Vom Verlust der Gleichzeitigkeit

Das globale Internet zerfällt wieder in lokale Kulturen

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Der Begriff des „Internet“ suggeriert ein weltweites Netz mit einer Kultur. Tatsächlich aber entwickeln sich zunehmend interkulturelle Verschiebungen, die kaum technisch bedingt sind, sondern einen komplett anderen Alltag im Umgang mit dem Netz zum Grund haben. Die globale Plattform wird zum „glocal tool“.

Das explosive Wachstum internetbasierter Transaktionen und die dynamischen technischen Entwicklungen wie der Browserkrieg der 90er, das Aufkommen von XML oder jetzt von AJAX haben in den letzten zehn Jahren die erste weltweit einheitliche Medienplattform für bald eine Milliarde Menschen entstehen lassen. Zum Vergleich: HDTV wurde 1987 präsentiert und ist immer noch nicht im Breitenmarkt angekommen.

Die eCommerce-Euphorie der .COM-Bubble endete zwar in einer Vernichtung von Börsenkapital, die so groß war wie die Gesamtkosten der Wiedervereinigung. Doch laut Forrester wurden 2005 in den USA 48% aller Hard- und Software, aber auch 10% aller Spielzeuge und Geschenke bereits online gekauft. Es scheint so, als ob das Web weltweit nach einem gehörigen Anlauf-Knirschen gut auf Fahrt gesetzt ist und die Nutznießer der Globalisierung beherbergt.

Man könnte aber auch sagen, dass jetzt die dritte Stufe der digitalen Dekade zündet: die Glocalisierung in verschiedenen Ländern der Welt. Eine klare technische und kommerziell nutzbare Plattform bietet alle Möglichkeiten, sich kulturell zu differenzieren. Sie zerfällt in lokale Kulturen, weil das Netz in diesen Kulturen stattfindet und ein Cyberspace nur bei William Gibson und Neal Stephenson vorkommt.

Politische Faktoren, kulturelle Prägungen, die Eigenarten des Zusammenlebens und natürlich auch die Eigengesetze der lokalen Märkte im Wettstreit mit globalen Anbietern formen verschiedene Adaptionstiefen und Ausprägungen der zur Verfügung stehenden technischen Komponenten. Die Differenzierung findet nicht erst seit heute statt, sie tritt aber mit der Hilfe von neuen Tools deutlicher hervor: Es gibt Netzanwendungen, die sind auf den ersten Blick scheinbar nur eine Spielart.

Als Google Trends auf dem letzten Pressetag vorgestellt wurde, schienen die meisten Journalisten froh, endlich wieder eine Suchmaschinen-Funktion des Monopolisten zu sehen. Google Trends ist darüber hinaus mehr als ein Technorati-Meetoo. Es zeigt regional, was von Interesse sein könnte. Und eine Eingabe von Begriffen wie HTML oder Web 2.0 scheint eine Vermutung zu bestätigen: Die US-Metroplen für Webdesign sind hier weit oben. Indien und andere südostasiatische Staaten scheinen aber eine Menge an Neugierigen aufzuweisen, die das Thema zunehmend interessiert. Wertet man nach Regionen aus, verschiebt sich das Bild klar in Richtung Asien. Oder krasser ausgedrückt: Gedacht werden Webtechniken in den USA, angewendet in Asien. Europa? Schlusslicht.

Dass Offshoring diesen Trend verstärkt, mag sicher stimmen, aber Schwellenländer überspringen als Anbieter und gleichzeitigem Markt ähnlich wie in der Telekommunikation Entwicklungsstufen der 1. und 2. Welt, um sich direkt in eine konvergente Zukunft zu hebeln. Das muss aber dann nicht dazu führen, dass deren Anwendung im Alltag ähnlich aussieht wie in Nordamerika oder in Europa, wobei bereits die unterschiedliche Rezeption von Web 2.0 in Deutschland im Vergleich zu USA zeigt, dass sich ein Delta auftut. Während Europa traditioneller und senderorientierter bleibt und Web 2.0 als Mode begreift, spricht man in den USA deutlicher vom nächsten Schritt im Internet.

