Einheitslook im Klassenzimmer

Deutschland diskutiert über die einheitliche Schulkleidung

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Warum ausgerechnet Bundesjustizministerin Brigitte Zypries (SPD) die Einführung einer uniformen Schulkleidung vorgeschlagen hat, um den übertrieben konfliktfreudigen und obendrein von Sozialneid zerfressenen Nachwuchs in Deutschland zur Raison zu bringen, weiß auch Tage nach dem Aufsehen erregenden Ereignis niemand mit Sicherheit zu sagen. Bei Kabinettskollegin Annette Schavan (CDU) wäre das Thema fachlich und ideologisch sicher besser aufgehoben gewesen, obwohl auch die Bildungsministerin für Fragen der Länderhoheit und direkten Schulverwaltung nicht wirklich zuständig ist. Doch mittlerweile spielt das keine tragende Rolle mehr.

Der Zypries-Vorschlag hat ein breites Echo hervorgerufen und insbesondere in den Reihen des Koalitionspartners für helle Begeisterung gesorgt. Bayerns Ministerpräsident Edmund Stoiber (CSU) hält die Einheitskleidung erwartungsgemäß für eine „gute Idee“, die CDU-Bildungsexpertin Katherina Reiche glaubt, dass sie „den sozialen Druck rausnimmt“, und die nordrhein-westfälische Schulministerin Barbara Sommer (CDU), die als fünffache Mutter und passionierte Hobby-Jägerin einschlägige Mehrfachkompetenzen mitbringt, steht der Sache „offen“ gegenüber.

Sogar Angela Merkel kann sich für den Gedanken erwärmen, auch wenn sie ausnahmsweise darauf verzichtet, ihre speziellen ostdeutschen Erfahrungen als autobiografisches Qualitätssiegel in die Diskussion zu werfen. Das wäre in diesem Fall wohl auch nicht ratsam, denn wer möchte bei der Begriffskombination Kinder-Uniform schon an sattes DDR-Blau denken? Oder noch ein paar Jahre weiter zurückgehen und im Geiste ganze Armeen heranwachsender Arier vorbeimarschieren sehen, die in brauner HJ-Montur daran erinnern, dass Deutschland schon reichlich Erfahrungen mit dergleichen Kleidungsstücken gesammelt hat, auch wenn sie nicht ausdrücklich für den Schulgebrauch bestimmt waren?

Schulkleidung der Realschule Haag. Foto: Staatliche Realschule Haag

„Modellversuch mit schicken Schuluniformen“

So geht´s also nicht, und deshalb plädiert die Bundeskanzlerin für einen „Modellversuch mit schicken Schuluniformen“. Den gibt es allerdings bereits, und zwar nicht nur in Großbritannien, Japan oder an Privatschulen in Amerika und Kanada, sondern seit geraumer Zeit auch in deutschen Landen. Die Staatliche Realschule Haag in Oberbayern hat mit Beginn des Schuljahres 2005/2006 eine hell- und dunkelblaue Schulkleidung eingeführt und damit auf den - selbstredend einstimmigen - Beschluss von Elternbeirat, Schülersprechern, Schulleitung und Lehrervertretung reagiert. Die Schule legt freilich Wert auf die Feststellung, dass es sich dabei nicht um Uniformen handelt, „sondern um moderne und hochwertige Kleidungsstücke“, die überdies „günstig“ und „robust“ sind.

Während viele Befürworter einer einheitlichen Schulkleidung ihre Auffassung mit aktuellen Beispielen religiös-kultureller oder sozialer Konfliktbildung - etwa im Umkreis des Hilferufs der Berliner Rütli-Schule oder der zeitweiligen Schulverweise für zwei türkische Mädchen, die vor kurzem in Bonn mit einer Burka bekleidet am Unterricht teilnehmen wollten – zu stützen versuchen, begründet die Realschule Haag die Maßnahme mit wissenschaftlichen Studien von Oliver Dickhäuser, der zurzeit einen Lehrstuhl für Pädagogische Psychologie an der Universität Nürnberg-Erlangen innehat.

