Gefährliche Stadtviertel

Die Kennzeichnung von "Kriminalitätsbrennpunkten" zieht gerne die Forderung nach Überwachung mit sich, aber unsicher fühlen sich vor allem die Menschen, die die angeblich gefährlich Stadtviertel gar nicht kennen

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Wie entsteht Wissen über unsere Welt? Was wissen wir und was machen wir daraus? Die Diskussion um die „Verslumung“ oder „Ghettoisierung“ unserer Städte ist nun auch in Deutschland im Zuge der Debatte um Einwanderung und Integration angekommen.

Videoüberwachung der Reeperbahn. Bild: Hamburger Behörde für Inneres

Erst brannten die Banlieues französischer Städte, dann wurde Neukölln in Berlin zum Paria-Gebiet erklärt und nun stellt Hamburgs Bürgermeister Ole von Beust fest, dass auch in Hamburg bereits einige Stadtteile „gekippt“ seien. Er wolle aber - so zitierte ihn das Hamburger Obdachlosen-Magazin Hinz & Kunzt - niemanden stigmatisieren.

Das hatte zuvor bereits Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble versucht, als er im Zusammenhang mit der Rütli-Schule und Neukölln auch namentlich Stadtteile in Hamburg als Slums bzw. verslumt erkennen wollte. Dass er dabei nicht einmal grundsätzliche Kenntnisse der Geografie der Hansestadt besaß, wurde deutlich, als er eines der größten Industriegebiete Hamburgs - nämlich Billbrook - als einen solchen Slum bezeichnete. Dort gibt es aber keine große Wohnbevölkerung. Und wenn er Billstedt gemeint hätte, hätte er auch nicht viel richtiger gelegen.

Das Problem von Kenntnis über Orte und Verlautbarungen über sie trotz mangelnden Wissen brachte die Fraktionschefin der GAL in der Bürgerschaft, Christa Goetsch, auf den Punkt: Es sei gefährlich, so Goetsch, einen Stadtteil zu stigmatisieren, von dem man überhaupt kein Wissen habe. Aber genau das ist, was Menschen immer wieder tun - wir alle und zwar ständig. Es gehört zu unseren Orientierungsleistungen in der Welt, die niemals auf einer vollständig durch eigene Erfahrungen geprägtem Wissen beruhen, sondern die Welt auf interpretative Weise anschlussfähig an unsere eigene Welt machen.

Die jüngst aufgekommene Diskussion um die No-Go-Areas im Osten Deutschlands zeigt aktuell anschaulich, wie sich hier die verschiedenen Politiker und Interessensgruppen ihre eigene Welt zurechtlegen. Hier die Warner vor Gebieten, in denen sich kein Ausländer hinein trauen sollte - dort die Mahner vor Abqualifizierungen, die dem heimeligen Miteinander abträglich sein können. Wohl eher stört Schönbohm & Co, dass dann bald niemand mehr in ihre Bundesländer kommen wird. Ob zu Recht oder Unrecht ist bei dieser Diskussion inzwischen etwas in den Hintergrund gerückt. In diesem speziellen Fall lässt sich mit der Weigerung, Dinge zu sehen, oder dem Impetus, sie unbedingt sehen zu wollen, die Diskussion um ein Problem steuern, welches seit Jahr und Tag Thema in Deutschland ist: der Rechtsextremismus. Auch diese Diskussion ein Beispiel für die Macht von Wahrnehmung als Orientierungsleistung in einer scheinbar unüberschaubaren Welt. Und ein Atlas der No-Go-Areas wäre auch erst einmal nichts anderes als das: eine Weltsicht unter anderen, basierend auf vermeintlichen Fakten. Karten zeigen nicht nur eine Welt, sie konstruieren sie auch - und das mit Konsequenzen.

Eine Untersuchung zu Wissen und räumlicher Wahrnehmung in Hamburg, die sich für die sozial-räumlichen Orientierungsleistungen von Bewohnern der Stadt im Zusammenhang mit der Debatte um Videoüberwachung interessierte, hat versucht, etwas genauer hinzuschauen. Und es hat sich gezeigt, was von Beust, Schäuble und all die anderen so plastisch vorgemacht haben: Einstellungen und Wissen klaffen oft weit auseinander. Das allein ist nicht spektakulär. Interessant wird es, wenn diese Vorstellungen als Begründungshilfen für die Bekämpfung von sozialen Missständen, z.B. Kriminalität mittels Videoüberwachung, verwendet werden.

