszeniert, um ein bloßer Zufall zu sein) ist zu einem Präzedenzfall geworden. Gegen einen der Verdächtigen wurde der Haftbefehl mittlerweile bestätigt. Die Tat und die Diskussionen darüber verdeutlichen, dass Rechtsextremismus in Deutschland weniger ein Phänomen der Parteien, als vielmehr eine alltagskulturelle Erscheinung ist.

Ermyas M. lebt. Der 37-jährige Wasserbauingenieur, der am frühen Sonntagmorgen zu Ostern Opfer eines rassistischen Übergriffs in Potsdam wurde, schwebt nicht mehr in Lebensgefahr, er ist sogar wieder ansprechbar. Sein Zustand aber ist dennoch kritisch. Vermutlich zwei Männer hatten den Deutschen afrikanischer Herkunft vor knapp drei Wochen an einer Bushaltestelle zusammengeschlagen, sie brachen ihm den Schädel.

Ermyas M. wurde anschließend mit Knochenverletzungen und einem schweren Schädel- und Gehirntrauma ins Krankenhaus eingeliefert. Die Täter hätten ihr Opfer „Scheißnigger“ genannt, anschließend wurde aber an einem rassistischen Motiv oder einem „fremdenfeindlichen“ Hintergrund der Tat gezweifelt. Der Übergriff auf den Deutschen äthiopischer Abstammung ist zu einem Präzedenzfall in Deutschland geworden.

Der Ermittlungsrichter des Bundesgerichtshofs (BGH) in Karlsruhe hatte am vergangenen Freitag den Haftbefehl gegen den ersten der Verdächtigen, einem 29-Jährigen, bestätigt. Am kommenden Mittwoch soll der zweite, der 30-jährige Tatverdächtige, dem BGH-Ermittlungsrichter vorgeführt werden. Ein dringender Tatverdacht besteht dem BGH zufolge im Falle des 29-Jährigen nur noch aufgrund gefährlicher Körperverletzung, nicht mehr, wie zuvor angenommen, wegen versuchten Mordes. Generalbundesanwalt Kay Nehm bleibt weiterhin für die Ermittlungen des Falles zuständig, wie seine Sprecherin in Karlsruhe mitteilte.

Rechtsextremismus in Deutschland eine alltagskulturelle Erscheinung

Die Diskussionen und Deutungen darüber, auch sie werden weitergehen. Und das Ausmaß des Vorfalls lässt sich auf zweierlei Weise interpretieren: Zum einen ging und geht es um die Schuldfrage, um eine Verkehrung des Verhältnisses von Opfer und Täter(n). Zum anderen erscheint in diesem Zusammenhang Rechtsextremismus als ein beinahe ausschließlich hausgemachtes ostdeutsches Phänomen. Und im Zusammenspiel beider Faktoren wird nunmehr deutlich, dass Rechtsextremismus in Deutschland weniger ein Phänomen der Parteien, vielmehr eine alltagskulturelle Erscheinung ist.

Alles nach der Reihe. Die Diskussionen über die Schuldfrage bei dem Vorfall in Potsdam sind absurd. Ermyas M. wurde Opfer eines rassistischen Übergriffs. Die Tat war weder „ausländer-“, noch „fremdenfeindlich“, Ermyas M. lebt seit 20 Jahren in Deutschland, er ist Deutscher. Er ist also weder ein „Ausländer“, noch ist er ein „Fremder“. So wird er allenfalls wahrgenommen, an seinem Status ändert das aber nichts. Ermyas M. ist auch kein Deutsch-Äthiopier.

“Blonde, Blauäugige“

Die Konstruktion von Bindestrich-Identitäten oder die Reduzierung auf einen Minderheitenstatus ist eine Vorliebe deutscher Definitions- und Konfliktkultur. Damit hält man Menschen gewissermaßen auf „Halde“. Man grenzt sie nicht gänzlich aus, lässt sie aber auch nicht ganz rein. Undschließlich lässt sich über Opfer, aber auch über Täter, besser verhandeln, wenn ihnen ein gewisser Status per Zuschreibung bescheinigt wird. Das schafft Vor-, aber auch Nachteile.