Positive Erfahrungen mit einheitlicher Schulkleidung

Dickhäuser hatte mit einem Team der Universität Gießen bereits 2004 einen viel diskutierten Artikel („Kleider machen Schule? Korrelate des Tragens einheitlicher Schulkleidung“) in der Zeitschrift „Psychologie in Erziehung und Unterricht“ veröffentlicht. Seine Erkenntnisse basierten seinerzeit auf Untersuchungen an der Haupt- und Realschule in Hamburg-Sinstorf, die seit 2000 als ein Vorreiter in Sachen einheitlicher Schulkleidung gilt.

Oliver Dickhäuser und seine Kollegen kamen zu dem Schluss, dass in Klassen mit einheitlicher Schulkleidung nach einer Eingewöhnungsphase „ein besseres Sozialklima, eine höhere Aufmerksamkeit, ein höheres Empfinden von Sicherheit sowie ein generell niedrigerer Stellenwert von Kleidung“ beobachtet werden kann als in Schulklassen ohne vergleichbare Bekleidungsregelung. Mittlerweile gibt es für den Einheitslook in Hamburg-Sinstorf sogar schon eine Art Glaubensbekenntnis mit Merksätzen und Beschwörungsformeln.

Einheitliche Schulkleidung gibt ZUSAMMENGEHÖRIGKEITSGEFÜHL.
Die INTEGRATION in die Gruppe wird beschleunigt.
Schulkleidung zeigt die Zugehörigkeit zu MEINER SCHULE, AUSGRENZUNG wegen nicht getragener Markenkleidung findet weitgehend nicht statt.
Modefragen und egozentrische Selbstdarstellung sind am Vormittag kein Thema.
Alle tragen die gleiche ARBEITSKLEIDUNG.
Schüler aller Nationalitäten haben die gleiche Chance, ihre Individualität zu entfalten. SELBSTWERTGEFÜHL wird aufgrund von Persönlichkeit und Sozialkompetenz erworben, nicht über die Identifikation durch Kleidung.
Schüler lernen, sich situationsabhängig, verschiedenen Anlässen gemäß zu kleiden.
Sie lernen, kritisch mit Konsum und dem Nacheifern von Vorbildern umzugehen.

Homepage der Schule Sinstorf in Hamburg-Harburg

Unerwähnt bleibt hier, dass Dickhäuser selbst auf ein Problem hingewiesen hat, welches ihm nicht erlaubt, seine bisherigen Forschungen als repräsentativ zu betrachten. Weltweit gibt es bis dato kaum vergleichende Untersuchungen, dafür aber praktische Erfahrungen, die zeigen, dass die Abschaffung von Schuluniformen auch mit dem Ende von Bevormundung und Unterdrückung einherging. In Deutschland fiel der Kleiderzwang für Kinder und Jugendliche nach dem Ende des Nationalsozialismus bzw. nach der Wende, und auch Russland schaffte die Schuluniformen wenige Jahre nach dem Untergang der Sowjetunion ab.

Komplizierte Probleme verweigern sich einfachen Lösungen

Der bewusste Verzicht auf die optische Angleichung größerer Menschengruppen, auf Kleidungsstücke und eventuell begleitende Ordnungsstrukturen, die dem militärischen Bereich entlehnt sind, können aber nicht nur historisch und politisch begründet werden. Kleidung ist im sozialen Brennpunkt Schule ein Mittel rücksichtsloser Auseinandersetzung geworden, gleichzeitig aber auch Ausdruck von Individualität und ein Spielball der Persönlichkeitsbildung. Außerdem gilt es zu bedenken, dass sich die vielfältigen Schwierigkeiten, die mit der Integration von Migrantinnen und Migranten verbunden sind, durch eine einheitliche Schulkleidung weder befriedigend noch langfristig beheben lassen. Blaue T-Shirts überwinden keine Sprachbarrieren, und sie vermitteln auch nicht zwischen verschiedenen oder gegensätzlichen kulturellen und religiösen Traditionen.

Der Deutsche Philologenverband lehnte den Vorschlag der Bundesjustizministerin deshalb ebenso umgehend ab wie der einheimische Lehrerverband.

