Die Milchmädchenrechnung

Es gibt keinen direkten Zusammenhang zwischen der durch die demographische Entwicklung abnehmenden Zahl der Arbeitenden und der vielfach prophezeiten Katastrophe bei der Finanzierung der Sozialversicherungen

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Die Fakten scheinen auf der Hand zu liegen. Angesichts der aktuellen demographischen Entwicklung, nach der in Deutschland durchschnittlich nur 1.4 Kinder pro Frau geboren werden, sind unsere sozialen Sicherungssysteme in Zukunft kaum mehr finanzierbar. Die Bevölkerung, ein nicht nur auf Deutschland bezogenes, vielmehr europäisches Phänomen, schrumpft und überaltert. In Italien, Spanien, Polen, Tschechien, der Ukraine etwa liegt die Geburten mit Raten von 1.2 - 1.3 pro Frau sogar noch unter der Deutschlands. Selbst Länder wie Schweden oder Frankreich, gelobt für eine vergleichsweise kinderfreundliche Infrastruktur, können nur mit Quoten aufwarten (1.7 bzw. 1.8), die die Bevölkerung ohne Migration unzweifelhaft schrumpfen lässt.

Wenn in Zukunft also immer weniger Arbeitnehmer die finanziellen Lasten von immer mehr Rentnern zu tragen haben: Führt dies nicht zwangsläufig zu katastrophalen Verhältnissen? Zumal in einer Gesellschaft, die sich, es sei an die vielen Singlehaushalte in Deutschland erinnert, nicht eben durch (intergenerationale) Solidarität oder eine ausgeprägte Steuerzahlmoral auszeichnet? Steht uns also nicht nur ein gesellschaftlicher Konflikt, sondern gar ein Krieg der Generationen („Methusalem-Komplott“) bevor?

Prämisse dieses, man muss aus sozialwissenschaftlicher Sicht sagen, simplen und kurzschlüssigen, in die Katastrophe führenden Szenarios ist die Auffassung, dass die Finanzierung der Sozialversicherungen, direkt vom Transfer von Zahlungen der Individuen der jüngeren an diejenigen der älteren Generation abhängig sei (Umlageverfahren). Entsprechend wird dieser Zusammenhang auch oft durch Schaubilder veranschaulicht, die etwa drei „ächzende“ Arbeitnehmer beim „Schultern“ von zwei „frohlockenden“ Rentnern zeigen.

Tatsache ist allerdings, dass es keinen direkten Zusammenhang zwischen der gesellschaftlichen (also wirtschaftlichen) Wertschöpfung, von der das auch die Sozialkassen finanzierende Steueraufkommen abhängt, und der Anzahl der Arbeitnehmer in der Bevölkerung gibt. So lebten 1991 (gemäß eigenen Angaben) noch 44% der Deutschen von eigener Arbeit; 2004 waren es nur noch 39%, der Rest der Bevölkerung lebt offensichtlich von Renten und Pensionen, vom Arbeitslosengeld, der Sozialhilfe oder von Zuwendungen von Verwandten. Dabei ist im gleichen Zeitraum, also mithin durch weniger Arbeitskräfte, das Bruttoinlandsprodukt – von dem entscheidend auch das die Sozialkassen finanzierende Steueraufkommen abhängt – gestiegen. Es betrug 2004 2,06, 1994 1,71 Billionen Euro (Quelle: Statistisches Bundesamt). Viele Vorsorgesysteme, vor allem die großen Pensionsfonds der USA, vermehrt aber auch die Pensionsfonds etwa in den Niederlanden, der Schweiz oder Islands, tragen dem schon heute Rechnung, indem sie ihre Finanzierung zunehmend durch Anlagen am Kapitalmarkt und nicht durch direkte Transferzahlungen im Umlageverfahren leisten.

Der Wertsteigerung ausdrückende Jubel an den Börsen über Unternehmen, die mit Entlassungszahlen von Arbeitnehmern reüssieren, zeigt, dass im Gegenteil oft sogar ein negativer Zusammenhang zwischen der Anzahl der Arbeitnehmer und der gesellschaftlichen, also auf das Wirtschaftssystem bezogenen Wertschöpfung besteht. Der Wert eines Unternehmens – der bei angemessener Unternehmensbesteuerung auch den sozialen Sicherungssystemen zu Gute kommt (bzw. kommen kann) – wird demnach zunehmend in Abhängigkeit von einer möglichst geringen Anzahl seiner Arbeitnehmer als Kennzeichen von gelungener Automatisierung und Effizienzzuwachs gesteigert. Es zeugt deshalb von realitätsfremder Naivität (um eine zynische Haltung auszuschließen), das Renteneintrittsalter in Zeiten heraufzusetzen, in denen oft schon Arbeitssuchende in den 40igern, mit Sicherheit aber in den 50igern Jahren Mühe haben, überhaupt nur eine regelmäßige Lohnarbeit zu finden,

