Nichts hören, nichts sehen, nichts sagen

Von der Unfähigkeit, Klartext zu reden

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Trotz zahlloser Hinweise auf eine kollektive Begeisterung der Palästinenser für die Vernichtung Israels, trotz der kollektiven gewalttätigen Arbeit an diesem Ziel ist kaum jemand in der Lage, das deutlich zu benennen. Warum?

Ende der achtziger Jahre war ich "für die Palästinenser". Ich und einige Freunde, wir machten Infoveranstaltungen zur ersten Intifada, beschäftigten uns mit der Geschichte des Nahostkonflikts aus palästinensischer Sicht und übten "Solidarität mit dem Befreiungskampf der Palästinenser", was immer das genau heißen sollte.

Manchmal verspürten wir dabei ein leichtes Unbehagen. Dieses Unbehagen speiste sich aus unklaren Randbemerkungen zu seltsamen politischen Positionierungen bestimmter palästinensischer Gruppen, aus einem Kopfschütteln über bestimmte Parolen hier und einem Stirnrunzeln über gewisse Details aus der Geschichte der Fatah da.

Aber weil niemand nichts Genaues wusste und weil das Unbehagen auch nie länger diskutiert wurde, schoben wir es beiseite. Interessanterweise kann ich noch genau benennen, wann dieses Unbehagen bei mir dann doch manifest wurde.

"Sieg Heil"

Es war ironischerweise in einem Jugendzentrum, in dem wir kurz vorher einen Diavortrag zur ersten Intifada organisiert hatten. Ich langweilte mich an diesem Nachmittag und besah mir die politische Kunst etwas genauer, die dort so an den Wänden hing. Im ersten Stock fand ich ein kleines, deutschsprachiges Plakat, das den ersten Jahrestag der Aktion einer palästinensischen Terrorgruppe feierte. Mehrere israelische Soldaten waren bei dem Anschlag getötet worden, das Plakat bezeichnete dies als Triumph. Das fand ich seltsam. Die Ästhetik, der Text, die Unterschrift: Alles deutete daraufhin, dass es von Deutschen hergestellt worden war, die sich wie ich mit dem Kampf der Palästinenser solidarisierten. Besonders die hohe Zahl israelischer Opfer schien es diesen Leuten angetan zu haben. Deutsche freuten sich über tote Juden.

Dann begegnete ich einem echten Palästinenser. Nennen wir ihn N. Wir arbeiteten in der gleichen Fabrik, unterhielten uns manchmal, aßen gemeinsam in der Kantine. N. war sehr freundlich, ich mochte seine offene und humorvolle Art. Er erzählte mir von dem Leben in Palästina, von den Ungerechtigkeiten, die dort herrschten, von der israelischen Besatzung, den Straßensperren usw. usf.

Dann, eines Mittags, nach der Frühschicht, auf dem Weg nach Hause, gerieten wir in eine Diskussion über Nationalismus. Ich mochte den Zungenschlag nicht, mit dem er seine Sicht der Dinge darstellte, er schien sich nur noch über seine nationale Zugehörigkeit zu definieren. Als ich einwarf, dass mir die Nationen den Buckel runterrutschen könnten, tat er etwas sehr Seltsames: Er stellte sich vor mir auf, zeigte mir den Hitlergruß und sagte dazu lächelnd, nicht sehr laut: "Sieg Heil".

Ich weiß gar nicht mehr, wie ich das damals in mein Bild von ihm eingebaut habe, wahrscheinlich habe ich diesen surrealen Akt irgendwie als "Provokation" begriffen, als "Trotzreaktion" auf meine antinationalistische Position. Für einen Nazi hielt ich ihn jedenfalls nicht.

Später traf ich ihn noch einmal in einer Kneipe. Er saß mit seinen Freunden zusammen und unterhielt sich angeregt mit ihnen. Als er mich sah, winkte er mich her. Wie ich feststellte, war N. gerade dabei gewesen, seinen Freunden zu erklären, dass die Amerikaner den AIDS-Virus konstruiert und damit wissentlich Afrika verseucht hätten, besonders Länder mit hohem moslemischen Bevölkerungsanteil. Niemand am Tisch widersprach ihm, auch ich nicht. Ich war ähnlich verwirrt wie bei dem Hitlergruß vorher. Konnte N. das ernst meinen? Der intelligente, warmherzige und offene N. schien sich in einen Vollidioten verwandelt zu haben.