Es ist völlig unrealistisch zu glauben, mit Schuluniformen ließen sich Integrationsprobleme lösen oder der Markenfetischismus bekämpfen. Denn Forscher haben herausgefunden, dass sich in Ländern mit Schuluniformen dieses Phänomen dann in andere Bereiche, z.B. Handys und Uhren verlagert.

Heinz-Peter Meidinger, Vorsitzender des Deutschen Philologen-Verbandes

Meidinger nutzte die Steilvorlage aus Berlin allerdings, um noch einen Nebenkriegsschauplatz zu eröffnen. Immerhin spräche nichts dagegen, wenn Jugendliche „ordentlich gekleidet“ in die Schule kämen. „Schlabberlook und bauchfreie Tops“ hätten in einem Klassenzimmer schließlich „nichts verloren“. Vielleicht musste auch das einfach mal wieder gesagt werden – zu einer zielführenden Lösung der anwachsenden Problemberge wird der adrette Zwischenruf des Philologen-Verbandschefs sicher nicht beitragen.

Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft scheint die Diskussion insofern ernster zu nehmen, als sie bereits vor der Eröffnung derselben ein bemerkenswertes Rechenexempel vorstellte. Mit den 26 Milliarden Euro, die der alten rot-grünen Bundesregierung allein durch die Unternehmensteuerreform und die Senkung des Spitzensteuersatzes pro Jahr verloren gingen, hätte das deutsche Bildungssystem 100.000 Lehrer bezahlen und obendrein noch 16.000 Schulen mit einer Million Euro sanieren können, behauptete der GEW-Vorsitzende Ulrich Thöne Ende April.

Er verwies darauf, dass in Deutschland derzeit 4,4% des Bruttoinlandsprodukts aus öffentlichen Mitteln in Bildung investiert werden, während es in Schweden 6% seien. Um den Anschluss an die deutlich erfreulichere Situation der Bildungsinstitute in Skandinavien nicht zu verlieren, sind nach Thöles Ansicht von den Kitas über die Schulen bis hin zu den Universitäten zusätzliche Investitionen von 35 Milliarden Euro nötig.

Dass sich mit einer besseren Ausstattung und mehr Personal viel erreichen ließe, steht wohl außer Zweifel. Doch der Einsatz größerer Mittel dürfte zunächst nicht viel mehr bewirken als die uniforme Bekleidung der Schülerinnen und Schüler: Die drängenden Schwierigkeiten – Integrationsprobleme, Markenfetischismus, offene Auseinandersetzungen - verschwinden möglicherweise eine Zeitlang aus dem unmittelbaren Blickfeld, führen unter der kosmetisch behandelten Oberfläche aber weiter ein intensives und nun sogar unbeobachtetes Eigenleben. Da ihre Ursachen im gesellschaftlichen, kulturellen und psychologischen Bereich liegen, dürfte ihnen mit Finanzspritzen und neuen Kleidern kaum beizukommen sein.

Vielleicht lohnt auch hier ein Blick ins benachbarte Europa, und der muss durchaus nicht immer Richtung Skandinavien gehen. In Frankreich wird seit Monaten mit ungewohnter Heftigkeit über die Zukunft des Bildungssystems gestritten. Der zuständige Minister Gilles de Robien hat sich nach den Protesten der letzten Zeit zu der Erkenntnis durchgerungen, dass im 21. Jahrhundert „nicht nur Wissen“ gefragt ist. Die französischen Schülerinnen und Schüler sollen in Zukunft deshalb auch soziale Kompetenzen, Selbstständigkeit und Initiativgeist lernen. Ob und wie das funktionieren kann, muss vorerst abgewartet werden.

Der Versuch, Reibungspunkte und Konfliktherde zu benennen und gemeinsam mit Schülern, Eltern und Lehrern nach Lösungsmöglichkeiten zu suchen, wird auch in Deutschland unternommen. Die meisten Bemühungen erwecken jedoch den Eindruck gutgemeinter Einzelinitiativen oder geschickter PR-Kampagnen, denen ein überzeugender methodischer Ansatz fehlt.

Um Erfolgversprechenderes auf den Weg zu bringen als eine neue Kleiderordnung bedarf es offensichtlich der großen Wertediskussion und des gezielten Einzelgesprächs – auf beides ist Deutschland denkbar schlecht vorbereitet.