Vom Zerbröckeln einer Monarchie

Frankreich: Chirac und seine Nachfolger. Teil 1.

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Den französischen Präsidenten Jacques Chirac scheinen ernsthafte Sorgen zu plagen. Sonst wäre ihm eine solche Serie von Fauxpas nicht unterlaufen. Kürzlich etwa sollte er am Montparnasse-Bahnhof in Paris einige Einrichtungen der staatlichen Bahngesellschaft SNCF besichtigen, die eine behindertenfreundliche Nutzung ihrer Transportmittel gewährleisten sollen. Der Präsident ging zunächst auf einen Blinden zu mit den Worten: „Ich freue mich, Sie zu sehen!“ Worauf der Mann wohl kaum erwidern konnte: Ich auch...

Das nächste Fettnäpfchen stand schon bereit: Die Vorsitzende der Vereinigung kleinwüchsiger Personen, Danièle Hugues, sah sich vom Staatsoberhaupt aufgefordert, „die Informationen auf das höchste Niveau hochsteigen zu lassen“, also auf seine Amtsebene. Die Journalisten fingen an, sich zu wundern. Der Gipfel war erreicht, als Chirac einen gehbehinderten Mann im Rollstuhl aufforderte, doch mit ihm zusammen „die Treppe hoch zu steigen“, um das Gespräch fortzusetzen. „Ich nehme lieber den Aufzug“, erwiderte der Mann trocken, wie Le Canard enachaîné kolportiert.

Unter gewöhnlichen Umständen wären Jacques Chirac, dem man zumindest nicht mangelnde Leutseligkeit vorwerfen kann sein, solche Tolpatschigkeiten nicht unterlaufen. Menschen auf ihre fehlenden Körperfunktionen anzusprechen, schickt sich nicht, und der Einsatz für eine behindertenfreundliche Gesellschaft zählt zu den drei „nationalen Prioritäten“ - neben dem Kampf gegen den Krebs und die Verringerung der Anzahl von Straßenunfällen -, die der Präsident nach seiner Wiederwahl 2002 ausrief.

Manche Kritiker meinen zwar, solche Schwerpunktziele seien zwar höchst ehrbar, aber eher dem Horizont eines Staatssekretärs würdig. Doch dass Chirac auch noch auf diesem selbstgewählten Terrain jämmerlich versagt, ist schon ein schlechtes Zeichen. Die fortlaufenden Enthüllungen im Rahmen der nach wie vor weiter schwelenden „Clearstream-Affäre“, das scheinbar unaufhaltsame Drängen seines ambitionierten Nachfolgekandidaten Nicolas Sarkozy in Richtung Macht und die Drohungen der Justiz, die über ihn herfallen könnte, sobald er seine Präsidialimmunität 2007 verlieren wird – nichts wirkt derzeit so richtig beruhigend für Noch-Amtsinhaber Chirac.

Barocke Szenen eines „fin de règne“

Und Besserung ist nicht in Aussicht: Auch der viertägige Abstecher nach Brasilien und Chile, wo Chirac sich bis am vorigen Sonntag aufhielt, brachte ihm keine Linderung. In Brasilia musste er vor einem fast leeren Parlament sprechen, und bei einem Besuch des berühmten Moneda-Palasts von Santiago de Chile – wo einst der linke Präsident Salvador Allende im Kugelhagel starb – musste Chirac sich die Erniedrigung gefallen lassen, auf die Frage zu antworten, ob es Frankreich nicht derzeit wie in einer „Bananenrepublik“ zugehe. Und auch in dieser Woche ging es Schlag auf Schlag.

Am Montag erinnerte man sich in ganz Frankreich an den ersten Jahrestag des Referendums über den EU-Verfassungsvertrag, das Chirac angeordnet und verloren hatte. Am Dienstag fand das Verhör der Schlüsselfigur der auch weiterhin vor sich hin schwelenden “Clearstream-Affäre“ statt : das des ehemaligen Vizedirektors beim Luftfahrt- und Rüstungskonzern EADS, Jean-Louis Gergorin.

Am Dienstag morgen um 09.15 Uhr wurde er in Polizeigewahrsam genommen. Bestimmte Vertreter der politischen Klasse zitterten schon vorab, in Anbetracht dessen, was Gergorin da möglicherweise „auspacken“ könne.

Und an diesem Mittwoch kam der neue Film von Karl Zéro und Michel Royer in die Kinos: „Dans la peau de Jacques Chirac (In der Haut von Jacques Chirac)“ – laut Kritikern ein vernichtendes Urteil über die Karriere Chiracs.