Nationalsozialistisch-palästinensische Achse

Und seitdem hatte ich mehrere Bildungserlebnisse, was die "palästinensische Sache" angeht, und diese Bildungserlebnisse machten eine Korrektur meiner alten Positionen notwendig. Zum Beispiel erfuhr ich etwas über die Behauptung, die Palästinenser hätten nie mit dem Holocaust zu tun gehabt und müssten deswegen als unschuldige Opfer der Juden gelten, die in ihr Land eingedrungen seien und sie vertrieben hätten. In der Steigerungsform dieses Topos wurde und wird dann gerne behauptet, die Juden machten jetzt dasselbe mit den Palästinensern, was die Nazis mit ihnen gemacht hätten.

Nun erfuhr ich, dass es bereits in den Zwanzigern in Palästina zu palästinensischen Pogromen an den dort lebenden Juden gekommen war. Später gab es ein stabiles Bündnis zwischen den Palästinensern und den Nazis. Als Schlüsselfigur für dieses Bündnis muss Hadsch Mohammed Amin al-Husseini gelten, der "Grossmufti von Jerusalem", der sich von 1941-1945 hauptsächlich in Berlin aufhielt, die Aufstellung moslemischer SS-Einheiten auf dem Balkan initiierte und sich persönlich bei Himmler für die Ermordung von 4-5000 jüdischen Kindern stark machte, die dieser aus taktischen Gründen und zum Austausch gegen 20.000 deutsche Kriegsgefangene verschonen wollte (die Kinder wurden schließlich ermordet).

Man kann sich darüber streiten, ob der Antisemitismus von Husseini eher völkisch oder eher religiös motiviert war, an der nationalsozialistisch-palästinensischen Achse ändert das nichts. Wie stabil die war, ist durch neuere Forschungen belegt worden.

Seit 1942 stand in Athen ein Einsatzkommando bereit (formal Rommels Afrikakorps unterstellt), das im Falle eines Sieges Rommels den Holocaust nach Palästina getragen hätte. Dieses Einsatzkommando selbst bestand zunächst nur aus 24 Mann, aber man war sich der lokalen Verbündeten so sicher, dass man plante, nur die Oberaufsicht zu führen und mit dem Afrikakorps militärische Schützenhilfe zu leisten, während palästinensische Kräfte den Massenmord umsetzten. Das wurde nur durch die Niederlage Rommels in Nordafrika verhindert.

Einen "Friedensprozess im Nahostkonflikt" hat es von palästinensischer Seite aus nie gegeben

Die letzte Großtat des Großmufti war die Mitgründung der Fatah 1959. Seine Macht über die Organisation war groß genug, 1968 einen Verwandten zu seinem Nachfolger an ihrer Spitze zu machen: Jassir Arafat.

Und das war der zweite größere Teil meines Bildungserlebnisses. Einen "Friedensprozess im Nahostkonflikt" hat es von palästinensischer Seite aus nie gegeben. Keine maßgebliche palästinensische Gruppe innerhalb oder außerhalb der PLO, kein politischer oder militärischer Anführer der Palästinenser hat je ein Existenzrecht Israels ernsthaft in Erwägung gezogen. Und niemand anders stand für diese Kompromisslosigkeit deutlicher ein als Jassir Arafat selbst.

Während dem Westen ab den späten Achtzigern erfolgreich vorgegaukelt wurde, die PLO habe ihre Ziele in Bezug auf Israel geändert, sei endgültig in eine politische Phase eingestiegen, die das Existenzrecht Israels einschloss, geschah nichts dergleichen. Arafat wollte gegenüber der Weltpresse gar nicht verstehen, wie seine Organisation mit Terroraktionen der widerlichsten Art auch nur entfernt in Verbindung gebracht werden konnte, aber mit seinen Anhängern sprach er Klartext.

Zum Beispiel als er 1994 - ein Jahr nach Oslo - Muslime in Johannesburg zum Dschihad gegen Israel aufrief und klar machte, dass die Oslo-Verträge aus seiner Sicht nichts anderes als eine "Hudna" waren, ein taktischer Waffenstillstand, der von palästinensischer Seite jederzeit gebrochen werden konnte.

Während der zweiten Intifada, die er voll billigte, nahm diese Heuchelei teilweise groteske Formen an. Als Politiker verurteilte Arafat Attentate, die die Al-Aksa-Brigaden, Teil seiner eigenen Fatah-Organisation, begangen hatten. Konsequenterweise heißen sie seit seinem Tod auch Jassir-Arafat-Märtyrer-Brigaden.