Was bringt hier wem was? Dass Ermyas M. ein Deutscher ist, nutzte ihm nichts. Vor dem Zuschlagen wurde bislang noch keine Vorlage des deutschen Passes verlangt. Auch hier war das nicht der Fall. Auch machte der deutsche Pass Ermyas M. anschließend in den öffentlichen Diskussionen zu keinem Deutschen. Dass nun aber an einem „fremdenfeindlichen“ oder rassistischen Motiv der Tat gezweifelt wurde, das war wiederum keine Ableitung seiner deutschen Staatsangehörigkeit; es war gänzlich eine Verharmlosung des Tathergangs.

Der Fokus wurde nunmehr verstärkt auf die Täter gerichtet, es wurde dahingehend argumentiert, und das insbesondere aus dem Umfeld von CDU/CSU, dass das Motiv nicht klar sei. Es folgte eine Argumentationskette von Verharmlosungen: Es sei nicht nur nicht bewiesen, dass die Tat überhaupt „fremdenfeindlich“ motiviert gewesen sei, auch würden andere Menschen Opfer von ausländischen Übergriffen werden. „Blonde, Blauäugige“, so Innenminister Wolfgang Schäuble, könnte es genauso treffen.

Sicher, was sich an diesem Morgen abgespielt hat, das ist bis heute nicht ganz klar. Auch Ermyas M. konnte zum Tathergang noch nicht vernommen werden. Und Wolfgang Schäuble behält Recht, wenn er sagt, dass man keine voreiligen Schlüsse ziehen dürfe. Klar war dennoch, dass rassistisches Vokabular den Streit begleitete, das lässt sich sogar per Anruf abhören. Die Auseinandersetzung wurde aufgezeichnet, deutlicher kann es nicht werden. Rassismus folglich anzuzweifeln, wenn auch die Tat nicht geplant war und kein ideologisierter Beweggrund vorliegen mag, das ist absurd und eine Verharmlosung sondergleichen.

Auch Deutsche könne es treffen

Nun können auch Deutsche Opfer von Übergriffen durch „Ausländer“ werden. Dieses Argument floss vielfach in die Diskussionen ein, das lässt sich auch nicht bestreiten. Ein Folgeeffekt von Schäubles Argumentationsstrang war es nun, dass Deutschsein, Blauäugigkeit und blondes Haar als Kausalkette aneinandergereiht wurden, wenn auch Schäuble zunächst nur von „Menschen“ mit blauen Augen und blondem Haar sprach.

Wer ist also folglich nicht deutsch? Sind es die, die dunkle Hautfarbe haben oder irgendwie „ausländisch“ aussehen? Deutschsein erscheint in diesem Zusammenhang als etwas Genuines, als eine biologische Konstante. Dass es diese Deutschen nun auch treffen kann, das macht eine Tat nicht weniger schlimm, das lässt sich auch nicht entschuldigen. Aber in welchem Verhältnis steht das?

Dass Deutsche Opfer von Übergriffen aufgrund von Nationalität, Hautfarbe oder blondem Haar werden, darüber haben weder das BKA noch die Opferberatungsstellen Statistiken. Und kein Fall ist bislang bekannt, wo ein Deutscher explizit aufgrund seiner Nationalität, Haut- oder Haarfarbe getötet wurde.

Seit der Wende wurden aber weitaus über 100 Menschen durch rechte Übergriffe umgebracht. Und potenziert man die Gefahr eines Übergriffs durch Mehr- und Minderheitenrelationen, ist die Gefahr für ethnische Minderheiten hoch, Opfer eines Übergriffes aufgrund ihres Aussehens zu werden, für Deutsche gering, dass „Deutschsein“ ein Motivgrund für einen Angriff sein könnte.

