Deutsche Kriege für das "nationale Interesse"?

Verteidigungsminister Jung will im Weißbuch den Auftrag der Bundeswehr neu definieren. Wegmarken einer Abkehr von der im Grundgesetz verankerten Friedensstaatlichkeit

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Christian Ströbele von den Grünen ärgert sich, weil Minister Franz Josef Jung (CDU) für den Kongoeinsatz der Bundeswehr auch wirtschaftliche Interessen als Argument geltend macht. Der parlamentarische Staatssekretär Michael Müller (SPD) hält es immerhin „für falsch“, der Bundeswehr die Sicherung des Zugangs zu Öl- oder Gasquellen als Aufgabe zuzuweisen. Unter den Bedingungen der Großen Koalition zeichnet sich eine neue deutsche Militärdoktrin ab, die – wenn sie sich durchsetzen sollte – auf eine Verfassungsänderung hinausläuft.

Für die Abkehr von der Beschränkung auf die Landesverteidigung hat die PR-Abteilung der Politik schon lange die schöne Wendung „Transformation der Bundeswehr“ in Umlauf gebracht. Auf der Tagesordnung steht jedoch nichts weniger als ein Umsturz. Ganz offen ist im aktuellen Diskurs von deutschen Militäraktivitäten zur Wahrung nationaler Rohstoff- und Energieinteressen die Rede. Im Rückblick lassen sich viele vorbereitende Voten für diesen Verfassungsumsturz nachlesen. Die Frage ist: Werden die Sozialdemokraten mit im Boot sitzen?

Verheugen contra Rühe

Bereits 1975/76 benennt das militärpolitische „Weißbuch“ die Verknappung von Erdöl und anderen Rohstoffen als „sicherheitspolitische Bedrohung“ der Bundesrepublik. CDU-Minister Volker Rühe formuliert in seinen Verteidigungspolitischen Richtlinien (26.11.1992) als Auftrag der Bundeswehr: „Aufrechterhaltung des freien Welthandels und des ungehinderten Zugangs zu Märkten und Rohstoffen“. Deutschland gilt als „kontinentale Mittelmacht mit weltweiten Interessen“.

Einschränkend wird als Rahmen der Interessenssicherung noch eine „gerechte Weltwirtschaft“ angegeben – was immer das beim wirtschaftlich-militärischen Gefälle auf dem Globus auch heißen mag. Andere sprechen sehr bald schon davon, dass bei knapper werdenden Ressourcen die einen mehr Recht auf nationale Versorgung haben müssen als andere. Oberstleutnant i. G. Reinhard Herden schreibt nach einem Austausch mit US-Militärs im offiziellen Bundeswehrorgan „Truppenpraxis/Wehrausbildung“ (Nr. 2/1996): Im 21. Jahrhundert „werden die jetzt im Frieden miteinander lebenden wohlhabenden Staaten gegen die Völker der armen Staaten und Regionen ihren Wohlstand verteidigen müssen. (...) Der Menschheit steht ein Jahrhundert des Mangels bevor. Um Dinge, die man einmal kaufen konnte, wird man Krieg führen.“ Der Kontext: Ressourcenkriege der Zukunft zwischen Reichen und Armen.

Präzise fragt der CDU-Politiker Kurt Biedenkopf: „Können wir es ertragen, wenn ein nicht unwesentlicher Teil der Menschen verhungert? Wie wollen wir uns gegen den Anspruch der Armen dieser Erde schützen, mit ihnen zu teilen, wenn wir kaum bereit sind zu teilen. (...) Welche kriegerischen Gefahren erwachsen aus diesen Entwicklungen? (...) Die Art wie wir leben, ist nicht verallgemeinerungsfähig. (...) Das heißt aber, dass die Fortführung unserer eigenen Lebensweise nur möglich ist, wenn sie auch in Zukunft einer privilegierten Minderheit, den hochentwickelten Industrienationen, vorbehalten bleibt.“ (Biedenkopf: Ein deutsches Tagebuch. Berlin 2000)

In der sozialdemokratischen Tradition Willy Brandts erklärt Günther Verheugen noch am 6. November 1995 auf dem Sicherheitspolitischen Forum des Deutschen Bundeswehrverbandes: „Ich stelle für die SPD fest: unsere Bundeswehr ist kein Interventionsinstrument. (...) Damit schließe ich ausdrücklich Erwägungen aus (...), Aufgabe der Bundeswehr könnte die Sicherung der Rohstoffversorgung und der Handelswege sein.“ Damit war eine denkbar klare Grenze zu CDU-Vorstellungen gezogen.