Dabei enthält der Film kaum Kommentare, ob kritische oder positive, von Dritten und begnügt sich fast ausschließlich mit Originalstatements des derzeitigen Staatspräsidenten: Seine Äußerungen aus 40 Jahren politischer Laufbahn, in denen Chirac so ziemlich alles und sein Gegenteil versprochen oder erklärt hat, werden von einem Stimmenimitator verlesen und aneinander gereiht. Die Zusammenschau ergibt einen solch tragikomischen Effekt, dass man sich im Elyséepalast schon lange vor Beginn der Ausstrahlung des Films ernsthafte Sorgen zu machen anfing, wie Le Monde bereits am 22. April meldete.

Neben flagranten Widersprüchen erkennt man durch den Film aber auch einige Kontinuitäten. Ob im Jahr 1967 (Chirac ist Staatssekretär für Soziales), 1976 (Chirac amtiert als Premierminister), 1986 oder als Präsident 1995 – jedes Mal erklärt er in Sachen Arbeitslosigkeit, dass die Lage sich gerade zu verbessern beginne. 1967 hatte Frankreich 40.000 Arbeitslose, knapp drei Jahrzehnte später waren es drei Millionen.

Korruptionsaffären und Geheimkonto

Jacques Chiracs kümmerliche Bilanz gibt zunehmend jenen Stimmen Auftrieb, die sich fragen, ob die Institutionen der „republikanischen Monarchie“ - nach den Maßstäben der durch de Gaulle begründeten Fünften Republik - noch den Erfordernissen der Zeit genügen: Und was, wenn die Person, in deren Händen so viel Macht vereinigt wird, sich letztendlich als totale Niete herausstellt? Und dies in Zeiten, wo die Gesellschaft einem hohen Veränderungsdruck ausgesetzt ist? Doch Chirac ist nicht nur eine – in den Augen vieler Franzosen – politisch gescheiterte Figur. Auch die strafrechtlich relevanten Aspekte seines Wirkens über die Jahre hinweg kommen allmählich wieder ins Blickfeld.

Am Ende seiner ersten Amtszeit – die von 1995 bis 2002 dauerte, erst im Verlauf dieser Periode wurde das Mandat auf fünf Jahre verkürzt - hatte Chirac sich durch eine Verfassungsänderung die Immunität im Amt garantieren lassen. Damals tauchte sein Name in rund 20 Ermittlungsverfahren auf, die die Strafjustiz im Zusammenhang mit Korruptionsaffären während seiner früheren Tätigkeit als Pariser Oberbürgermeister (1977 bis 95) führte.

Nunmehr kommt aber neue Ungemach hinzu. So hat mittlerweile die gesamte Öffentlichkeit mit bekommen, was bis dahin fast nur hinter den Kulissen des staatlichen Machtapparats diskutiert wurde: Die Existenz eines Geheimkontos Chiracs in Japan, einem seiner Lieblingsländer, das er über 40 mal bereist hat. Anfang der neunziger Jahre hatte eine japanische Boulevardzeitung enthüllt, der damalige Pariser Oberbürgermeister besitze bei der Tokyo Sowa Bank (TSB) ein geheimes Konto und sei mit ihrem Generaldirektor Shoichi Osada befreundet. Chiracs dort geparktes Guthaben wurde auf 321 Millionen französische Francs (45,7 Millionen Euro) beziffert.

Während des letzten Wahlkampfs, 2001/02, hatte der französische Inlandsgeheimdienst DGSE bezüglich der Existenz dieses Kontos ermittelt. Nach seiner Wiederwahl – die wohl nur aufgrund der überraschenden Präsenz des Rechtsextremen Jean-Marie Le Pen als Alternativkandidat in der Stichwahl überhaupt glücken konnte - tauschte Chirac daraufhin Spitzenfunktionäre der DGSE aus, wie damals nur lapidar durch die Presse vermeldet wurde.

„Nur“ noch eine Million Dollar übrig

Es waren die öffentlichen Enthüllungen über die „Clearstream-Affäre“, die nunmehr diese Affäre nachträglich sichtbar gemacht haben. Die Satire- und Enthüllungszeitung Le Canard enchaîné kam etwa am 17. Mai ausführlich auf das japanische Konto zurück. Das Blatt wusste aber auch zu vermelden, dass von den Millionen möglicherweise nicht mehr viel übrig sei: Chiracs Bankiersfreund, Osada, wurde in der Zwischenzeit wegen betrügerischer Manöver verurteilt, da er in den neunziger Jahren wirtschaftliche Schwierigkeiten der Bank durch eine fingierte Kapitalerhöhung übertüncht hatte.

