"Menschenverachtung verrate ich gerne"

Der ehemalige Rechtsextremist Gabriel Landgraf über Ausstieg, Verrat und Verfassungsschutz

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Am Ende war er Sektionsleiter Berlin der Neonazi-Gruppierung "Märkischer Heimatschutz" – und wollte es doch nicht mehr sein: Gabriel Landgraf wandte sich Mitte 2005 mithilfe der Aussteigerinitiative Exit von der rechten Szene ab. Der heute 29-Jährige war lange in der Berliner und Brandenburger Neonazi-Szene aktiv, 2003 war er Mitbegründer der "Berliner Alternative Süd-Ost" (BASO). Er baute SMS- und E-Mail-Verteiler auf, organisierte Aktionen und Demonstrationen, zudem koordinierte er die Zusammenarbeit regionaler Gruppen. Landgraf schuf und betrieb auch das "Berliner Infoportal" als Koordinations- und Informations-Website der Szene. Telepolis sprach mit ihm über seinen Ausstieg.

Ihre Ex-"Kameraden" nennen Sie heute "Verräter", weil Sie Interna an die Antifa weitergeleitet haben sollen. Wie lebt es sich als "Verräter"?

Gabriel Landgraf: Was soll ich verraten haben? Ich habe seit meiner Jugend einen Verrat an der Menschheit begangen. Ich bin persönlich mit meinem Leben zufrieden, habe mich von ideologischen Torheiten und Zwängen gelöst.

Konkret?

Gabriel Landgraf: In meinem neuen Leben kann ich mich wirklich frei bewegen. Mit der Welt, so wie sie ist, bin ich immer noch nicht einverstanden. Ich setze mir neue politische Ziele, beschäftige mich auf eine ganz neue Art und Weise mit Kritik, lasse endlich Widersprüche zu. Ich sitze nicht den ganzen Tag vor dem Rechner und beschäftige mich mit Neonazis. Endlich habe ich die Möglichkeit mich über soziale Missstände, Globalisierung und die Aufteilung der Welt in arm und reich auseinanderzusetzen. Ich kann an Diskussionen teilnehmen und verschiedene Perspektiven zuzulassen. Momentan lerne ich eine Menge dazu. Wenn dieses Leben als Verrat angesehen wird: Menschenverachtung, Unverständnis und geistige Leere verrate ich gerne.

In Neonazi-Webforen wird Ihnen unterschwellig Gewalt angedroht. Will man Sie nur verunsichern oder sind derlei Drohungen ernst zu nehmen?

Gabriel Landgraf: Einerseits hat man das klassische Bild der Schreiberlinge, bei denen Argumente fehlen und dann der Gewalt das Wort gesprochen wird. Dann merke ich aber auch, dass persönliche Faktoren eine Rolle spielen, wo Enttäuschung und Unverständnis die Diskussionen bestimmen. Wieder andere können so ihre alten und persönlichen Animositäten gegen mich frönen und einige fühlen sich bedroht und schlagen so um sich. Gewalt ist eine Basis der rechten Ideologie und man bekommt es auch immer wieder mit, über Einschüchterung oder Gewaltanwendung. Ich registriere solche Drohungen, lass mich davon nicht aus der Bahn werfen.

Als zum Jahreswechsel drei NPD-Landtagsabgeordnete ihre Partei verließen, höhnte die NPD über die zuvor von ihr gelobten Kader, diese seien eigentlich nutzlos gewesen. Auch über Sie heißt es nun – die "Freien Kräfte Berlin" schimpfen über Ihren "übermäßigen Alkoholkonsum und Geltungsdrang" und nennen Sie einen "nicht resozialisierbaren Kriminellen" –, Sie seien nie so wichtig gewesen, wie Sie sich heute selbst darstellen. Warum kann die Szene den Abschied hochrangiger Kader nicht verkraften?

Gabriel Landgraf: Zunächst gibt es nicht viele rechte Kader. Es fehlt in Deutschland an Führungspersönlichkeiten, die nachrücken können. Dann habe ich auch Geld und Energie in diese Bewegung gesteckt, was viele anerkannten. Projekte, Verteiler nahm ich mit mir und hinterließ eine Lücke. Doch ich denke ebenfalls, dass sich einige Personen ertappt gefühlt haben. Gerade die intelligenteren Personen. Einige müssen sich eingestehen, dass ich an Punkten Recht habe. Diesen Personen fehlt es leider dann an Willenskraft und Mut, ihr soziales Umfeld zu verlassen.

Und die Statements der "Freien Kräfte Berlin"?