Rudolf Scharping und Peter Struck weisen den neuen Weg

Nur ein halbes Jahrzehnt später trägt der SPD-Minister für das Militärressort, Rudolf Scharping, am 21. Januar 2001 auf dem SPD-Programmforum „Sicherheit“ vor: „In 25 Jahren ist das Gas in der Nordsee alle, aber in der Region um Afghanistan und im Kaukasus ist alles vorhanden. Und ob dort regionale Sicherheit entsteht, ist im Interesse aller, die in Zukunft aus der Region Energie beziehen wollen.“ In einem Vortrag vor der Heidelberger Universität am 27. November 2001 wiederholt Scharping, der Kaspische Raum könne wegen einer strittigen „Nutzung und Verteilung der strategischen Ressourcen Öl und Gas leicht zur Krisenregion der nächsten Jahrzehnte werden“.

2002 wird sein Nachfolger, Minister Peter Struck (SPD), genau diese Region als Schauplatz für die „Verteidigung unserer Freiheit am Hindukusch“ proklamieren. Am 9.11.2004 erläutert Struck ganz prinzipiell:

Moral und Geschichte reichen sicherlich nicht aus, um in jedem Einzelfall über Europas sicherheitspolitisches Engagement zu entscheiden. Andere Faktoren müssen hinzukommen, vorrangig die europäischen Interessen. Ich denke, dass in der Tat die wirtschaftliche Entwicklung Europas im 20. Jahrhundert, die Globalisierung und das Aufkommen neuer Bedrohungen zu gemeinsamen materiellen Interessen der Europäer geführt haben. Sie stehen gleichwertig [!] neben ideellen Verpflichtungen. Zu diesen Interessen gehören der Schutz gegen internationalen Terrorismus oder die Begrenzung der Auswirkungen destabilisierender Konflikte in der europäischen Nachbarschaft. Dazu gehören auch der Schutz vor illegaler Immigration und organisierter Kriminalität oder der Schutz der Energie- und Rohstoffversorgung.

Rede auf dem 15. Forum Bundeswehr & Gesellschaft der Zeitung „Welt am Sonntag“

Hier sind „materielle Interessen“, „wirtschaftliche Entwicklung“, „Energie- und Rohstoffversorgung“ unmissverständlich beim Namen benannt. Weiterzudenken wäre als Perspektive: Wir dürfen uns mit hohen Mauern vor illegalen Eindringlinge aus armen Ländern schützen, selbst aber jede Grenze überschreiten.

Der europäische Kontext

Nun muss man sich, um z.B. unter dem Banner der „Krisenbewältigung“ in fremden Ländern agieren zu können, erklären. Die Europäische Sicherheitsstrategie vom 12. Dezember 2003 bekundet vielsagend:

Unser herkömmliches [!] Konzept der Selbstverteidigung (...) ging von der Gefahr einer Invasion aus. Bei den neuen Bedrohungen wird die erste Verteidigungslinie oftmals im Ausland liegen. Die neuen Bedrohungen sind dynamischer Art.

Im Klartext gibt das „European Defence Paper (Paris, Mai 2004) den EU-Staatschefs zu bedenken:

Künftige regionale Kriege könnten die europäischen Interessen tangieren (...) indem europäische Sicherheit und Wohlstand direkt bedroht werden. Beispielweise durch die Unterbrechung der Ölversorgung und/oder eine massiven Erhöhung der Energiekosten [oder] der Störung des Handels- und Warenströme.

Im Januar 2006 erklärt der französische Präsident Jacques Chirac, die Atomwaffen seines Landes könnten u.a. auch „zur Sicherstellung unserer strategischen Versorgung“ eingesetzt werden. Bundeskanzlerin Angela Merkel bewertet Chiracs Vorstellungen ganz unaufgeregt als „eine den aktuellen Veränderungen in der Welt angepasste Doktrin“.