Just am Donnerstag voriger Woche wurde Shoichi Osada so in Tokyo dazu verurteilt, der in Konkurs befindlichen früheren Bank umgerechnet 135 Millionen Euro zurück zu zahlen. Bereits 2003 war er zu drei Jahren Bewährungsstrafe verdonnert worden. Von Chiracs Geldern in Japan seien, meinen jedenfalls manche Zeugen gegenüber dem Canard enchaîné, „nur“ noch eine Million Dollar übrig. Der Elyséepalast dementierte selbstverständlich „energisch“ sämtliche Informationen.

Die Clearstream-Affäre

Am Dienstag dieser Woche verhörte die Pariser Justiz den ehemaligen Manager und Vizedirektor von EADS (European Aeronautic Defence and Space Company), Jean-Louis Gergorin. Allgemein erwartet wurde, dass ein Strafverfahren gegen ihn eingeleitet werde, um die Vorwürfe der Verleumdung bzw. falschen Verdächtigung zu prüfen. Die Nebenkläger – unter ihnen mehrere Politiker – fordern die Justiz ferner dazu auf, die den Ermittlungen zugrunde liegende Anklage auf Urkundenfälschung und Verwendung gefälschter Urkunden zu erweitern: Es geht um die famose Liste angeblicher Geheimkonten, deren Besitz den Betreffenden unterstellt worden war.

Der Mann, der als Zentralfigur der in den letzten Wochen (bisher nur zum Teil) aufgerollten „Clearstream-Affäre“ gilt, war am 10. Mai von seinen Führungsaufgaben bei dem europäischen Rüstungs- und Luftfahrtunternehmen entbunden worden. Am 18. Mai hat Gergorin in einem Interview mit der Boulevardzeitung Le Parisien nun erstmals explizit eingeräumt, dass er tatsächlich der „Rabe“ - also der anonyme Briefeschreiber – war, der führende Politiker und Industrielle bei dem Untersuchungsrichter Renaud Van Ruymbeke denunzierte und dadurch den Stein der Affäre ins Rollen brachte. Daraufhin hat der Konzern ihm inzwischen gekündigt.

Ins Schwitzen gekommen ist aber auch der von ihm mit anonymen „Informationen“ bestückte Untersuchungsrichter selbst, und seine seit längerem geplante Versetzung an das Revisionsgericht von Paris – wo er den Vorsitz hätte übernehmen soll – ist gestoppt worden. Seine Karriere scheint blockiert und sein Ruf beeinträchtigt, zumal der Richter inzwischen auch zugegeben hat, den „anonymen“ Briefeschreiber Gergorin selbst getroffen zu haben, bevor er zum Empfänger der berühmt gewordenen Schreiben wurde.

Es handelte sich gewissermaßen um eine vorher angekündigte anonyme Denunziation. Im Protokoll der Anhörung Van Ruymbekes durch seine beiden Richterkollegen Jean-Marie d’Huy und Henri Pons, das am 19. Mai durch die Pariser Abendzeitung Le Monde – die über einige Informationen aus „lecken Stellen“ verfügt und ihre Leser schon mal vorab vor Durchsuchungen ihrer Redaktion warnte – abgedruckt wurde, heißt es wörtlich:

Ich denke, dass Jean-Louis Vergorin selbst zusammen mit seinem Anwalt die Modalitäten der Übermittlung von Informationen auf anonymem Wege festgelegt hat. Der Anwalt hat mir in der Folgezeit (nach den zwei oder drei Treffen des Richters mit Gergorin, Anm.) angezeigt, dass er mir einen anonymen Brief überreichen werde.

“Retrokommissionen“

Gar so unbekannt war der Große Unbekannte also denn doch nicht, auch nicht dem Untersuchungsrichter. Ihn köderte Gergorin, indem er ihm in Aussicht stellte, er könne ihm bei der Auflösung des Rätsels um den Verbleib der Kommissionszahlungen aus einem Rüstungsgeschäft mit Taiwan weiter helfen. Es ging immerhin um 900 Millionen Euro, eine stattliche Summe, die großenteils nach Frankreich geflossen sein muss. Dabei handelte es sich um so genannte „Retrokommissionen“.

Also um Gelder, die von vornherein in den Kaufpreis eines Rüstungsguts zwischen dem Liefer- und dem Empfängerstaat einkalkuliert werden – aber im Gegenteil zu den „eigentlichen Kommissionen“ nicht dazu dienen, Politiker im Empfängerland zu bestechen und zum Kauf von Rüstungswaren etwa aus Frankreich zu bewegen, sondern die an Politiker im Ausgangsland zu Bereicherungszwecken zurückfließen.

