Medienwechsel: Interpretation ersetzt Interaktion

Der Spieleklassiker "Silent Hill" ist verfilmt worden. Was ist hinzugekommen, was weggefallen und warum?

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1999 erschien das Spiel „Silent Hill“ für Sonys Playstation I – ein Grusel-Adventure, das neue Maßstäbe in Atmosphäre, Darstellung und Ausnutzung der Konsolenhardware setzte. Die verlassene nebelige Stadt, in der ein Vater seine Tochter sucht, ist nun auch filmisch adaptiert worden. Regisseur Christophe Gans hat sich dabei jedoch nicht allein auf die Spieldramaturgie verlassen, sondern versucht, seinem Film eine mit der Vorlage kombinierte Ästhetik zu verleihen.

Jodelle Ferland in Silent Hill. Bild: TriStar Pictures

Im Film ist es nun nicht mehr ein junger Witwer, der seine Adoptivtochter sucht, die bei einem Autounfall am Rande des Ferienortes Silent Hill verloren gegangen ist, sondern eine Frau namens Rose (Radha Mitchell), deren ebenfalls an Kindes statt angenommene Tochter Sharon (Jodelle Farland) nachts schlafwandelt, sich dabei in lebensgefährliche Situationen bringt und den Ortsnamen Silent Hill vor sich hinmurmelt.

Weil das Mädchen sich tags darauf nicht an ihre Träume erinnern kann und keine anderen Therapien helfen, entschließt sich Rose mit Sharon nach Silent Hill zu fahren, um dem Rätsel auf die Spur zu kommen. Vater Christopher (Sean Bean) befürchtet Schlimmes und folgt den beiden. Auf dem Weg wird Rose von der Polizistin Cybil (Laurie Holden) verfolgt, weil diese ahnt, dass etwas mit Mutter und Tochter nicht stimmt. Sowohl Rose als auch Cybil erleiden einen Verkehrsunfall. Als Rose erwacht, ist Sharon verschwunden. Gemeinsam mit Cybil macht sie sich auf die Suche nach ihrer Tochter.

Screenshot von Silent Hill 2. Bild: Konami

Die Stadt Silent Hill ist menschenleer, Asche fällt vom Himmel und eine dichte Nebelwand versperrt den Blick. Regelmäßig wird es finster und dann tauchen allerlei Dämonen auf, die Rose und Cybil nach dem Leben trachten. Als sie zunächst eine alte Frau namens Dahlia (Debora Kara Unger) und dann ein junges Mädchen (Tanya Allen) entdecken, finden sie heraus, dass Silent Hill keineswegs verlassen ist, kommen einer mysteriösen religiösen Gruppe auf die Spur und erahnen, was das Verschwinden Sharons mit den Dämonen und dem Schicksal der ganzen Stadt zu tun hat.

Erzählen und Spielen

Der Komplexität der Erzählung des Films „Silent Hill“ wird die kurze Handlungszusammenfassung noch nicht annähernd gerecht: Es geht um einen seit den 1970er Jahren auf der Stadt lastenden Fluch, um moderne Hexenverfolgung und religiösen Extremismus. In mehreren Rückblenden und den sich aus den Informationen der Parallelwelten immer mehr ergänzenden Handlungselementen versucht der Film, eine Geschichte zu erzählen, die dem Facettenreichtum des Spiels in nichts nachstehen soll. Dass Christophe Gans seinen Film dabei fast „zu Tode“ erklärt, sei nur am Rande kritisiert – viel zu sehr ist man als Zuschauer von der Optik und der Atmosphäre eingefangen. Wo sich im Spiel erst nach und nach herausstellte, welche Wechselwirkungen zwischen Cheryl Mason (wie die Tochter im Spiel hieß) und den Geschehnissen in Silent Hill existieren (es geht um eine Geheimgesellschaft, um eine bewusstseinserweiternde Droge und um Ritual-Mord), so entbergen sich die Geheimnisse im Film auch erst vollends im Finale – dann jedoch in einem wahren Informations-Crescendo.