Die zivile Alternative zu einer mit militärischer Stärke operierenden „Weltordnungskonzeption“ war in der Präambel zum vorerst auf Eis gelegten Europäischen Verfassungsvertrag immerhin angedeutet. Institutionell, personell und finanziell kam in den sich anschließenden Ausführungen jedoch allein die militärische Komponente zum Zug. Der Ausbau der europäischen Streitkräfte vollzieht sich derzeit auch ohne „Verfassungsgrundlage“. Trotz mancher Vorzeigeprojekte hat Europa nach Ende des Kalten Krieges die Chance vertan, in die Entwicklung eines umfassenden Systems ziviler Konfliktbearbeitung und Kriegsprävention Investitionen zu tätigen, die im Vergleich mit den Rüstungshaushalten wirklich ins Gewicht fallen. So preist man nun als „Lösungsmittel“ wieder die Instrumente von Vorgestern an.

Vorbild ist das US-amerikanische „Weltordnungsprogramm“

In US-amerikanischen Militärdoktrinen sind die Begriffe „nationale Sicherheit“ und „nationales Interesse“ schon lange austauschbar. Seit Ende des Kalten Krieges werden auch die Verbündeten der USA über die NATO-Doktrin in die zugrunde liegende Ideologie einbezogen. Nunmehr verbinden nicht nur „gemeinsame Werte“ die Mitglieder des ehemaligen Verteidigungsbündnisses, sondern vor allem auch die „gemeinsamen Interessen“.

Die Dopplung „Werte und Interessen“ fand z.B. in der CDU-nahen Konrad-Adenauer-Stiftung von Anfang an eifrige Befürworter. Heute hat sie sich wie selbstverständlich in den politischen Sprachgebrauch eingebürgert. Die am 17. September 2002 verkündete „National Security Strategy 54“ der USA (Amerikanischer Internationalismus) kennt – wie bereits die Clinton-Administration – überhaupt keine Hemmung mehr, die eigentlichen Interessen – darunter besonders das vermeintliche Recht der Vereinigten Staaten auf fremdes Öl – beim Namen zu nennen:

Zugang zum Öl des Persischen Golfes ist für die nationale Sicherheit der USA von entscheidender Bedeutung. Falls erforderlich werden wir diese Interessen auch mit militärischer Gewalt verteidigen.

Schon bezogen auf den Golfkrieg 1991 hatte General Brent Scowcroft, nationaler Sicherheitsberater von Bush Senior, gegenüber der BBC eingeräumt, dass „der wahre Grund für den Krieg natürlich das Öl gewesen sei“ (Frankfurter Rundschau, 18.1.1996). „The Guardian“ meldete am 4. Juni 2003 die folgende Antwort von Paul Wolfowitz auf die Frage, warum die USA Nordkorea anders behandeln würden als den Irak:

Der wichtigste Unterschied ist, dass wir wirtschaftlich einfach keine Wahl im Irak hatten. Das Land schwimmt auf einem Meer von Öl.

Demnach entscheidet die Militärstärke darüber, wer auf dem Globus den größten Teil der Ressourcen für sich reklamieren kann. Zu den entschiedenen Kritikern dieser Auflösung des Völkerrechts gehört der Bundestagsabgeordnete Willy Wimmer (CDU), ehemals Parlamentarischer Staatssekretär im Verteidigungsministerium. Mit Blick auf die Vereinigten Staaten hat er unlängst vor einem „Anpassungsbedarf an schlechte Beispiele“ gewarnt und sich gleichzeitig gegen eine Änderung der Verfassungsbestimmungen zur Verteidigung ausgesprochen.

Das Beispiel „Kongo“

In einem Arbeitspapier der Evangelischen Kirche im Rheinland vom letzten Jahr heißt es: „Seit 1990 sind vier Millionen Menschen, davon 90 Prozent Zivilpersonen, durch kriegerische Handlungen umgekommen ... Jedes Jahr sterben 45 Millionen Menschen an Hunger und Unterernährung.“ Alle von der UNO als notwendig erachteten Programme zur Bekämpfung des Hungers, zur Eindämmung der HIV-Epidemie oder zur Sicherstellung einer sauberen Trinkwasserversorgung verlieren sich in folgenlosen Tagungen. Das Geld kommt nie zusammen.

Die weltweit als Entwicklungshilfe deklarierten Ausgaben machen bedeutend weniger als ein Zehntel des globalen Rüstungshaushaltes aus. Derweil rüsten die reichen Weltzentren, allen voran die USA, weiter auf. Dafür beanspruchen sie – insbesondere bei selektiven Interventionen in wirtschaftlich interessanten Regionen – menschenfreundliche Motive. Obwohl die Liste der unterlassenen zivilen Hilfeleistungen Tag für Tag länger wird, sollen wir ausgerechnet bei militärischen Aktivitäten glauben, wir hätten es mit moralisch inspirierten Akteuren zu tun.