Aus unerfindlichen Gründen fiel dieser bizarre Widerspruch den meisten Medien im Westen nicht auf, vor allem nicht in den Ländern, die die "Palästinensische Autonomiebehörde" mit stattlichen Zahlungen alimentierten, Zahlungen übrigens, aus denen sich Yassir Arafat, der tapfere Vorkämpfer der palästinensischen Sache, ein Privatvermögen von mindestens 300 Millionen Dollar abzweigte (andere Quellen sprechen von bis zu 1,3 Miliarden Dollar).

"Befreiung" von allen maßgeblichen palästinensischen Organisationen rein negativ definiert

Den meisten westlichen Medien will in gleicher Weise bis heute nicht auffallen, dass die EU-finanzierten antisemitischen Schulbücher, die die Autonomiebehörde herausgegeben hat, kein Zufall sind, ebenso wenig wie die Popularität von "Mein Kampf" unter den Palästinensern, die Selektion von Entebbe nicht, und die deutsch grüßenden palästinensischen Militanten auch nicht.

Quer durch die politischen Lager ist in Deutschland nicht begreiflich zu machen, dass "Befreiung" von allen maßgeblichen palästinensischen Organisationen rein negativ definiert wird; palästinensische Politik ist seit nahezu einem Jahrhundert monothematisch, sie folgt der Prämisse, dass die Juden das Unglück der Palästinenser seien, mit eindeutig genozidaler Absicht.

Das bedeutet andersherum, dass Israel machen kann, was es will, es kann verhandeln oder bomben, es kann versuchen zu überzeugen oder zu erzwingen, es kann Siedlungen auflösen oder neue errichten, das spielt in den Augen der großen Mehrheit der Palästinenser nicht die geringste Rolle, weil nicht das Verhalten Israels der Punkt ist, sondern seine Existenz.

Die "Protestwahl"

Wer jetzt erwartet hatte, die islamistische Wiederaufladung des palästinensischen Antisemitismus in der zweiten Intifada und erst recht der Wahlsieg der Hamas würden einigen Beobachtern die Augen öffnen über den Charakter des "palästinensischen Widerstands", der hatte sich getäuscht. Die neue Hamas-Regierung bezeichnet einen Terroranschlag in Israel als "Selbstverteidigung" und kaum, dass die ersten Wellen der Empörung vorbei sind, steht die Sorge im Mittelpunkt, wie der palästinensischen Autonomiebehörde aus der finanziellen Patsche geholfen werden kann, in die sie durch den Stopp internationaler und israelischer Überweisungen geraten ist.

Mittlerweile hat Israel dem internationalen Druck nachgegeben und versucht sein Gesicht zu wahren, indem die zurückbehaltenen Zoll- und Steuereinnahmen unter Umgehung der Autonomiebehörde als humanitäre Hilfe gezahlt werden sollen.

Dabei soll streng zwischen der Hamas-Regierung und der palästinensischen Bevölkerung unterschieden werden - ein spannendes Unterfangen, wenn man bedenkt, dass die Mehrheit der palästinensischen Bevölkerung die Hamas vor kurzem in die Regierung gewählt hat. Wie bewertet das die von allen guten Geistern verlassene Heinrich-Böll-Stiftung? Als Protestwahl.

Aber gibt es denn keine innerpalästinensische Opposition gegen diesen Totentanz? Zu Zeiten der zweiten Intifada unterstützten in Umfragen 60 - 80% der Palästinenser Selbstmordanschläge in Israel. Was freilich nicht heißt, dass der Rest sich in irgendeiner Weise mit der Existenz von Israel abgefunden hätte. Dies spiegelt sich perfekt in den jüngsten Wahlergebnissen, in denen eine Bewegung für ihre antisemitische Standhaftigkeit belohnt wird, die die Politik der Selbstmordanschläge noch heute öffentlich bejaht, während die PLO für ihre scheinbare Milde abgestraft wird.

Die Mehrheit der Palästinenser sieht sich heute von einer Partei gut vertreten, die seit ihrer Gründung immer die schnelleren Wege in den totalen Krieg gegen Israel favorisiert hat, und das ist aus palästinensischer Sicht auch nur logisch, nachdem nun der eine Mann tot ist, der verbürgte, dass die taktische Milde der PLO nur Schein war.