Bis heute gibt es auch keine „No-go-areas“ für die Mehrheitsgesellschaft und sie wird es auch künftig nicht geben, alles andere gleicht Verfolgungswahn. Es gibt allenfalls Problemzonen, in denen es generell zu bestimmten Zeitpunkten gefährlich ist. In Berlin-Neukölln aber können Deutsche leben, ohne täglich der Gefahr ausgesetzt zu sein, Opfer eines Übergriffs aufgrund von blondem Haar oder Blauäugigkeit zu werden. Es gibt auch keine strukturelle Diskriminierung oder einen institutionellen Rassismus für die Mehrheitsgesellschaft, der Status einer Mehrheit gerät selbst bei Übergriffen nicht in Gefahr.

Für Migranten ist die Lage eine andere. Sie erfahren täglich Ausgrenzung und müssen mit Übergriffen rechnen, pro Tag werden bis zu drei rechte Gewalttaten registriert, bestimmte Regionen meiden sie nicht umsonst. In Ostdeutschland liegt der Ausländeranteil heute bei etwa zwei Prozent. Migranten gibt es beinah nicht, rechte Übergriffe aber mehren sich, sie´nahmen im Jahre 2005 in der gesamten Republik um 27 Prozent zu. Auch gegenwärtig setzt sich der Trend fort – bundesweit.

Verdrehen von Zweck, Opfer- und Täterperspektive

Es geht hier alleinig um die Schuldfrage. Und warum stellt sich diese Frage überhaupt? Und warum nach einem solchen Übergriff? Das muss gefragt werden. Denn es spielt keine Rolle, ob das Opfer 2,08 Promille Alkohol im Blut hatte, ob Ermyas M. vielleicht den Streit entfacht hat. Das entschuldigt nichts.

Die Schuldfrage dient allein dem Zweck, Opfer- und Täterperspektive zu verdrehen. Probleme gelten folglich als fremdverschuldet, die Täterseite wird entlastet. Deutschland soll es gut gehen, jetzt kurz vor der WM, ein Imageschaden wäre unschön, auch für das Land Brandenburg. Aus Sport und Spaß soll schließlich nicht allzu viel Ernst werden, Fußbälle, nicht „Freunde“ sollen getreten werden.

Nun hat man sich sicher ein Eigentor mit den verbalen Sturmläufen im Falle Potsdam geschossen. Das hat auch Wolfgang Schäuble erkannt und zog sein Urteil zurück. Und dass die Tatverdächtigen womöglich aus rechtsextremen Kreisen kommen - auch das ist noch nicht ganz klar -, das wollte man gerade nicht. Die Tat sollte gänzlich nichts mit Rechtsextremismus oder Rassismus zu tun haben, es sollte eine ganz normale, alltägliche Tat sein, bestenfalls sollte sie schnell wieder in Vergessenheit geraten.

Dass der Vorfall sich nun aber eventuell dem rechtsextremen Umfeld zuschieben lässt, das hat wiederum ein neues Türchen im Raum der Argumentierenden geöffnet: Der Sachverhalt kann jetzt als ein Problem von Rechtsaußen, womöglich sogar als eines von Neonazismus verhandelt werden, und das wurde es bereits.

Bei Sabine Christiansen wurde die Frage gestellt „Ehrenmord, Nazischläger - in welcher Welt leben wir?“. Damit zeichnet man eine Markierungslinie in die politische Landkarte der Bundesrepublik, wer sich retten will, springt in die demokratische Hälfte. Was hat man dann noch mit dem Rest zu tun? Was aber ist, wenn die Täter nicht aus dem rechtsextremen Spektrum kommen, was würde das ändern, würde es den Umstand der Tat mildern?

Vieles ist typisch an diesem Übergriff. Nicht nur, dass die Gewalttat vielleicht gar nicht von ideologisierten Rechtsextremen verübt wurde. Auch dass Alkohol im Spiel war und die Tat nicht längerfristig geplant wurde, sie vielmehr situativ erfolgte, ist typisch.

Analysen über „fremdenfeindliche“ Straftäter des Soziologen Helmut Willems ergaben, dass Übergriffe zu 90 Prozent auf spontane Entschlüsse und situative Eskalationen ohne längere Planungen und Vorbereitungen oder gar Steuerung durch organisierte rechtsextremistische Gruppen zurückzuführen sind. Bei über 80 Prozent spielt Alkohol eine große Rolle.