Die Bundeswehr rüstet sich derzeit zu einem sehr umstrittenen Auslandseinsatz im Kongo. Der CDU-Abgeordnete Andreas Schockenhoff sagte am 15.3.2006:

Kongo ist eines der rohstoffreichsten Länder der Welt, und verfügt unter anderem über strategische Rohstoffe, die für Europa wichtig sind. Wolfram, Mangan- und Chromerze, Kobalt, Uran, Erdöl, Coltan und Beryllium.

Verteidigungsminister Jung erklärte kurz darauf:

Es geht auch um zentrale Sicherheitsinteressen unseres Landes! Wenn wir nicht dazu beitragen, den Unruheherd Kongo zu befrieden, werden wir mit einem großen Flüchtlingsproblem in ganz Europa zu tun bekommen.

Außerdem offenbarte er der Bild-Zeitung: „Stabilität in der rohstoffreichen Region nützt auch der deutschen Wirtschaft.“ Über diese Aussagen hat sich der grüne Parlamentarier Hans-Christian Ströbele, ein Befürworter des Kongo-Einsatzes, geärgert: „Wenn ich den Eindruck hätte, diese Mission habe auch nur den Anschein eines wirtschaftlichen Zusammenhangs, dann wäre ich dagegen.“

Bereits 2001 konstatierte ein Untersuchungsbericht der Vereinten Nationen, es drehe sich „der Konflikt in der Demokratischen Republik Kongo hauptsächlich um Zugang zu, Kontrolle von und Handel mit fünf mineralischen Ressourcen: Coltan, Diamanten, Kupfer, Kobalt und Gold.“

Die Beteiligung an Angriffskriegen ist nicht verfassungswidrig?

Schon in der Präambel schreibt unsere Verfassung den Dienst am Frieden als Kern bundesdeutscher Staatlichkeit fest. Die Ächtung aller Angriffshandlungen durch die UN-Charta ist gemäß Art. 25 des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland bindend. GG Art. 26 und Strafgesetzbuch § 80 erklären bereits vorbereitende Aktivitäten zu Angriffshandlungen für verfassungswidrig bzw. kriminell. GG Art. 87a begrenzt die Bundeswehr strikt auf die Landesverteidigung (andere Fälle sind im Grundgesetz eben nicht vorgesehen). GG Artikel 115 definiert den Verteidigungsfall, wenn „das Bundesgebiet mit Waffengewalt angegriffen wird“. Demgegenüber berufen sich die Regierenden für Auslandseinsätze der Bundeswehr auf eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 12. Juli 1994, die von GG Art 24 Abs. 2 (kollektives Sicherheitssystem) ausgeht. In der Rechtswissenschaft ist die uferlose Ausweitung der Verteidigungsdefinitionen äußerst umstritten.1

Rot-Grün hat seit dem – nach Auskunft von Altbundeskanzler Helmut Schmidt völkerrechtswidrigen – Jugoslawienkrieg 1999 erheblich dazu beigetragen, das bisher geläufige Verständnis der Verfassung ganz auf den Kopf zu stellen. In der ausführlichen Begründung zum Urteil des Bundesverwaltungsgerichts (2. Wehrdienstsenat) vom 21. Juni 2005 zugunsten des wegen Befehlsverweigerung degradierten Majors Florian Pfaff sind zwei Punkte nachzulesen, deren Thematisierung den Regierungsparteien der Ära Schröder wenig behagte: Es wurde konstatiert, dass a) der Irakkrieg der USA ein Bruch des geltenden Völkerrecht bedeutet und dass b) die Bundesrepublik erhebliche Beihilfen zur Logistik dieses Krieges geleistet hat. Der Generalbundesanwalt antwortete auf Rückfragen zu diesen Sachverhalten in einem Brief an die „Kooperation für den Frieden“ vom 21. Januar 2006:

Nach dem eindeutigen Wortlaut der Vorschrift [Bezug: Art. 26 GG; § 80 StGB] ist nur die Vorbereitung an einem Angriffskrieg und nicht der Angriffskrieg selbst strafbar, so dass auch die Beteiligung an einem von anderen vorbereiteten Angriffskrieg nicht strafbar ist.