Interessanter ist, was Gans der Spielidee und dem Plot hinzugefügt und was er geändert hat, weil sich daraus Rückschlüsse auf die Spielhaftigkeit des Films einerseits, andererseits auf Probleme des Medienwechsels zwischen Spiel und Film ersehen lassen. Rein optisch hält sich der Film fast mimetisch an seine Vorlage – bietet in den selben Situationen sogar fast dieselben Perspektiven/Kameraeinstellungen. Hinzu kommen neben einigen Monstern, die auf der Playstation nicht zu sehen sind (andere hingegen lässt der Film weg) vor allem die Rahmenerzählungen: Einerseits jene puritanistischen Extremisten, die vor 30 Jahren eine wahre Hexenjagd auf die nun immer noch verfemte und zwischen den Welten wandelnde Dahlia und deren Tochter Alessa (ebenfalls von Jodelle Farland verkörpert) veranstaltet haben, andererseits die Geschichte einer Kleinfamilie, die auseinander bricht, bei der Mutter und Tochter in eine Welt „abtauchen“, die der Vater nicht erreichen kann, selbst als er die Stadt Silent Hill erreicht: Dort bietet sich ihm das Bild einer „normalen“ Geisterstadt: kein Nebel, kein Ascheregen, keine Dunkelheit, keine Dämonen.

Silent Hill. Bild: TriStar Pictures

Mutter-Kind-Dyade

Beachtenswert sind im Film die Mutter-Kind-Beziehungen, denn sie bilden nicht nur einen wesentlichen Teil der Erzählung, sondern spiegeln und kommentieren einander gegenseitig: Da ist natürlich zum einen das Verhältnis von Rose zu ihrer Adoptivtochter Sharon (das letztere adoptiert ist, erfährt man – im Gegensatz zum Spiel – gleich zu Beginn des Films), das geprägt ist von einer schon fast symbiotischen Liebe. Ihr gegenüber steht Dahlia, deren Tochter Alessa – wie Rose – verschwunden ist. Beide suchen ihre Kinder, aber nur Dahlia kennt den Grund, warum Alessa, die Rose bis aufs Haar gleicht, nicht zu finden ist. Zwei kinderlose Frauen bilden die anderen Koordinaten im familiär-mythischen System: Einerseits die Polizistin Cybil, die diesbezüglich funktionslos bleibt (im Spiel bekommt der erfolgreiche Witwer die Polizistin zur Freundin, wenn er sie nicht vorher erschossen hat) und andererseits die Anführerin der Überlebenden von Silent Hill, Cristabella (Alice Krige). Wie Rose und Dahlia „jagen“ auch diese beiden Frauen die verschwundenen Mädchen auf ihre je eigene Art. Die Beziehung zwischen Müttern und Töchtern bildet also einen wesentlichen Dreh- und Angelpunkt der Geschichte.

Radha Mitchell and Jodelle Ferland in Silent Hill. Bild: TriStar Pictures'

Die Kombination dieser Beziehungstypen scheint wie einer Typenlehre der Psychoanalyse entnommen. Und tatsächlich finden sich einige der zuerst von Freud, später von Melanie Klein beschriebenen Aspekte der Mutter-Kind-, speziell der Mutter-Tochter-Bindung in „Silent Hill“ wieder. Es ist zunächst die von Ambivalenz und Hass geprägten Emotionen der Tochter (welche Freud auf den Penismangel zurückführt) der Mutter gegenüber, die ein Grund für die Alpträume und das Fortlaufen Sharons sein könnten. Die von Rose zwanghaft herbeigeführte „Therapie“ (anstatt dem Vorschlag des Vaters zu folgen, Sharon in die Psychiatrie zu stecken, reist sie mit ihrer Tochter selbst in die Vergangenheit, um das Problem zu erkunden) ermöglicht es, Mutter und Tochter wieder zueinander zu bringen. Der Film ließe sich hier durchaus als die Bebilderung einer Neurose lesen.

Auf der anderen Seite steht die Theorie von Melanie Klein, die die Mutter-Kind-Beziehung grundsätzlich von den Ängsten und Aggressionen des Kindes, entstanden und forciert in unbewussten Phantasien desselben, beeinflusst sieht. Bereits im Spiel existiert die Annahme, dass der „verwunschene Ort“ Silent Hill und die Dämonen allein aus der Imagination der adoleszenten Tochter entstanden sein könnten – dass pubertierende Mädchen in Beziehung zur Geisterwelt stehen, ist ein kulturgeschichtlicher Topos nicht nur im Spiel. Die Bedrohungen, die die Mutter durchlebt, ließen sich so als jene Bild gewordenen aggressiven Phantasien der Tochter der Mutter gegenüber interpretieren.

