Der unbekannte Feind

Chaos in Afghanistan

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Aufgebrachte Afghanen in der Hauptstadt Kabul, die Gebäude in Brand setzen, Geschäfte plündern und mit Steinen auf amerikanische Soldaten werfen, die ihrem Präsidenten und den Amerikanern den Tod wünschen; ein amerikanischer Luftangriff im Süden des Landes, offiziell 50 Tote: Taliban-Widerständler, so die einen, auch Zivilisten seien darunter, so die anderen: Der "heimliche Krieg" in Afghanistan hat sich wieder laut in der Öffentlichkeit des Westens zurückgemeldet.

"Dieser Tag hat uns um 10 Jahre zurückgeworfen", kommentiert ein afghanischer Soldat, der in der Hauptstadt Kabul für die internationale Schutztruppe ISAF eingesetzt ist, die gestrigen Unruhen.

Wir haben so hart gearbeitet, um hier etwas aufzubauen. Jetzt werden die Ausländer das Land verlassen und ihr Geld mitnehmen.

Die Berichte über die genauen Vorgänge der gestrigen Unruhen in Kabul sind widersprüchlich. Umstritten ist vor allem, ob die amerikanischen Soldaten, die nach einem Unfall von einer aufgebrachten Menschenmenge in Bedrängnis gebracht wurden, zur Warnung in die Luft geschossen haben, wie die offizielle Version der US-Militärvertreter behauptet, oder in die Menschenmenge, wie Zeugen von der New York Times und AFP zitiert werden. Wer für die Toten in den gestrigen Auseinandersetzungen genau verantwortlich ist, bleibt noch ungeklärt.

Einig sind sich sämtliche Berichterstatter aber darin, dass die größten Unruhen in der Stadt seit dem Sturz des Taliban-Regimes stark anti-amerikanisch gefärbt waren und außerdem einen heftigen Unmut gegen die Regierung Karsai bloßlegten. Die Todesdrohungen gegen die amerikanischen Besatzer und den afghanischen Präsidenten waren nicht zu übersehen. Einmal mehr wird den Amerikanern unsensibles, arrogantes Vorgehen vorgeworfen.

Das verunglückte Militärfahrzeug, dessen Bremsen versagten, soll viel zu schnell unterwegs gewesen sein - ein höheres Tempo sei aber nötig, um Risiken zu vermeiden, man will sich ja nicht zur Zielscheibe machen, so das Argument der Amerikaner. Viel zu schnell sollen Schußwaffen gebraucht worden sein - doch wer reagiert schon gelassen in einer feindlichen Umgebung, wenn Steine geworfen werden und einem aufgebrachte, hysterische Menschen an die Haut wollen?

Und wieder, man kennt das aus dem Irak, ist von einem "Turning Point" im Verhältnis der Bevölkerung zu den amerikanischen Soldaten die Rede, allerdings sei die Gefahr, dass der Unmut sich nicht nur gegen amerikanische Soldaten, sondern auch gegen UN-Blauhelme richten wird, groß, warnte der Tagesspiegel schon vor knapp einer Woche.

Der Wiederaufbau mache nicht die nötigen Fortschritte, die Bevölkerung sei frustriert - Unterversorgung und 35 Prozent Arbeitslosigkeit -, wird aus Afghanistan gemeldet und Fehler werden bei der unzureichenden Unterstützung aus dem Westen, vor allem der USA gefunden.

Dazu in den letzten Wochen verstärkt Berichte über die "berüchtigte Taliban-Frühjahrsoffensive", die dieses Jahr für größere Beunruhigung sorgen, da sie Opferzahlen melden , die seit dem Krieg gegen die Taliban Ende 2001 und Anfang 2002 nicht mehr verzeichnet wurden.

Die Berichte ließen wenig Zweifel daran aufkommen, dass sich die Taliban verstärkt haben. Von neuen Taktiken war die Rede, so sollen Taliban-Kräfte neuerdings in bislang ungewöhnlichen "Verbänden" von 100 Mann und mehr angreifen.

Präsident Karsai tauschte harsche Worte mit seinem pakistanischen Amtskollegen Muscharaf aus, weil das benachbarte Pakistan seiner Meinung nach zu wenig gegen die Taliban unternehmen würde, die von pakistanischer Seite aus nach Afghanistan eindringen. Karsai ging in seinen Vorwürfen sogar soweit, dass er den Verdacht äußerte, dies geschehe mit Unterstützung des pakistanischen Geheimdienstes, ein Verdacht, der nicht neu ist.

Vieles bleibt hier im Dunkeln und größeren Spekulationen überlassen. Muscharraf weist draufhin, dass ihm die Hände gebunden sind, weil die Taliban offiziell keine Terrororganisation ist, Karsai unterscheidet zwischen guten und schlechten Taliban, mit den guten darf man kooperieren und den schlechten soll die neue afghanische Armee in Zusammenarbeit mit US-Truppen den Garaus machen. Doch wie die guten von den schlechten unterscheiden, wie überhaupt Mitglieder einer Taliban-Organisation von anderen Afghanen unterscheiden? Die US-Truppen sind auf Informationen angewiesen und wer garantiert, dass diese Informationen richtig sind und keine Denunziation von rivalisierenden Gruppen?

Dem bedrohlichen Bild nach, das der Afghanistan-Experte der Asia-Times, Syed Saleem Shahzad - bestückt mit seinen üblichen, etwas verschwörerisch überzeichneten "Insiderinformationen"- von der Widerstandsbewegung im Land am vergangenen Freitag skizzierte, reicht das Erklärungsmodell "Frühjahrsoffensive der Taliban" zur Kennzeichnung der Lage in Afghanistan nicht aus: Es handle sich um eine massive Widerstandsbewegung, die von einem ganzen Netzwerk von islamistisch motivierten Organisationen, Warlords, Drogenbaronen und Stammesführen mit ihren speziellen Machtinteressen geführt wird, ein komplexer "Netwar", der den "einfachen" von den Taliban angeführten Widerstand transzendieren könnte und in eine mächtige islamische Bewegung überführen.

Zumindest in einem stimmt ihm der Afghanistan-Experte von Radio Free Europe/Radio Liberty,Amin Tarzi zu: Die westlichen Streitmächte hätten ihren Feind noch nicht genau identifiziert und definiert - aus Scheu vor der Macht der Warlords und Drogenbaronen und aus Unkenntnis über das Land.

Wer auch immer stabilisierende Prozesse in Afghanistan sabotiert, das Timing stimmt, nicht nur aus militärischer Sicht - man will der erwarteten Aufstockung von NATO-Truppen im Sommer im Süden des Landes zuvorkommen: Es gab gerade in jüngster Zeit neben Berichten aus umkämpften Zonen auch hoffnungsvollere Meldungen, wonach ausländische Investoren wieder dazu bereit waren, mehr Geld in den Wiederaufbau des Landes zu investieren.