In solchen Fällen handeln gewöhnlich dieselben Unterhändler sowohl die Kommissionen als auch die Retrokommissionen, die nach beiden Seiten fließen, aus. Im Falle des französisch-taiwanesischen Rüstungshandels von 1991 scheint es aber einige Unstimmigkeiten gegeben zu haben – jedenfalls hinterlässt die Abwicklung dieses Rüstungsdeals mindestens drei Tote, darunter den ermordeten Sohn des französischen Geheimdienst-Generals Imbot, der in Taipeh ansässig war.

Jean-Louis Gergorin erweckte bei dem für die Suche nach dem Verbleib dieser Gelder zuständigen Untersuchungsrichter Van Ruymbeke offenkundig den Anschein, ihm zur Aufklärung dieser komplexen und weit verästelten Affäre behilflich sein zu können. So gab Van Ruymbeke bei seiner Anhörung durch die beiden Richterkollegen am 10. Mai dieses Jahres zu Protokoll:

Wenn die Angaben (in diesen beiden anonymen Briefen) über Konten echt gewesen wären, dann hätte ich den Schlüssel für die Affäre um die Fregatten für Taiwan besessen.

Sarkozy auf der Liste, Villepin gierig, Chirac an den Strippen

Gergorin, auf dem von Anfang an der Hauptverdacht lastete, nachdem die Spionage- und illegale Bespitzelungsaffäre seit Ende April stückchenweise aufgeflogen war, dürfte das „Gehirn“ der ganzen Angelegenheit darstellen. Er hat die Beschuldigungen gegen Wirtschaftsgrößen und Politiker, die die gesamte Affäre auslösten, höchstwahrscheinlich im Zusammenspiel mit dem Informatiker und jungen Finanzbetrüger Imad Lahoud – der derzeit „wegen Depressionen“ krank geschrieben und nicht verhörfähig ist – erfunden. Wie seit circa einem Monat mühsam rekonstruiert werden konnte, hing Gergorins Interesse dabei unmittelbar mit einem Machtkampf zwischen zwei Fraktionen in der französischen Rüstungsindustrie zusammen.

Wirklich pikant wurde die Affäre aber erst dadurch, dass das Duo Gergorin/Lahoud auch Spitzenpolitiker mit auf die anklägerische bzw. diffamierende Liste setzte. Und vor allem einen unter ihnen, nämlich den hyperambitionierten konservativen Innenminister und schon seit November 2003 erklärten Präsidentschaftskandidaten: Nicolas Sarkozy. Dabei handelte es sich um einen Köder, durch den „die Politik“ und wohl auch die Medienöffentlichkeit für die Affäre interessiert werden sollte. Denn ansonsten hätte Gergorin möglicherweise mit seinen Obsessionen umsonst hausieren gehen müssen.

Dennoch lässt sich nicht behaupten, dass „die Politik“ zum völlig unschuldigen Opfer der Machenschaften des Jean-Louis Gergorin geworden, sozusagen in dessen Falle getappt sei. In Wirklichkeit war es vielmehr ein französischer Spitzenpolitiker, der Gergorin in seinem Vorgehen - im Gegenteil - aktiv angestachelt hat. Und der an entscheidenden Stellen selbst zum Stichwortgeber wurde - nämlich der (noch) amtierende Premierminister Dominique de Villepin.

Er zeigte sich von Anfang an - also seitdem die Existenz ominöser Listen in den Händen seines Bekannten Jean-Louis Gergorin für ihn ruchbar geworden war - absolut fasziniert von der Aussicht darauf, künftig möglicherweise etwas gegen seinen schlimmsten Widersacher Nicolas Sarkozy in der Hand zu haben.

In jenem Zeitraum, im Winter 2003/04, prangte der Name des Innenministers allem Anschein noch gar nicht sichtbar auf der Liste; vielmehr genügten einige eindeutig-zweideutige Andeutungen Gergorins, um de Villepin den Mund wässerig zu machen. Dies zeigte sich anlässlich jener berühmten Sitzung am 09. Januar 2004: An ihr nahmen der damalige Außenminister de Villepin und Gergorin nebst dem General Philippe Rondot als Verbindungsmann zu den Nachrichtendiensten teil - der General war dabei eher gegen seinen Willen in die Sache hinein gezogen worden und blieb skeptisch.