Rechtsextremismus ist kein ostdeutsches, sondern ein internationales Phänomen

Untypisch war hingegen, dass die Potsdamer Verdächtigen 29 und 30 Jahre alt sind, rassistische Gewalttäter sind meistens unter 25. Dass die Tat aber eine aus dem Osten Deutschlands ist, hatte wiederum, es war nicht anders zu erwarten, altbewährtes rituelles Schuldzuschreiben zur Folge. Rechtsextremismus gilt wieder als ein Phänomen der östlichen Republikhemisphäre. Gregor Gysi verteidigte darum vehement die Bürger Ostdeutschlands, er warnte vor einer Pauschalisierung. Damit hat er Recht, Rechtsextremismus ist kein ostdeutsches, es ist nicht einmal nur ein deutsches, es ist ein internationales Phänomen.

Dennoch gibt es Ostspezifisches im Vergleich der alten und neuen Bundesländer. Rechte Gewalt wird im Osten je 100.000 Einwohner dreimal so häufig verübt und eine rechtsdominierte kulturelle Hegemonie, die streckenweise in ostdeutschen Regionen wie der Sächsischen Schweiz oder Ostvorpommern nicht zu verkennen ist, gibt es so im Westen nicht.

Zwar resümiert der Rechtextremismusforscher Martin Langebach jüngst am Beispiel Nordrhein-Westfalen, dass dort, vor allem im Raum Dortmund, Territorien entstehen, in denen Rechtsextreme regelmäßig öffentlich auftreten. „No-go-Areas“ aber sind noch immer etwas, das vorwiegend in Ostdeutschland zu finden ist. Rechtsextreme können oftmals faktisch ungehindert Macht ausüben, ohne dass es zur Gegenwehr von demokratischen Kräften kommt.

Rechtsextreme Weltbilder aber existieren auch in der alten Bundesrepublik, selbst wenn die Forschung bis heute kein einheitliches Bild von Einstellungswerten zeichnen kann. Die Soziologen Oliver Decker und Elmar Brähler kommen etwa zu dem Ergebnis, dass in Ostdeutschland seit 1994 ein Rückgang der Befürwortung einer Diktatur und von chauvinistischen sowie ausländerfeindlichen Aussagen zu beobachten ist. Die Ostdeutschen scheinen ihrer Ansicht nach heute nicht rechtsextremer eingestellt zu sein als Westdeutsche. Der Politologe Richard Stöss folgert wiederum, dass rechtsextreme Orientierungen in Ostdeutschland im Jahre 2003 anderthalbmal so stark verbreitet waren wie in den alten Bundesländern.

Desintegration und Rechtsextremismus

Wie man es auch deuten mag, wenn sich die Frage nach Rassismus und Rechtextremismus in den Köpfen stellt, bleibt auch eine Mutmaßung über etwaige Ursachen nicht aus. Wie lässt sich Rechtsextremismus erklären? Damit begibt man sich nun zwangsweise auf wissenschaftliches Glatteis, denn nur ein Bündel von Faktoren kann zur Erklärung herangezogen werden, da ist man sich in der Forschung einig geworden.

Dabei wird - verknappt und grob skizziert – einerseits die Annahme vertreten, dass Persönlichkeitsmerkmale, so etwa ein autoritärer Charakter in der Tradition von Theodor W. Adorno, Rechtsextremismus begünstigt. Andererseits zieht man Unzufriedenheitspotenziale, also die Diskrepanz zwischen dem Wunsch- und Ist-Zustand, eine „relative Deprivation“, aber auch Desintegrationstendenzen und die politische Kultur eines Landes als mögliche Ursachen heran.

Aneinander geraten sind die Streitenden in der Forschung vor allem daran, ob Desintegration Rechtsextremismus verursachen könne. Rechtsextreme stehen vielfach in Lohn und Brot, sie sind also oftmals keineswegs die objektiv Desintegrierten. In diesem Punkt wurde insbesondere der Bielefelder Wissenschaftler Wilhelm Heitmeyer mit seinem Desintegrationstheorem kritisiert.