Vom Umgang mit der palästinensischen Dissidenz

Dissidenz auf der Straße zu den antisemitischen Evergreens der palästinensichen Politik gibt es schon gleich gar nicht. Wer auch nur in den Verdacht der "Kollaboration" mit dem Feind gerät, kann sich auf den Tod gefasst machen, ob vor einem offiziellen Erschießungskommando, oder durch einen Anschlag der Militanten, denn in den Keimzellen des palästinensischen Staats funktioniert nichts so gut wie Staatsterror und Todesschwadrone, deren Anführer jetzt praktischerweise in der Regierung sitzen.

Mahmout Abbas, der "moderate" Palästinenserpräsident, unterzeichnete erst letztes Jahr 50 Todesurteile gegen "Kollaborateure".

Abbas war es übrigens auch, der dem Westen in den Achtzigern die taktischen Spielchen der Fatah als Anerkennung des Existenzrechts Israels verkaufte.

Sogar Kinder, die der Kollaboration für schuldig befunden werden, können "gelegentlich" der Vergeltung verfallen, wie deutschsprachige Websites im Dienst an der palästinensischen Sache vermelden.

Ein ganz guter Gradmesser für die Fähigkeit eines Gemeinwesens, mit Dissidenz generell umzugehen, ist ja sein Umgang mit Homosexualität. Nimmt man das zum Maßstab, dann ist es mit der Fähigkeit der palästinensischen Gesellschaft, Anderssein zu ertragen, mehr als schlecht bestellt. Homosexuelle werden dort wie eine mindere Lebensform behandelt.

Wer ist an all dem schuld? Israel natürlich. Das sagt nicht die Hamas, die Fatah oder der Islamische Dschihad, das sagen die, die vom Westen gerne als palästinensische Dissidenten, als die Zukunft eines demokratischen, kompromißbereiten Palästina gehandelt werden. Zum Beispiel Raji Sourani und Bassem Eid, die das standgerichtliche Abmurksen von Kollaborateuren regelmäßig verurteilen, aber die Greueltaten in letzter Konsequenz dann doch lieber den Israelis in die Schuhe schieben.

Immerhin leugnet Eid nicht, dass die Hinrichtungen von der breiten Öffentlichkeit begrüßt werden.

Wir haben einen langen Weg vor uns, um das Bewusstsein der Leute für Demokratie und Menschenrechte wachzurütteln.

Seit dieser Aussage Eids sind fünf Jahre vergangen, und was inzwischen wachgerüttelt wurde, ist die apokalyptische Lust an der Barbarei.

Oder nehmen wir die Union of Palestinian Medical Relief Comittees (UPMRC), die den beklagenswerten Zustand des palästinensischen Gesundheitswesens nicht etwa der Korruption in der Autonomiebehörde anlastet, sondern natürlich Israel.

Permanente, realitätsverleugnende gesamtgesellschaftlichen Neurose

Gäbe es Israel nicht, dann müssten die Palästinenser es erfinden, um ihm alles anhängen zu können, was bei ihnen schief läuft. Es ist das Bild einer permanenten, realitätsverleugnenden gesamtgesellschaftlichen Neurose, die sich bei jeder Möglichkeit zum Kompromiss nur umso gründlicher hinter ihre Projektionen zurückzieht. Aber der Charakter dieser Neurose, die Natur der Mobilisierung, die seit Jahrzehnten wie in Wellen durch die palästinensische Gesellschaft geht, fällt denen nicht auf, die sie nicht sehen wollen, entweder, weil sie keine Ahnung haben, oder weil sie ihre eigenen illusionären Hoffnungen auf "nationale Befreiungsbewegungen" nicht loslassen wollen, oder weil sie diese Mobilisierung als Antisemiten in Ordnung finden. Nichts sehen, nichts hören, nichts sagen ist die Devise.

Und wenn die Palästinenser sich noch so sehr wie ein Täterkollektiv verhalten - sie so zu bezeichnen, das darf nicht sein. Natürlich geht das islamistische Täterkollektiv über die Palästinenser hinaus. Daniel Goldhagen hat vollkommen Recht, wenn er den Wahlsieg der Hamas als Teil einer globalen islamistischen Offensive sieht.

Aber das zu erkennen, liegt dann vollkommen außerhalb der Reichweite der Tauben, Blinden und Stummen. Zeit, die Augen aufzumachen.