Ihr Ablauf wurde seit Anfang Mai mehrfach durch verschiedene Presseorgane geschildert, die das Geschehen aufgrund verfügbarer Informationen und Vernehmungsprotokollen rekonstruieren konnten. Daraus geht hervor, dass Gergorin es bei diesem Treffen zunächst bei einer Anspielung auf die Person Sarkozys beließ - dessen Person jedoch in der Folgezeit ein halbes Dutzend mal den Hauptgegenstand der Gespräche bildete, anscheinend auf die Initiative des Ministers hin.

Besonders brisant aber ist, dass de Villepin dabei offenkundig einen aktiven Unterstützer an höchster Stelle hatte, der aus dem Hintergrund das Misstrauen gegen den ihm verhassten Aufsteiger Sarkozy schürte. Niemand anders als Präsident Jacques Chirac war bestrebt, die klandestinen Ermittlungen des nunmehrigen Trios de Villepin/Gergorin/Lahoud – ergänzt um den innerlich widerstrebenden General Rondot als Vierten im Bunde - voran zu treiben. Nach übereinstimmenden Quelleninformationen hielt er sich über die Ergebnisse der Unterredung auf dem laufenden.

Ein Pech für Chirac, dass bei dem General Rondot, anlässlich der bei ihm durchgeführten Hausdurchsuchung am 28. März, handschriftliche Notizen en masse gefunden wurden, die vom Fortgang der Ereignisse zeugen. Es ist im übrigen kurios, dass ein so erfahrener Nachrichtendienstmitarbeiter so leicht zu entschlüsselnde Botschaften bei sich zu Hause aufbewahrt hat.

Ein Schriftfanatiker

Philippe Rondot war ein Geheimdienstler der alten Schule - der Autor von Agententhrillern der Taschenromane-Serie SAS, Gérard de Villiers, nahm ihn zum Vorbild seiner Romanfiguren in mehreren seiner Bücher bzw. Heftchen, vor allem in solchen über Einsätze in den arabischen Ländern. Diese Weltregion war die Spezialität des Generals Rondot, der u.a. der Festnahme des internationalen „Topterroristen“ Carlos 1994 im Sudan beteiligt war, und mit Gérard de Villiers ist er seit inzwischen 30 Jahren befreundet.

Aber Rondot war eben auch ein Schriftfanatiker, der alles auf Papier gebannt wissen wollte, und zudem glaubte er wohl auch sein Zuhause vor dem Zugriff neugieriger Polizisten sicher – auf sein 13 Stunden dauerndes Verhör von Ende März soll er nach eigenen Aussagen „schlecht vorbereitet“ gewesen sein. Das Umfeld Chiracs wird ihm dies wohl nie verzeihen, und ein Berater des Präsidenten wurde in Le Monde mit den offenen Worten zitiert, dass dies nun wirklich von Amateurhaftigkeit zeuge und manch Anderer „wenigstens den Mund zu halten wusste“.

Dabei spielte er nach Ansicht der Pariser Abendzeitung auf den ehemaligen Premierminister Alain Juppé an, der im Zusammenhang mit Chiracs Korruptionsaffären aus der Vergangenheit tatsächlich unter dem Drängen der Justiz eisern geschwiegen hatte. Am 22. Mai zog der General Rondot, der bei den Untersuchungsrichtern der „Clearstream-Ermittlungen“ vorgeladen war, dann aber doch noch eine Strategie der unnachgiebigen Aussageverweigerung vor. Die Medien mutmaßten, der Militär habe sich an „Befehl von oben“ binden lassen.

Aus besagten handschriftlichen Aussagen geht also unter anderem hervor, dass der alte General am 12. Januar 2004 – drei Tage nach dem famosen Treffen im Büro des damaligen Außenministers – zur Feder griff und an Dominique de Villepin schrieb:

Es ist geboten, „mit Vorsicht, in einem geheimen Rahmen und unter Berücksichtigung aller eventuellen politischen Manipulationen“ zu handeln, nach den Worten des Präsidenten, so wie Du sie übermittelt hast.

Am 30. Januar desselben Jahres notierte Rondot in seinen Aufzeichnungen, seine Vorgesetzte – Verteidigungsministerin Michèle Alliot-Marie – sei sauer aufgrund „der Entscheidung des PR, dass ich diese Operation direkt mit ihm behandele, ohne mich mit ihr abzusprechen“. Das Kürzel PR, darüber sind sich wohl alle Beobachter einig, bezeichnet niemand anderen als den Président de la République.