Aus dieser Perspektive wird deutlich, dass die niedrigen Geburtenquoten, die in fast allen europäischen Ländern feststellbar sind, nicht notwendig Anlass zur Sorge bieten, sondern sogar durchaus beruhigend wirken können. Sie sind dem Umstand geschuldet, dass die Lebenserwartung des Einzelnen (zumindest in der „westlichen Welt“) rapide angestiegen ist (in den letzten hundert Jahren jedes Jahr um drei Monate!), so dass durch eine lange Periode des Alterns und des Alters vor allem auch den Krankenkassen vermehrt Kosten entstehen, die mit einer zukünftig geringeren Bevölkerungszahl zu kompensieren sind – einer schrumpfenden Bevölkerung, die sich, gesamtgesellschaftlich gesehen, eben nicht unbedingt negativ auf die Wirtschaft und auf Wertschöpfungsprozesse auswirken muss. So gesehen dient eine niedrige (zumal wieder steigerbare) Geburtenrate sogar dem Schutz der sozialen Sicherungssysteme und ermöglicht insbesondere die zukünftig stärkeren Belastungen der Krankenkassen und Pflegeversicherungen zu tragen.

Deutlich wird auch, dass die gesellschaftliche (eben besteuerbare) Wertschöpfung nicht (nur) durch den einzelnen, ohnehin in der Anzahl abnehmenden Arbeitnehmer (also seinem Lohn) erfolgt, sondern in erster Linie durch Gewinne in Organisationen (Unternehmen) und lukrative Investitionen am Kapitalmarkt. Um ein angemessenes Steueraufkommen gewährleisten zu können - in Zukunft werden nicht nur Renten und Pensionen, sondern auch Kranken- und Pflegeversorgung mit höheren Kosten verbunden sein –, ist es deshalb notwendig, mit angemessener Unternehmens- und Kapitalmarktbesteuerung (etwa der „Tobin-Steuer“) an den institutiven Quellen gesellschaftlicher Wertschöpfung anzusetzen.

Eine politisch, nicht wirtschaftlich organisierte Besteuerung ist erforderlich

Da in der „globalisierten“, und das heißt heute insbesondere wirtschaftlich globalisierten Welt nicht nur das Kapital als ein „scheues Reh“ gelten muss, sondern sich auch transnational agierende und so nationaler Besteuerung fliehende Firmen im Sinne ihres notwendigerweise wirtschaftlichen Agierens Abgabenlasten zu entziehen wissen, sind internationale Absprachen und Abkommen bei der Unternehmens-, Kapital- und Investmentbesteuerung notwendig. Auch wenn erste Schritte in diese Richtung derzeit, etwa in der Ablehnung der EU-Verfassung, (noch) keine Mehrheiten finden, ist eine international organisierte Besteuerung unabdingbar. Andernfalls wäre (und ist wohl derzeit) eine Besteuerung nicht einem politisch organisierten Handeln zuzurechnen, sondern folgt, aktuell am international geführten Steuerwettbewerb zu beobachten, wirtschaftlichen Prinzipien. Analog zur Preisbildung führt dies zu einer Minimierung des Steueraufkommens (politisch wäre eine Maximierung zu wünschen), womit, jedenfalls zukünftig, die sozialen Vorsorgesysteme kaum zu finanzieren sind.

Die niedrigen Geburtenraten geben demnach, um dies zu wiederholen, nicht Anlass zur Sorge, sondern sie passen zu dem aktuell zu beobachtenden gesellschaftlichen Strukturwandel. Wertschöpfungsprozesse betreffend leistet die Gesellschaft durch Automatisierung und effiziente Organisation mehr und mehr mit immer weniger Arbeitnehmern, die durch rapide gestiegene Lebenszeit vor allem für Krankenkassen, Renten- und Pflegeversicherungen hohe Kosten verursachen (werden). Um der Herausforderung, den dieser Strukturwandel nicht nur bezogen auf unsere Sozialvorsorgesysteme mit sich bringt, zu begegnen, sind demnach weniger auf Geburtsraten abzielende familienpolitische Maßnahmen, als vielmehr eine international anzusetzende politisch, und eben nicht (markt-)wirtschaftlich organisierte Besteuerung notwendig. Eine Besteuerung, die vorderhand auf Unternehmen und Kapitalströme als den herausragenden wertschöpfenden Institutionen unserer Gesellschaft zielt, nicht auf die ohnehin seit Jahren stagnierenden, also kaum an Wertschöpfung teilhabenden Löhne (und deren Besteuerung durch Konsum- und Mehrwertsteuern) einer zudem abnehmenden Arbeitnehmerschaft.