Die Revision der Lehren aus dem Zweiten Weltkrieg vollzieht sich auch in anderen Ländern. Viele Japaner bangen um ihre vorbildliche Friedensverfassung. In Österreich, so meinen nicht wenige Bewohner dieses Landes, steht die Neutralität wohl bald nur noch auf dem Verfassungspapier. In Italien hat Berlusconi vor einiger Zeit vorgeschlagen, den Verfassungsartikel „Italien verabscheut den Krieg“ zu streichen und durch ein „Recht auf Sicherheit“ und Präventivkriege zu ersetzen.

Minister Franz Josef Jung (CDU) will es Schwarz auf Weiß

Für den Umbau der Bundeswehr zu einer weltweit agierenden Interventionsarmee fehlt die Verfassungsgrundlage. Kritiker befürchten seit 2005 Grundgesetzänderungen unter den Bedingungen einer Großen Koalition, die nicht nur den Bundeswehreinsatz im Inland betreffen, sondern auch das Tor zu ökonomisch motivierten Kriegshandlungen öffnen. Die Schwarzmaler finden derzeit viel Bestätigung:

  1. Auf der Münchener Sicherheitskonferenz am 5. Februar 2006 lenkte Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) den Blick auf eine seiner Meinung nach zentrale Frage gegenwärtiger deutscher Interessenspolitik: „Globale Sicherheit im 21. Jahrhundert wird untrennbar auch mit Energiesicherheit verbunden sein. (...) Und die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik, das verstehen Sie, muss sich dieser strategischen Herausforderung stellen. Wir sind ein rohstoffarmes Land.“ Ähnlich hat auch Bundespräsident Köhler angemahnt, wir müssten „mit vitaler Aufmerksamkeit unsere Energie- und Rohstoffversorgung sichern“.
  2. Im Interview mit der Frankfurter Rundschau (4.4.2006) brachte Verteidigungsminister Franz Josef Jung (CDU) öffentlich eine weitgehende Verfassungsänderung ins Spiel: „Wir können zwischen innerer und äußerer Sicherheit heute in der Tat nicht mehr klar trennen (...) In der Verfassung steht als Auftrag der Bundeswehr: Landesverteidigung. Die Auslandseinsätze beruhen rechtlich alle auf einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts von 1994. Deshalb müssen wir über eine Anpassung der verfassungsrechtlichen an die tatsächliche Lage reden. [...] In dem von mir beschriebenen Sinn bin ich für eine verfassungsrechtliche Klarstellung.“
  3. In seiner Rede zur Kommandoübergabe über die deutsche Marine an Vizeadmiral Nolting am 25. April 2006 erläuterte der Verteidigungsminister wirtschaftlich relevante Hintergründe für sein Ressort: „Deutschland mit seiner enorm im- und exportabhängigen Wirtschaft ist auf einen freien Warenverkehr über See angewiesen. Einschränkungen des Seeverkehrs und damit der Rohstoff- und Warenströme werden unsere Bürgerinnen und Bürger sofort an den Preisen für Waren aller Art ablesen können. Der freie Handel über See ist daher der größte Schatz des Meeres!“
  4. In der FAZ vom 2.5.2006 bekräftigte Jung dann noch einmal sein Votum für eine Grundgesetzänderung: „Unsere derzeitige Hauptaufgabe der Krisen- und Konfliktbewältigung oder der Bekämpfung des internationalen Terrorismus sind im Grundgesetz nicht ausdrücklich erwähnt. Da müssen wir über eine Verfassungsänderung sprechen.“ Jetzt aber kam ein neuer Kontext zum Vorschein, denn der Minister plädierte für eine nicht nur werte-, sondern auch interessengeleitete Sicherheitspolitik. Wirtschaftliche Interessen wie Ressourcensicherung oder die Sicherung von Energielieferungen gehören seiner Meinung nach dazu. Zustimmung zu einer „interessegeleiteten Sicherheitspolitik“ kam am Folgetag vom FDP-Verteidigungsexperten Rainer Stinner, der allerdings keinen Bedarf für eine Verfassungsänderung sieht.
  5. Die ganz neue Definition von Landesverteidigung durch eine „Verteidigung deutscher Interessen“ wird, wenn Jung sich durchsetzt, durch ein offizielles militärpolitisches „Weißbuch“ verbindlich. Nach Berichterstattung der „Welt“ gehört auch die Sicherung des Wohlstandes durch freien und ungehinderten Welthandel zu den Aspekten des bislang bekannten gewordenen Entwurfs. In der Zeitung kommentierte Hans-Jürgen Leersch am 12.5.2006 die Vorlage so: „Die Feststellung, die Bundesregierung werde zur Wahrung ihrer Interessen auch militärische Mittel einsetzen, ist nur konsequent. Und mit der Formulierung, daß sich die Regierung besonders jenen Regionen zuwenden werde, in denen Rohstoffe und Energieträger gefördert werden, begibt sich Deutschland endlich auf gleiche Augenhöhe mit anderen Ländern, in denen dieses Verhalten eine Selbstverständlichkeit ist.“