Am 19. Juli 2004 warnt Rondot den Minister de Villepin vor „dem Risiko, dass der PR berührt wird“, und sorgt sich um „negative Auswirkungen auf den PR“. Dominique de Villepin antwortet ihm demnach wörtlich: „Wenn wir (im Zusammenhang mit der Affäre) in Erscheinung treten, der PR und ich, dann fliegen wir aus dem Amt.“ Die heißesten Stellen aus den Handschriften des Generals Rondot wurden am 23. Mai durch Le Monde nachgedruckt.

Sarkozy - die Opferpose

Einer kann sich dabei natürlich voll als Opfer fühlen, oder zumindest in der Öffentlichkeit so präsentieren – nämlich Nicolas Sarkozy selbst. Die Opferpose des Law & Order-Ministers wirkt dabei zwar reichlich hohl, zumal der Mann wahrscheinlich schon viel länger darüber eingeweiht war, dass man ihm vermeintliche Geheimkonten u.ä. anzuhängen versuchte, als er bisher öffentlich den Anschein zu erwecken sucht.

Sarkozy will ab Ende 2004 im Groben auf dem laufenden gewesen sein, aber erst im April 2006 die geheimen Ermittlungstätigkeiten des Generals Rondot über ihn und andere Persönlichkeiten entdeckt haben. Dagegen behauptet ein Journalist der konservativen Tageszeitung Le Figaro namens Stéphane Denis, der zufällig auch noch familiäre Verwandtschaftsbeziehungen zu Rondot hat, dass er den heutigen Innenminister (und damaligen Wirtschaftsminister) Sarkozy bereits „seit Sommer 2004“ persönlich unterrichtet habe.

So steht es etwa im Parisien vom 11. Mai 06. So groß kann der Schaden für Nicolas Sarkozy also nicht gewesen sein, da er über die Machenschaften gegen ihn längst unterrichtet war. Sarkozy seinerseits dementierte die Aussage des Journalisten im Wochenmagazin Le Point, der ihm wohlgesonnen ist.

Keine Lichtfigur in der Affäre

Auch Nicolas Sarkozy verhielt sich im Verlaufe der verwickelten Affäre, nach allen bisher zur Verfügung stehenden Informationen, keineswegs wie eine strahlend weiße Lichtfigur. Im Gegenteil verhielt er sich selbst im Machtkampf gegenüber dem Chirac/Villepin-Clan ähnlich wie ein rivalisierender Mafiaboss, der Al Capone signalisiert, dass er besser mal ein bisschen Rücksicht auf ihn nehmen sollte.

Einem Sicherheitsberater von Jacques Chirac etwa gab er folgende warme Worte zu Protokoll: „Es wird Blut an den Wänden kleben, und es wird keiner DNA-Analyse bedürfen, um zu wissen, dass es Deines ist.“

Und dem Staatsoberhaupt selbst erklärte er im Sommer 2005 in einer Unterredung, die in dem vom konservativen Journalisten Franz-Olivier Giesbert verfassten Abrechnungsbuch über den Präsidenten Chirac (La Tragédie du Président, Paris 2006) wörtlich wiedergegeben ist:

Chirac: Nun gehen Sie, hören Sie auf, mir von dieser Clearstream-Affäre zu erzählen. Man muss an das ‘intérêt général’ (Allgemeininteresse, öffentliche Interesse) denken.
Sarkozy: Welches Allgemeininteresse?
Chirac: Das ist eine Geschichte ohne Bedeutung. Du verlierst Deine Zeit.

Sarkozy: Reden Sie nicht so mit mir. Eines Tages werde ich den Sauhund wiederfinden, der diese Affäre aufgezogen hat, und er wird auf einem Fleischerhaken enden.

Ferner sollte das übrige Verhalten, das Nicolas Sarkozy im damaligen politischen Gesamtkontext an den Tag legte, Berücksichtigung finden. Im Januar 2004, als Dominique de Villepin sein vermeintlich raffiniertes Trio auf Nicolas Sarkozy anzusetzen begann, war dieser soeben auf dem Weg zu einem Staatsbesuch in China.

Während er sich in Peking aufhielt - unter anderem um mit der chinesischen Führung ein „Rücknahmeabkommen“ für unerwünschte Immigranten auszuhandeln - startete Sarkozy einige Provokationen in der Absicht, eine internationale Wirkung zu erzielen. So lästeterte Sarkozy in Peking öffentlich über die Japaner und ließ sich auch gleich noch abschätzig über das in Japan verbreitete Sumo-Ringen aus: „Das ist nun wirklich kein Intellektuellensport“, meinte er, und rümpfte die Nase über „fettleibige Sportler mit Gummi in den Haaren“.