Auch im Falle des Übergriffs in Potsdam scheinen die Tatverdächtigten nicht allzu marginalisiert zu sein, sie sind bekannte Türsteher. Dennoch geht Rechtsextremismus vermehrt aus gesellschaftlichen Ungleichgewichtszuständen hervor. Rechtsextremismus resultiert aus einem Spannungsverhältnis von Leistungsstreben, Machtverlangen, sei es als Ausführender oder Beherrschter, mit einhergehenden Versagungs- wie auch Verlustängsten.

“Forcierte Identifikation mit den Werten Leistung, Wohlstand, Karriere und Geld“

Die Berliner Psychologieprofessorin Birgit Rommelspacher behält Recht, wenn sie anmerkt, dass eine „forcierte Identifikation mit den Werten Leistung, Wohlstand, Karriere und Geld“ Rassismus vorantreibt. Es sei der Druck, den sozialen Status „zu halten oder aufzusteigen“. Rassismus und Rechtsextremismus sind folglich nichts, zu denen es keine Berührungspunkte gebe.

Auch schützt interethnischer Kontakt nicht vor Rassismus und Rechtsextremismus, wie immer wieder angenommen wird, wenn sich auch Gewalteskalationen durch einen täglichen, entspannten Umgang größtmöglich vermeiden lassen. Doch erst wenn Integration längst geglückt ist, also Zuwanderung erwünscht und Migranten sowohl strukturell als auch kulturell und sozial integriert sind, kann interethnischer Kontakt vorurteilshemmend wirken.

Ansonsten kehrt sich das eher ins Gegenteil. Und die Gefahr für rassistische Gewalt ist gerade dann hoch, wenn ein Nährboden für Rechtsextremismus durch Desintegration und Deprivationsängste gegeben ist und es zu keinem Austausch zwischen den Kulturen kommt.

Darum manifestiert sich Rechtsextremismus auch gerade in strukturschwachen Regionen mit geringem Migrantenanteil. Dort sind Rechtsextremisten aber vielfach gar nicht die objektiv Benachteiligten, dennoch stammen sie vermehrt aus einem Umfeld von Benachteiligten und können aus diesem sogar durch ihre Einbindung an Selbstbewusstsein und Dominanz gewinnen. Rechtsextremismus wird in diesen Zusammenhängen nur allzu sichtbar, in strukturstärkeren Gegenden hingegen keimt dieser nicht derart an der Oberfläche, bleibt vermehrt latent, wenn es auch rechte Einstellungen gibt.

Rechter Konsens in dörflichen und kleinstädtischen Regionen

Rechtsextremismus kann folglich nicht in Republikhemisphären aufgeteilt werden und lässt sich nicht aus einem Axiom erklären. Das Phänomen kann auch nicht auf Organisationen und Parteien beschränkt werden, sondern es ist eine alltagskulturelle Erscheinung. Die jüngsten Zahlen des Verfassungsschutzes Nordrhein-Westfalen über rechtsextreme Mitglieder in Parteien verdeutlichen, dass das rechtsextreme Parteienspektrum im Jahre 2005 erneut bundesweit an Mitgliedern verloren hat. In rechtsextremen Parteien sind heute noch 21.500 Personen organisiert.

Nur die NPD kann seit Jahren etwas zulegen. Dennoch wird gerade am Phänomen der NPD deutlich, dass trotz einer Verschiebung des rechtsextremen Parteienpotenzials hin zur NPD ihre beachtlichen Wahlerfolge der letzten Jahre in vielen östlichen Kleinregionen und auch auf Landesebene, insbesondere aber ihre kulturelle Verankerung das eigentlich Bedenkliche ist. Sie schafft es zunehmend, Jugendliche über die JN, ihre Jugendorganisation, und über eine Annäherung an die neonazistische Kameradschaftsszene an sich zu binden.