Hauptargument der Verantwortlichen für Videoüberwachung ist das mutmaßlich beeinträchtigte subjektive Sicherheitsgefühl der Bürger sowie eine gewisse Anzahl von „Kriminalitätsbrennpunkten“ in der Stadt. Das Gerede über diese angeblichen unsicheren Orte scheint dabei gerade bei den Menschen besonderes Gehör zu finden, die weder dort wohnen, noch sich dort zu irgendeinem Zeitpunkt aufhalten. Die Visualisierung der Bewegungsräume einzelner Bewohner der beiden untersuchten Stadtteile zeigt bei einem Vergleich mit den als unsicher genannten Bezirken einen deutlichen Unterschied in der Wahrnehmung der Stadt. Es ist anhand dieser Untersuchung anzunehmen, dass weniger die eigenen Erfahrungen mit diesen Stadtteilen maßgeblich für die positiven oder negativen Einstellungen sind, sondern dass das generelle Verständnis von der Stadt und von Vielfalt sowie Diskurse um Sicherheit eine Rolle spielen - und entscheidend auch, wie und wo man wohnt.

Die befragten Bewohner von St. Georg, dem Innenstadtbereich, in dem auch der Hamburger Hauptbahnhof liegt, fühlen sich nach eigenen Aussagen überall in Hamburg sicher. Ihre Mitbürger aus Boberg, einem suburbanen Wohndorf am Rande Hamburgs, zeigen hingegen eine auffällige Unsicherheit vor allem in den Stadtteilen, in denen sie nie verkehren und nach eigenen Aussagen dies auch dann nicht würden, wenn dort eine Kameraüberwachung vorhanden wäre. Beide Gruppen haben einen relativ kleinen Bewegungsrahmen innerhalb Hamburgs - und treffen ihre Aussagen gerade nicht aufgrund eigener Erfahrungen.

Ihre Aussagen hinsichtlich einer möglichen Überwachung solcher Stadtteile - zu denen bei den Vorortbewohnern auch St. Georg gehörte - gründen aber auf eben diesen Vorstellungen einer mutmaßlich gefährlichen Bevölkerung. Daher ist es auch nicht verwunderlich, wenn aus den vermeintlich sichereren Vororten der Politiker auch immer wieder Aussagen zu Verslumung oder kippenden Stadtteilen kommen und im gleichen Atemzug Sicherheitsstrategien als wichtige Bestandteile der Stadtplanung verkauft werden. Die unsicheren Klassen, egal ob sie einen berühren, ob sie tatsächlich sichtbar sind oder überhaupt existieren, müssen kontrolliert werden. Videokameras haben dabei den zusätzlichen Effekt, Bereiche erst als gefährlich zu kennzeichnen. Eine Stadtplanung, die auf die Re-Vitalisierung von Straßen und Plätzen setzt, braucht keine Kameras. Sie scheinen im Gegenteil kontraproduktiv zu sein, kennzeichnen sie doch gerade Orte der Gefahr. Und wer möchte dort schon sein, egal wie viele Blumenkübel, Spiel- und Sitzgelegenheiten dort existieren.

Letztlich führt die Rede über solche Stadtteile als gefährliche oder gekippte Orte mit einer am Rande der Gesellschaft stehenden Bevölkerung dazu, dass sie genau dorthin geschoben werden, wo man sie ohnehin verortet. Eine solche selbstprophezeihende Voraussage kann zu gefährlichen Konsequenzen führen. Etwa zur Ausgrenzung von ganzen Bevölkerungsteilen aus der Gesellschaft, für die man ohnehin nichts tun muss – außer, dass sie überwacht werden sollten.

Dass wir unsere Orientierung in der Welt auch immer auf Hören-Sagen aufbauen, wird nicht vermeidbar sein und ist zutiefst menschlich - vielleicht auch überlebenswichtig. Man sollte sich dann aber gerade angesichts der anhaltenden Debatte um Sicherheit, Kontrolle und die Probleme einer multi-kulturellen Gesellschaft bewusst sein, von welchem Standpunkt aus man spricht. Die Spirale aus „Kriminalitätsbrennpunkten“, Sicherheitsmaßnahmen und den Vorstellungen von Orten, „an denen ja bestimmt etwas unsicher sein muss, wenn das doch Kriminalitätsbrennpunkte sind“, wird sich sonst nur selbst füttern, leider nicht mit klaren Erkenntnissen, sondern mit Mutmaßungen sowie politischen Strategien. Dass nicht überall alles gut ist und nicht jeder Stadtteil eine Bevölkerung vom Zuschnitt der Hamburger Elbvororte ist klar, aber daraus zu schließen vieles sonst sein ein Slum, gekippt und bedürfe nur noch der Sicherheit, aber nicht mehr der Hilfe ist verantwortungslos und kurzsichtig.

Nils Zurawski ist Leiter des Projekts Videoüberwachung am Institut für kriminologische Sozialforschung der Uni Hamburg.