Die Äußerung stellte in Wirklichkeit vor allem einen Angriff unter der Gürtellinie gegen seinen Rivalen Jacques Chirac dar, dessen Japanfimmel und dessen Vorliebe für eben diese Sportart in Frankreich allgemein bekannt sind. Später fragte der kleinwüchsige Minister aus Frankreich dann noch den frisch ins Amt gekommenen chinesischen Staatspräsidenten Hu Jintao, „wie man sich fühlt, wenn man Nummer zwei im Staat war und zur Nummer eins aufgerückt ist“.

Gut gelaunt erzählte der ehrgeizige Politiker die Anekdote auf einer Pressekonferenz in Peking zum Abschluss seiner Reise. Zu dem Zeitpunkt wurde Sarkozy in Paris allgemein als „Nummer zwei“ hinter Chirac, aber vor dem schwächelnden damaligen Premierminister Raffarin betrachtet. Der Empfang im Hause Chirac, bei der Rückkehr seines Ministers, soll daraufhin „gewitterhaft“ ausgefallen sein, meldete Le Monde seinerseits.

Die Sarkozy-Maschine und Medienmoguln

Insofern lässt sich sagen, dass sein Rivale Dominique de Villepin zwar Unrecht darin behielt, hinter Sarkozys Staatsbesuch in China und seiner damals geplanten Reise nach Indien angebliche „finanzielle Motive“ zu vermuten – wohl aber grundsätzlich Recht hatte, dessen Auslandsabstecher argwöhnisch zu beobachten. Nicht die vermeintlichen Geldschiebereien bildeten dabei das wirklich Brisante an Sarkozys Reisetätigkeit. Aber man stelle sich nur einmal vor, der Mann käme in einer Situation erheblicher internationaler Spannungen in ein Land – und würde, einmal mehr auf Profilsuche unterwegs, dort in ähnlicher Weise lästernd über das Nachbarland herziehen. Der Mann wäre noch in der Lage, einen Weltkrieg zu entfesseln!

Derzeit dagegen fühlt er sich in der angeblichen Opferrolle wohl, und schlachtet die dadurch bedingte Aufmerksamkeit voll aus. Ohnehin verging kaum ein Tag, an dem der als telegen geltende Minister nicht in den Medien präsent war – und wenn er es in der vergangenen Jahren nicht mit seinen Aktivitäten als Regierungsmitglied war, dann waren es seine Eheprobleme, die öffentlich verhandelt wurden. Aber nunmehr sind neue Spitzenwerte in der Intensität seiner Medienpräsenz zu verzeichnen. Kein Wunder, sind doch mindestens zwei mächtige Medienmoguln in Frankreich persönlich mit Nicolas Sarkozy befreundet.

Seine Männerfreundschaft mit Martin Bouygues, dem Erben des von Papa Francis Bouygues gegründeten Imperiums – eines Bauriesen und Betonfabrikanten, dem auch der 1987 durch Chirac privatisierte erste Fernsehkanal TF1 gehört – ist seit Jahren öffentlich bekannt, und war es bereits vor Sarkozys Eintritt in die Regierung. Martin Bouygues war Trauzeuge bei der Hochzeit von Nicolas und Cécilia Sarkozy.

Ebenfalls mit dem Minister und Präsidentschaftskandidaten freundschaftlich liiert ist Serge Dassault, der Rüstungsindustrielle und Flugzeugfabrikant, der im Jahr 2004 den Pressekonzern Socpresse aufkaufte und seitdem 35 Prozent der französischen Zeitungslandschaft (Le Figaro, L’Express...) direkt kontrolliert. Dereinst hatte Nicolas Sarkozy als junger Rechtsanwalt für ihn die komplizierte Erbschaft des Papas, Marcel Dassault, geregelt. Da bleibt man einander doch verbunden.

Nunmehr wird auch Kritik daran laut, wie Sarkozy sich wochenlang in den Medien landauf, landab in Szene setzen konnte. „Pour Sarkozy, Clearstream rime avec ‘victime’“ (Für Sarkozy reimt Clearstream sich auf ‘Opfer’) dichtete etwa Eric Fottorino, dessen Rubrik in der Pariser Abendzeitung Le Monde etwa der Kolumne „Das Streiflicht“ in der Süddeutschen Zeitung ähnelt, ironisch. Die linke Wochenzeitung L’Humanité hebdo titelte: „Und jetzt läuft die Sarkozy-Maschine“.