Ob sich die NPD künftig auf Bundesebene als starke „Volksfront von rechts“ etablieren kann, ist Spekulation und muss abgewartet werden. Dass sich aber ein rechter Konsens in dörflichen und kleinstädtischen Regionen bereits vielfach etabliert hat, das ist unumstritten. Und dazu braucht es nicht einmal die NPD.

Rechtsextreme Parteien nehmen offiziell Abstand von Gewalt

Interessant sind nun die Reaktionen der NPD zum Vorfall in Potsdam. Auch wenn hier erwartungsgemäß der Spieß umgedreht wurde („Auf jeden Fall kommt der Übergriff in Potsdam den Enthusiasten der multikulturellen Gesellschaft sehr gelegen, um gegen deren politische Gegner massiv Stimmung zu machen“), nahm ihr Parteivorsitzender Udo Voigt dennoch Abstand von Gewalt dieser Art

Keinem wirklich nationalen Deutschen wird es einfallen, andere Menschen wegen ihrer Hautfarbe, ihres Glaubens oder ihrer Herkunft zu verprügeln. Derartige Verhaltensweisen sind zu ächten und als Verbrechen zu ahnden, ohne zu unterscheiden, ob die Täter Deutsche oder Ausländer sind.

Das mag bloße Rhetorik sein, standen NPD-Politiker doch jüngst selbst wegen schwerer Körperverletzung an Gegendemonstranten im schleswig-holsteinischen Itzehoe vor Gericht, und die NPD streichelt vorbestrafte gewaltbereite Neonazis in den eigenen Reihen bedenkenlos ein. Dennoch nehmen rechtsextreme Parteien offiziell Abstand von Gewalt, sie versuchen sich vermehrt zu „integrieren“, nette Nachbarn zu sein und als Ansprechpartner in sämtlichen Fragen Rede und Antwort zu stehen.

Rassismen entspringen heute aus dem gewöhnlichen Sprachrepertoire

Nicht umsonst gab es eine schrittweise Verschiebung von revisionistischen Themen hin zur sozialen Frage in der NPD der letzten Jahre. Und rassistische Übergriffe haben auch selten etwas mit dem Parteienspektrum zu tun. Sie sind nicht nur alltäglich, auch stammt nur jeder sechste Tatverdächtige aus einer politisch organisierten, rechts orientierten Gruppierung (Zahlen für Nordrhein-Westfalen), so das Ergebnis von Helmut Willems. Nur bei wenigen befragten Tätern existiert eine klare rechtsextremistische Einstellung. Vielmehr geht es um bloßen Hass, um Wut, auch um Angstlust, Frustration oder um die einfache Entladung aufgestauten Ärgers.

Doch so weit muss es gar nicht kommen. Meistens bleibt es bei bloßen Äußerungen. Und Rassismen entspringen heute aus dem gewöhnlichen Sprachrepertoire aus der Mitte der Gesellschaft. Sie müssen auch nicht ideologisch sein. Unterschiede zwischen den Menschen werden zudem, seit Robert E. Park eine kulturalistische Wende im Rassismusdiskurs einleitete, seit Ende des 2. Weltkrieges zunehmend eher kulturell als biologisch begründet. Das ist seit den 60er Jahren auch auf der rechten Seite der Fall.

Kulturen seien zu unterschiedlich, darum unvereinbar, Menschen eines anderen Typus wären dennoch nicht biologisch minderwertig. Wie schön. Jedem seine eigene Scholle. Das ist die Argumentation der Neuen Rechten. Zwischen Theorie und Praxis aber liegt der Graben: Rassistisch motivierte Gewalt richtet sich immer gegen Menschen mit anderen somatischen, phänotypischen Merkmalen, auch soziologische Kennzeichen wie Kopftücher und auch Verhaltensweisen, die mit anderen Kulturen assoziiert werden, können als Legitimationsgrundlage für eine rassistische Tat genügen. Dagegen macht auch kein ethnopluralistischer Diskurs immun.