Signale des Widerspruchs aus der SPD

Wie schon zur Zeit von Rot-Grün könnte eine Rückendeckung des ganzen Kabinetts für das Weißbuch noch immer am Widerstand eines Koalitionspartners scheitern. Bislang gibt es aus den Reihen der SPD einige Signale des Widerspruchs:

  1. Am 2.5.2006 wandte sich der stellvertretende Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion, Walter Kolbow, gegen einen neuen Verteidigungsbegriff im Grundgesetz: „Deutschland braucht keine verfassungsrechtliche Neudefinition von Verteidigung, sondern eine breite gesellschaftliche und politische Diskussion über die zukünftige deutsche Sicherheitspolitik.“ (Bayern SPD-Newsticker-Redaktion, 3.5.2006) Die rechtliche Absicherung der Auslandeinsätze sieht er bereits heute als gegeben an.
  2. Im gleichen Zusammenhang lehnte Kolbow ein innenpolitisches Vorhaben von Schäuble und Jung ab: „Die SPD wendet sich gegen eine Aufgabenerweiterung für Einsätze der Bundeswehr im Inneren – die Bundeswehr ist keine Hilfspolizei der Bundesländer.“ Kolbow, SPD-Generalsekretär Heil und Rainer Arnold, verteidigungspolitischer Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, haben jedoch öffentlich die Möglichkeit zugestanden, bei den Grenzen polizeilicher Einsätze (in der Luft und zur See) die Verfassungsbestimmungen zum Bundeswehreinsatz im Inneren doch „zu präzisieren“!
  3. Als Sprecher der SPD-Fraktion wendet sich Arnold ausdrücklich dagegen, den US-amerikanischen Sprachgebrauch zu übernehmen und Terrorangriffe als Krieg zu bezeichnen.
  4. Im Interview mit der Frankfurter Rundschau (15.5.2006) hält es der parlamentarische Staatssekretär Michael Müller (SPD) zumindest „für problematisch“, die Sicherung der Energie- und Rohstoffversorgung zur Wahrung nationaler Interessens als Aufgabe der Bundeswehr zu definieren. Die Frage eines auch auf die Energiesicherheit ausgeweiteten Verteidigungsbegriffes sei aber „in den Koalitionsfraktionen noch zu diskutieren“. Persönlich plädiert er – als Alternative zu einer „Militarisierung der Rohstofffrage“ – für eine „neue Weltinnenpolitik“ mit fairen Verteilungsmodalitäten.

Welche Tradition der Sozialdemokratie ist maßgeblich: Gustav Noske oder Willy Brandt?

Im Grunde sind all diese Voten aus der SPD sehr zahm und noch kein Beleg für einen ernsten Widerstand gegen den neuen Kurs. Der zentrale Punkt einer ganz neuen Militärdoktrin wird äußerst behutsam behandelt. Bemerkenswert ist z.B., dass Michael Müller gegenüber den Vorstellungen Jungs und anderer CDU-Politiker überhaupt nicht auf Verfassung und Internationales Recht verweist. Die Entschiedenheit, mit der ein Günther Verheugen noch 1995 vergleichbaren Positionen entgegengetreten ist, fehlt auf ganzer Linie.

Für militärische Stärke, die den eigenen Zugang zu Ressourcen in ärmeren Ländern absichert, könnte man durchaus eine sozialdemokratische „Tradition“ geltend machen. Gustav Noske (1868-1946), kolonialpolitischer Sprecher der SPD-Reichstagsfraktion und 1918 Reichswehrminister, legte seine Sympathien für den zeitgenössischen Kolonialismus 1914 in einem eigenen Buch dar. Die Zivilisierung der „Neger“, die man gleichermaßen streng wie menschlich behandeln müsse, und Gewinne für das Reich gehörten in seinem Konzept zusammen.