Gabriel Landgraf: Darüber kann ich nur müde lächeln, ich habe eigentlich noch peinliche Fotos erwartet. Wie soll diese Szene auch sonst reagieren? In dieser Ideologie sind Widersprüche nicht offen diskutierbar, Schwächen und Zweifel nicht offen aussprechbar. Und ich bin überzeugt, dass der eine oder die andere sich schon Gedanken über einen Ausstieg gemacht haben, dass ich auch indirekt eine Debatte losgelöst habe. Gerade die am größten tönen, hetzen und beschimpfen, sind die Ersten, die, wenn das Licht der Nachttischlampe erlischt, unter der Decke über einen Ausstieg nachdenken.

Wie kam es eigentlich dazu, dass Sie sich von der braunen Szene verabschiedeten?

Gabriel Landgraf: Es war und ist immer noch ein langer Weg. Widersprüche pflasterten ständig meinen Weg und wurden verdrängt. Zum einen die ständige Suche nach einem Feind, an dem sich die fatale Ideologie abwälzt. Dann das kleingeistige Aufhängen an einer nationalen Identität, um sein eigenes Versagen in der Gesellschaft zu verdrängen. Weiterhin die Verdrehung von Tatsachen und der Geschichte, die in einen verschwörungstheoretischen Wahn führt, um nur einige zu nennen. Irgendwann war der Papierkorb der Verdrängung voll und musste geleert werden. Mit der Leerung ging ich auf die Widersprüche ein und ließ eine Auseinandersetzung mit diesen zu. Ich beschäftigte mich mit den Dingen, durchleuchtete mein Leben und griff einen Strohhalm, den man mir reichte. Dieser Griff war somit auch die Entscheidung meines Ausstiegs.

Ich besuchte kürzlich eine Aufklärungsveranstaltung eines Beamten des Kommissariats Vorbeugung einer nordrhein-westfälischen Kreispolizeibehörde. Der Oberkommissar sagte, selbst in einer Region, in der eine neonazistische "Kameradschaft" seit Jahren Jugendliche rekrutiert, sei es ratsamer, die Szene zu beobachten. Sie gehe dann nicht in den Untergrund, überdies würden solche Gruppen durch die mit zunehmendem Alter wieder ausscheidenden Neonazis "kontrolliert abbrennen". Was denken Sie, wenn Sie so etwas hören?

Gabriel Landgraf: So unterstützt man meiner Meinung nach die Schaffung von No-Go-Areas ("National befreite Zonen", in denen etwa Andersdenkende, Ausländer und Juden Angst vor Übergriffen haben bzw. diese Gebiete deswegen verlassen oder meiden; mik). Solche Argumente sind beschämend für eine Polizei. Genauso eklig finde ich es, dass ein Teil der rechten Szene aus Verfassungsschützern besteht, die erst bestimmte Strukturen aufbauen.

Aber der Verfassungsschutz sollte doch die Szene im Auge haben?

Gabriel Landgraf: Natürlich muss man eine Neonaziszene beobachten, gucken, wie diese sich verändert. Doch dazu gehören nur Recherchekenntnisse und eine gute Beobachtungsgabe, um gegen Neonazis einzugreifen. Manch ein Politiker und Polizeibeamter macht es sich sehr leicht, wenn er das alte Bild des Springerstiefel tragenden Skinheads vermittelt und sich nicht den Veränderungen in der rechten Szene stellt. Gerade in Nordrhein Westfalen haben wir es nicht mit kleinen, rechts orientierten Kindern zu tun, sondern auch mit einer Form des neuen, militanten Rechtsextremismus.

Kontrolliert abbrennen ließen die Behörden einst Berliner Kameradschaften. Verboten wurden im März 2005 von Innensenator Eckhart Körthing die "Kameradschaft Tor", deren "Mädelgruppe" und die von Ihnen mitbegründete BASO. Hat das Verbot etwas gebracht oder gingen diese Gruppen – siehe die Frage eben – in den Untergrund?

Gabriel Landgraf: Als erstes stellt sich für mich die Frage, ob sich nicht bei der Gründung und Mitgründung der BASO gezielt Männer des Verfassungsschutzes befanden. Beide Gruppen wurden über Jahre hinweg offen beobachtet, zum Teil einzelne Personen vom Staatsschutz privat begleitet. Da stellt sich für mich die Frage, wer den Ball ins Spiel bringt. Eine Anleitung für solche Spiele würde ich gerne mal lesen.

Und das Verbot?

Gabriel Landgraf: Das Verbot hat lediglich zwei Namen aus der Öffentlichkeit gestrichen, die Personen mit ihrer Ideologie sind weiterhin aktiv. Ob unter neuem Namen oder ohne Namen. Und zum Teil fühlen sie sich unbeobachteter.