Störtebekers Erben

Hamburger Spaßguerilla hält Geschäftsleute und Polizei zum Narren

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Während in Berlin erhitzte Debatten darüber geführt werden, wie die Reichensteuer so umgesetzt werden kann, dass sie ganz bestimmt niemand weh tut, nimmt eine konspirative Hamburger Gruppe mit dem Namen „Hamburg Umsonst“ die Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums selbst in die Hand: Sie „überfallen“ Nobelrestaurants und andere Gourmettempel, sacken ein, was ihnen an Exklusivitäten in die Hände kommt, beglücken die Angestellten mit Blumensträußen, verschwinden so schnell, wie sie gekommen sind, und verteilen die edle Beute an Bedürftige. Nun rätselt die ganze Stadt, wer die modernen Robin Hoods oder Störtebekers wohl sind - vor allem die Polizeiführung, denn die konnte ihrer bisher trotz Großfahndung und Hubschraubereinsatz nicht habhaft werden.

Wer kennt sie nicht, die Sage von dem edlen Underdog, der einst mit seinen Getreuen den Sherwood Forest unsicher machte? Robin Hood praktizierte ein so einfaches wie erfolgreiches Konzept zur Umverteilung gesellschaftlichen Reichtums: Er nahm es den Reichen und gab es den Armen. Damit zog er sich den Zorn des Adels zu, die ihm den Sheriff von Nottingham und seine Garde auf den Hals hetzten, die Armen jedoch liebten ihn dafür.

Der Hamburger Robin Hood hieß Klaus Störtebeker und machte als Pirat Ende des 14. Jahrhunderts die Weltmeere unsicher. Er arbeitete nach demselben Prinzip wie Robin Hood, war wie sein britischer Kollege beim einfachen Volk sehr beliebt, den hanseatischen Pfeffersäcken jedoch zutiefst verhasst. Die richteten später eine eigene Flotte ein, die Konvoischiffe, mit zahlreichen Kanonen bestückte fregattenartige Großsegler, deren Aufgabe es war, die Hamburger Handelsschiffe auf hoher See vor Überfällen von Piraten und anderen Feinden zu schützen.

Der Sage nach wurden Störtebeker und seine Mannschaft am 22. April 1401 von einer hamburgischen Flotte unter Simon von Utrecht vor Helgoland gefangen genommen und am 20. Oktober 1401 in Hamburg hingerichtet. Vor der Exekution habe Störtebeker mit dem damaligen Hamburger Bürgermeister einen Deal ausgehandelt, heißt es: Jeder seiner Leute, an denen er nach der Guillotine kopflos vorbeirennen würde, solle verschont bleiben. So soll er noch elf seiner Leute passiert haben, der Bürgermeister hielt sich indes nicht an sein Versprechen und ließ alle köpfen.

Prekäre Superhelden

Störtebekers Erben, die seit kurzem die Stadt unsicher machen, haben modernere Vorbilder. Sie nennen sich „prekäre Superhelden“ namens Multiflex, Operaistorix, Santa Guevara und Spider Mum und kleiden sich recht farbenfroh. Ihre selbst ausgewählte Mission: Den Armen in der Stadt der Reichen überleben zu helfen. Dazu setzen sie ihre im Callcenter, bei bezahlter und unbezahlter Putzarbeit, im Kampf gegen die Arbeitsagentur und im Hörsaal entwickelten Superkräfte ein, wie sie in einem Schreiben erläutern, dass sie kürzlich an ihrem letzten Einsatzort, dem „Frische Paradies Goedeken“, hinterließen.