Das linksnationalistische Magazin Marianne kündigte zwar am 13. Mai bereits „Le Coup d’Etat“ - den Staatsstreich – auf ihrer Titelseite an und sah Sarkozy bereits, die günstige Gelegenheit nutzend, die volle Macht übernehmen. Allerdings beruhte das Szenario der, politisch manchmal etwas wirren Wochenzeitschrift auf einer falschen Prognose: Nicolas Sarkozy werde in Bälde das Amt des Premierministers übernehmen und dabei alle politische Macht in seinen Händen konzentrieren, den völlig diskreditierten und handlungsunfähigen Präsidenten Chirac auf die Seite drängend.

Mit der Legitimität des Machtinhabers ausgestattet und auf einige geschickt getroffene, populäre Entscheidungen in den kommenden Monaten zurück schauend, werde es ihm dann ein leichtes werden, die Präsidentschaftswahl im nächsten Jahr zu gewinnen und das oberste Staatsamt zu übernehmen. Nur irrte sich das Wochenmagazin Marianne dabei gewaltig: Sarkozy hat nicht vor, oder seine Umgebung rät ihm ab, das Premierministeramt zum jetzigen Zeitpunkt zu übernehmen.

Denn in der französischen Ämterhierarchie untersteht der Premier noch immer dem Präsidenten, dient ihm als „fusible“ (ungefähr: Ausputzer, der die Kastanien aus dem Feuer holt und notfalls aus dem Amt fliegt) und kann jederzeit von ihm entlassen werden. Als Regierungschef unter diesen Bedingungen, so fürchten Sarkozys Berater, würde der „starke Mann“ der französischen Konservativen nur unnötig verheizt – und für all die Schwierigkeiten auf ökonomischem und sozialem Gebiet verantwortlich gemacht werden. „Sarkozy à l’Elysée, pas à Matigon“ (sinngemäß: Sarkozy soll Präsident, nicht Premierminister werden) skandierten seine Anhänger deshalb bei einer Großveranstaltung im südfranzösischen Nîmes, am 9. Mai, als die Clearstream-Affäre soeben auf ihren Höhepunkt zuzusteuern anfing.

Should I stay ou should I go... ?

Für Nicolas Sarkozy tut sich eher eine andere Alternative auf, nämlich die Frage, ob er an der Regierung bleiben soll – oder aber zurücktreten, voll seine Opferrolle in der Clearstream-Affäre ausspielend. Letzteres böte ihm die Gelegenheit, ohne unmittelbare realpolitische Rücksichtnahmen handeln zu können und als Präsidentschaftskandidat freie Hand zu haben.

Dazu rät ihm ein Teil seiner Berater, wie der ehemalige konservativ-wirtschaftsliberale Premierminister Edouard Balladur – dem sein Verbleiben an der Regierung 1995 zum Verhängnis geworden ist. Denn bei der damaligen Präsidentschaftswahl schlug ihn sein Gegenkandidat aus dem konservativen Lager haushoch: Sein Parteifreund Jacques Chirac, der seinerzeit den Oppositionspolitiker spielen und ungehemmt soziale Versprechungen machen konnte.

Doch bisher scheinen aus Sarkozys Sicht die Gegenargumente zu überwiegen. Dazu zählen die materiellen Vorteile, die ihm das Amt bietet: Neben einer ständigen Medienpräsenz in seiner Eigenschaft als Minister (die nicht auf die, quotenmäßig auf die Präsidentschaftsbewerber zugeteilte und gemessene, Redezeit als Kandidat angerechnet wird) zählt dazu auch die Übernahme seiner ministeriellen Reisekosten durch den Staat.

Aber der wichtigste Vorteil aus Sicht Sarkozys liegt darin, dass er im Innenministerium seine Getreuen an den Schaltstellen des Staatsapparats platzieren, und so Ermittlungen gegen ihn wie im Falle der Clearstream-Affäre verhindern kann. „Ich habe das Amt angenommen, weil ich mich und die Meinen so besser vor Angriffen schützen kann“ - mit diesen Worten wurde Sarkozy vielfach zitiert, als er im Juni 2005 nach sechsmonatiger Regierungspause ins Innenministerium zurück kehrte.

Aber die Dinge liegen oft noch viel konkreter. So hat Sarkozy angeblich von Präsident Chirac die Zusage eingeholt, dass er als Innenminister den nächsten Chef des Inlandsgeheimdiensts DST auswählen dürfe, sobald dessen aktueller Leiter Pierre de Bousquet de Florian abtritt. Dies behauptet jedenfalls Libération vom Montag dieser Woche. Die DST war im Zuge der geheimen Ermittlungen in der Clearstream-Affäre unter der Verantwortung Dominique de Villepins 2004 ebenfalls eingeschaltet worden.