Die japanische Online-Kultur als Beispiel

Länder, die technisch und wirtschaftlich weiter entwickelt sind als das Abendland, entwickeln sich aus Gründen eines anderen kulturellen Backgrounds verschieden. Japan zum Beispiel. Während dort Yahoo den Markt in puncto Access, Mail, Search und Content immer noch dominiert und hier ein altes Bild von Yahoo vor 10 Jahren einzufrieren scheint, diversifiziert sich die Online-Kultur:

  1. Mobile – Japan ist neben Korea der am weitesten entwickelte Mobile-Markt der Welt (Penetration, Usage, Technology). Für viele Applikationen, vor allem eMail, ist Mobile die native Umgebung.
  2. Personal Blogging – Technorati Japan zählt mehr als 3 Millionen Blogs; vor allem überdurchschnittlich viele persönliche Blogs mit sehr kleinem Userkreis. Die Blogosphere funktioniert hier dichter, aber auch mehr atomisiert ist als in Europa oder den USA.
  3. Online Shopping – startete früher und stärker als im Rest der Welt. Es gibt eine Vielzahl von winzigen, hoch spezialisierten Online-Shops. Japan ist seit jeher eine Highend Consumer-Gesellschaft mit langer Mailorder-Shopping-Tradition.

Interessant zudem die hohe Hemmschwelle in Japan, „einfach irgendwo“ anzurufen, deshalb sind Messenger und Handy-Email hier sehr beliebt. Man zeigt auch auf dem Messenger akribisch an, dass man "busy" ist, und es käme niemand auf die Idee, dann eine Nachricht zu schicken.

Blogging und die starke DoCoMo-Kultur von Emails via Handy lassen sich zum einen aus dem starken sozialen Wabensystem erklären, in dem Japan immer noch funktioniert, zum anderen ist gerade in Ballungszentren ein Rückzug in beengte Wohnverhältnisse nur zu Schlafenszeiten sinnvoll. Das soziale Leben verlagert sich also auf dem Weg zur Arbeit in digitale Ebenen. Blogs als halbprofessionelle Kolumnen wie hierzulande sind dabei kaum existent.

Einfache und deshalb mächtige soziale Faktoren treiben die digitale Alltagskultur: Parameter wie ein zu hoher Zugangspreis (z.B. in Lettland), aber auch rechtliche Bremsen oder freie inhaltliche Verfügbarkeit wie in China halten ein Land davon ab, die kritische Masse für sinnvolle Web 2.0-Kulturen zu erzeugen. Die Konsequenz besteht im Abwandern in eine andere Kultur für eine Elite, oder im totalen Ausfall: Internet findet in der Mongolei bisher kaum statt, während das Web per Staatsdekret in Singapur auf die Überholspur gesetzt wird. Was nicht gleichzusetzen ist mit der freien Verbreitung von Inhalten dort.

Die theoretisch gleichen Möglichkeiten des Internet finden in Asien in den entwickelten Staaten einen rasanten Wachstumskurs aus wirtschaftlichen Gründen, erfahren aber inhaltliche Einschränkung oder verlagern sich auf mobile Geräte. Während in den USA zunehmend der Switch von Musik und Kino auf digitale Kanäle ansteht und die dortige Web 2.0-Kultur fast wie eine Gegenreaktion zum paranoiden Bushismus wird. Wenigstens im Netz teilt man vorbehaltlos untereinander und genießt das weltweite Kollektiv. Das ist alles nicht überraschend, wird aber in den nächsten Jahren zunehmend dazu führen, dass verschiedene Kulturen vollkommen andere Auffassungen von einem Medium wie dem Internet haben.

Während die einen vor allem ihre Ökonomie darauf aufbauen, etablieren die anderen eine konsistente Gegenkultur darauf und gewöhnen sich beide aus diesen Gründen an eine ständig aktive Datenbubble in ihrem Leben. Zurück bleiben Kulturen, die andere Sorgen haben, als sich um Downloads zu kümmern. Sie können nicht auf das scheinbar so billige Kommunizieren per Netz zurückgreifen, weil die teure Infrastruktur dazu gar nicht aufgebaut ist und deshalb die Kosten für den Einzelnen zu hoch sind, um zu surfen und zu mailen. So ist für die Zukunft zu vermuten: Das Netz könnte alle verbinden, aber es braucht zunehmend soziale Übersetzungen, wenn ein glocales Cluster mit einem anderen spricht. Dabei können die Cluster untereinander durchaus über Landesgrenzen hinausgehen.

Vermutlich ist die Welt weniger rund, als wir glauben.