Dabei handelt es sich um ein Feinkostgeschäft erster Güte an der Großen Elbstraße, in dem sich Gourmettempel mit feinen Häppchen und guten Tropfen versorgen. In Nullkommanichts füllten die Einen mehrere Einkaufswagen mit exquisiten Köstlichkeiten, von deren Existenz das gemeine Volk nicht einmal etwas ahnt, geschweige denn eine Vorstellung von deren Wert hat. Nachdem die Einen mit einpacken fertig waren, kamen die Anderen, schnappten sich die gepackten Körbe und waren Hastdunichtgesehen mitsamt der edlen Beute spurlos verschwunden. Vorher bekamen die Beschäftigten allerdings noch Blumen überreicht, an denen besagtes „Bekennerschreiben“ hing. Außerdem posierten die Superhelden noch schnell für einen Schnappschuss - so viel Zeit musste sein. Später verteilten sie die Leckereien an Ein-Euro-Jobber und andere Bedürftige.

Nachdem die überrumpelten Angestellten sich wieder gefangen hatten, riefen sie die Polizei. Heute wird natürlich nicht mehr mit Kanonen geschossen, es kamen „nur“ 14 Streifenwagen und ein Polizeihubschrauber zum Einsatz. Doch trotz des Großaufgebots blieb die Bande unauffindbar. Eine peinliche Schlappe für die Hamburger Polizei, deren Aufgabe weiterhin bleibt, die Superhelden ausfindig zu machen. Laut dem Magazin The Scotsman kostete die Fahndung die Steuerzahler ca. 15.000 Britische Pfund (umgerechnet knapp 22.000.- €), ohne dass eine einzige Person festgenommen wurde, wie die sparsamen Schotten zu bedenken geben. Deutsche Medien stellten diese indirekte Frage nach der Verhältnismäßigkeit der Mittel nicht. Mit Unterstützung des Verfassungsschutzes (VS) und dem Landeskriminalamt (LKA) sollen die maskierten Räuber nun schnellstens geoutet werden. Das Hamburger Abendblatt sieht da indes wenig Chancen, da die Aufklärungsquote der entsprechenden Abteilung des LKA „miserabel“ sei. Das Springer-Blatt bringt die unkonventionelle Shopping-Tour der Spaßguerilla in Zusammenhang mit anderen Aktion, u. a. einem unbezahlten Fressgelage in einem Nobelrestaurant im feinen Blankenese vor ca. einem Jahr, einem Farbbeutel“anschlag“ auf ein Gebäude der Arbeitsagentur in der letzten Woche sowie dem Anschlag auf ein Auto im April 2006. So etwas gelte „nicht einmal als Terror“, moniert das Springer-Blatt, und zitiert eine Polizeisprecherin, die bemängelt, dass die Polizei „kaum mit Telefonüberwachung“ arbeiten könne.

Mit ihrer Aktion sind Störtebekers Erben nicht nur in Hamburg im Gespräch, sondern überregionale und internationale Medien berichteten über die Aktion. Dankenswerter Weise klären Spiegel, The Independent und The Scotsman darüber auf, welch lukullische Köstlichkeiten dem Pöbel in die Hände gefallen sind: Schampus im Wert von knapp 100.- € die Flasche (laut Spiegel exakt 99,53 €), Hirschkeulen, edles Olivenöl, Valrhona-Schokolade (excellente französische Schokolade für ca. 3.40 € pro 75 g) und Filetstücke vom Kobe-Rind. Das ist anscheinend ganz was Exquisites: „Die japanischen Rindviecher sind etwas ganz Besonderes für Kenner. Zur speziellen Kraftnahrung gibt es reichlich Bier, außerdem werden die Rinder täglich zwei Stunden per Hand massiert - angeblich wird das Fleisch so besonders zart und erhält seine feine Maserung. Je nach Herkunft und Qualität werden pro Kilogramm Preise erzielt, die dem Regelsatz eines Hartz-IV-Empfängers entsprechen können“, schreibt Andreas Ulrich im Spiegel.

Über den genauen Gegenwert von Hartz-IV in Kobe-Rind sind sich die Gazetten indes nicht ganz einig, die Rede ist von 100.- bis 150.- € pro Kilo des erbeuteten Fleisches. Nun stellt sich die Frage, ob der Spiegel-Autor Informationen über die baldige drastische Kürzung des Regelsatzes hat, oder ob bei „Goedeken“ Kobe-Rind minderer Qualität verkauft wird.