Und der zitierfähige hegemoniale Diskurs unterscheidet sich streckenweise auch nur in Nuancen von jenem von Rechtsaußen. Rassismen sind heute im Volksjargon vermehrt ökonomisches Nutzenkalkül als offenkundig formulierte Ausgrenzung, Einverleibung statt völligem Ausschluss. Geht es aber um Ausschluss, dann braucht die Forderung „Ausländer raus“ eine Legitimierung. Sie lässt sich im demokratischen Spektrum nicht per se, auch nicht kulturell und schon gar nicht biologisch begründen.

Ausschlussbegründungen

Der Multi-Kulti-Clash wird zwar auf die Unvereinbarkeit von Kulturen zurückgeführt, nicht aber ein möglicher Ausschluss von Migranten dadurch begründet. Das wird beispielsweise derzeit von konservativen Politikern als Konsequenz von „Fehlverhalten“ oder nicht erbrachter Leistung hier lebender Migranten formuliert oder aufgrund eines Strukturproblems, von Arbeitsplatzmangel, von jedem Dritten in der Bevölkerung gefordert.

Wie begünstigen solche Debatten den Rechtsextremismus? Diesem Ansatz, dem der politischen Kultur, ist für die Begründung von Rechtsextremismus oder Rassismus meiner Ansicht nach immer zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt worden. Das lässt sich auch in Zahlen nicht fassen, dennoch sind Korrelationseffekte zu erkennen. Mit den Diskussionen ums Asylrecht, um Integration oder um die Frage, wer nun Deutscher werden darf, wer nicht und wer wann gehen soll, mehren sich auch immer rassistische Übergriffe. Das war zu Beginn der 90er Jahre mit den „Das Boot ist voll“-Debatten so, das ist heute nicht anders. Nach dem Übergriff in Potsdam und der anschließenden Schuldfragendiskussion folgte eine Welle neuer Gewalttaten.

Man fragt sich im Falle Potsdams nur: Wo liegt der Unterschied zwischen den Argumentationen der NPD und jenen eines Jörg Schöhnbohms oder Wolfgang Schäubles? Wer diese Frage stellt, der muss sich ducken können. Denn wer einen Vergleich zwischen dem rechtskonservativen und dem rechtsextremistischen Lager zieht, gilt schnell als wenig objektiv, vielleicht sogar als linksextrem.

Der vorgeschobene ethnopluralistische Argumentationsstrang der NPD mit der Losung „Erhalt der Vielfalt“ unterscheidet sich von den Worten Schöhnbohms und Schäubles dahingehend, dass die NPD zum einen ihre neonazistische Gesinnung hinter dem Slogan „Die Würde des Menschen ist unantastbar!“ verschleiern möchte - von Neonazismus ist Wolfgang Schäuble weit entfernt. Zum anderen hofft die NPD auf den völligen Ausschluss von ethnischen Minderheiten, wenn sie das auch nicht immer so formuliert. Der Kurs der CDU/CSU zielt hingegen auf den Einschluss von Migranten unter bestimmten Voraussetzungen und unterschiedlichen Vorzeichen. Wer als Migrant in diesem Lande bleiben will, soll Leistungen bringen und sich unterordnen.

Die eigenen Leistungen zur Bekämpfung von Rechtsextremismus aber sollen möglichst hinten angestellt werden. Erst jetzt, nach diesem Vorfall, konnte sich die SPD gegen den Willen der CDU durchsetzen und werden auch im nächsten Jahr 19 Millionen Euro für die Rechtsextremismusbekämpfung zur Verfügung stehen. Auch hier geht es um Imagepflege, vielleicht kam man da jetzt nicht mehr drum herum.

Warum aber muss erst ein solcher Fall geschehen, damit man einlenkt? Den Willen, Rechtsextremismus und Rassismus in seinen Ursachen zu bekämpfen, den gibt es gerade in konservativen Kreisen nicht. Vielmehr produziert man einen Konsens stetig mit, der immer wieder nach Rechtsaußen verrutscht, von dem man sich dann aber unter dem Schlagwort „Neonazismus“ lossagt.