Silent Hill. Bild: TriStar Pictures

Interpretation ersetzt Interaktion

Eine solche Lesart mag vielleicht nicht die von jedem favorisierte sein, doch spricht schon der Regisseur sich nicht nur durch die Ambivalenz seiner Bilder und Motive dafür aus, dass der interaktive Part des Spielens im Film auf den Akt des Interpretierens übertragen werden müsse:

Wir haben darauf verzichtet, alles zu erklären, weil es doch viel spannender ist, wenn das Publikum selbst mitdenkt und versucht, eine Erklärung zu finden. Diese Undurchsichtigkeit ist eine Herausforderung, eine Einladung zum Nachdenken, wenn man so will.

Christophe Gans

Diese „Einladung zum Nachdenken“, die das Spielen des Spiels „Silent Hill“ erst zu einer sinnvollen Aktivität macht, wird beim Schauen von Spielfilmen gern marginalisiert. Nicht nur wird häufig allenfalls der so genannten „großen Filmkunst“ zugestanden, dass man sich über sie Gedanken machen dürfe; sondern dem Mainstream-Kino und mehr noch den unterschlagenen Werken der Filmgeschichte wird allzu oft sogar regelrecht abgesprochen, dass ihr Gouttieren etwas mit einer geistigen Tätigkeit zu tun hätte. Die Vorwürfe reichen von der Frage, ob ruhig Dasitzen und einen Film Schauen, denn überhaupt ein aktiver Prozess ein könne - bis hin zum antiintellektuellen Vorwurf der „Überinterpretation“.

Betrachtet man sich die Übertragung des Spiels „Silent Hill“ in den Film, zeigt sich allein in den Unterschieden, dass neuer Sinn in den Stoff gekommen ist, der dort auch wieder herausgeholt werden darf. Der Film wird im Kopf „gespielt“, wie das Spiel „gelesen“ wird (und wenn dies, wie in der Playstation-Variante über das Wiedererkennen der Straßennamen geht, die allesamt nach Autoren der Horrorliteratur benannt sind).

Screenshot von Silent Hill 2. Bild: Konami

Christophe Gans macht es seinen „Lesern“ dabei nicht allzu einfach. Die Komplexität der Erzählung, das wurde oben schon erwähnt, rekrutiert sich einerseits aus dem Überangebot an Erklärungen, die die Hintergrundgeschichte des Geschehens erhellen sollen. Auf der anderen Seite sind es aber gerade die Motive des Unheimlichen, die entstellten Körper der Monster, die sich auflösenden Räume und das fulminante Finale, indem eine Kaskade an christlich-abendländischer Symbolik herbeizitiert wird, die zur Verundeutlichung und damit zum Lesevergnügen beitragen.

Find the hidden Clues

„Silent Hill“ steht in der Tradition der jüngeren Geisterfilm-Geschichte, die zumeist ostasiatische Vorlagen hat – so viel ist sicher. Etwas „ganz Neues, nie Dagewesenes“, wie Plakate und Werbezeilen zum Film Glauben machen wollen, ist der Film genauso wenig, wie er sich angeblich nicht in die Genregeschichte einfügen will. Bestechend ist neben seiner Komplexität vor allem die Atmosphäre, der man sich hingeben kann, ohne allzu Grausames befürchten zu müssen. In der europäischen Version des Spiels wurden aus Angst vor der Indizierung auch noch Änderungen am Aussehen der Monster vorgenommen – diese Vorzensur war beim Film nicht mehr notwendig: ob die brennenden Kinderzombies zu Beginn, die armlosen Monster, die Säure verspritzen, oder der fast schon surrealistisch anmutende „Red Pyramid“-Dämon mit seinem körpergroßen Schwert – die visuelle Kreativität und Qualität des Films steht außer Frage.

Screenshot von Silent Hill 2. Bild: Konami

Das Wiedererkennen der Situationen aus dem Spiel, in die Rose und Cybil geraten, bietet darüber hinaus einen Bonus, der so bei nur wenigen bisherigen Computerspiel-Adaptionen zu erlangen war. Um diese Verwandtschaft zwischen Spiel und Film plausibel pflegen zu können, hat das Drehbuch zwar etliche Zugeständnisse an die „Find the hidden clue“-Dramaturgie des Computerspiels machen müssen, doch auch das kann man als pointierte Referenz werten.

„Silent Hill“ bietet also eine interessante Mischung aus beiden Medienästhetiken, die nicht ohne Charme miteinander kombiniert werden. Das Ende des Films lässt – im Gegensatz zu dem des Spiels – durchaus Möglichkeiten der Weiterentwicklung . Aber weil das Spiel auch ohne einen solchen Cliffhanger bislang vier Fortsetzungen erfahren hat, dürfte ein Filmsequel wohl nicht allzu lang auf sich warten lassen.