Das klare Gegenprogramm zu derartigen Konzeptionen des nationalen Interesses ist in der Rede nachzulesen, die Willy Brandt anlässlich der Verleihung des Friedensnobelpreises 1971 gehalten hat2:

  1. Brandt beruft sich auf Christentum, Humanismus und Sozialismus. Gegenüber den „Verirrungen unter dem Feldzeichen des gerechten Krieges“ bekennt er sich zur „Sache eines gerechten Friedens“.
  2. Er möchte in seinem Land und in der Welt jener Vernunft zum Zug verhelfen, „die uns den Frieden befiehlt, weil der Unfriede ein anderes Wort für die extreme Unvernunft geworden ist. Krieg ist nicht mehr die ultima ratio, sondern die ultima irratio. Auch wenn das noch nicht die allgemeine Einsicht ist: Ich begreife eine Politik für den Frieden als wahre Realpolitik dieser Epoche.“
  3. Notwendig ist die Abkehr vom geheiligten Nationalinteresse: „Wir bedürfen des Friedens nicht nur im Sinne eines gewaltlosen Zustandes. Wir bedürfen seiner als Voraussetzung für jene rettende Zusammenarbeit, die ich meine. (...) Der Übergang von der klassischen Machtpolitik zur sachlichen Friedenspolitik, die wir verfolgen, muss als der Ziel- und Methodenwechsel von der Durchsetzung zum Ausgleich der Interessen begriffen werden. (...) Vom geheiligten Egoismus der Nation soll sie zu einer europäischen und globalen Innenpolitik führen, die sich für ein menschenwürdiges Dasein aller verantwortlich fühlt.“
  4. Das Völkerrecht ist eindeutig: „Ich bekenne mich nachdrücklich zu den universellen Prinzipien des allgemeinen Völkerrechts, so oft sie auch missachtet werden. Sie haben in den Grundsätzen der Charta der Vereinten Nationen ihren verbindlichen Ausdruck gefunden: Souveränität – territoriale Integrität – Gewaltlosigkeit – Selbstbestimmungsrecht der Völker – Menschenrechte.“
  5. Brandt warnt schließlich vor den Schattenseiten der europäischen Tradition: „Der Anspruch auf das Absolute bedroht den Menschen (...) Auch in der Tradition der europäischen Demokratie lebt neben einem humanitären ein doktrinärer Zug, der zur Tyrannis führt; Befreiung wird dann Knechtschaft.“

Die Gesellschaft und der Fahrplan des „Weißbuches“

Mit Blick auf die „Internationalen Verpflichtungen“ der Bundesrepublik ist sich Minister Franz Josef Jung sicher, dass diese „weder vollständig im Bewusstsein der Bevölkerung sind noch im Bewusstsein von einem größeren Teil der Bundestagsabgeordneten. Diese müssen aber für jeden Einsatz das Mandat erteilen.“3

Ähnlich hatte schon sein Vorgänger Peter Struck über ein Ausbleiben der öffentlichen Debatte in Parlament und Gesellschaft geklagt (er befürchtete u.a., bei vermehrten Rückführungen toter Bundeswehrsoldaten könne sich das Land als völlig unvorbereitet erweisen). Über „Internationale Verpflichtungen“ wird nun aber immerhin gestritten.

Die Idee einer völlig neuen nationalen Militärdoktrin, die nach dem Vorbild der USA um Rohstoff- und Energieinteressen kreist, ist hingegen kaum einem Bürger überhaupt bekannt. Im allgemeinen Bewusstsein gelten Vorstellungen dieser Art noch immer als verfassungsfeindlich. Dringend nötig ist also ein breites öffentliches Gespräch. Die Regierung könnte z.B. – wie jüngst die Familienministerin – auch beide großen Kirchen auf ein Podium einladen, denn deren Friedensdenkschriften sehen Wirtschaftsinteressen als Motiv für militärisches Handeln ebenso wenig vor wie das Grundgesetz. Auch Soldaten hätten wohl ein Recht, zum Thema gehört zu werden. Indessen liegt dem Bundesministerium der Verteidigung offenbar nicht an einer breiten öffentlichen Debatte und gezielten Meinungsumfragen zum Thema. Das „Handelsblatt“ vom 8.5.2006 meldete unter Berufung auf Insiderkreise zum Fahrplan des neuen Weißbuches: „Der Minister macht Druck: Bereits am 12. Juli soll das Dokument vom Kabinett verabschiedet werden.“