Über My Lai und besondere Morde im Krieg

Im öffentlichen Geschichtsbild und im Filmgeschehen hinterlassen die meisten Massaker nur vage Erinnerungsspuren. Ein aktueller Vergleich mit Vietnam könnte die Bush-Administration jedoch unter Druck setzen

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Am 19. November 2005 sollen US-Marines in der irakischen Stadt Haditha 24 Zivilisten umgebracht haben. Der demokratische US-Abgeordnete John Murtha wirft dem Pentagon eine gezielte Vertuschung des Massakers vor und konstatiert einen Skandal, der „noch schlimmer“ sei als die Enthüllungen über das Foltergefängnis in Abu Ghureib. Wie von selbst drängt sich in den aktuellen Berichten ein Vergleich mit „My Lai“ auf. Es zeigt sich wieder einmal: Anonyme Statistiken über Opferzahlen lassen die Medienöffentlichkeit gleichgültig. Erst besondere Morde im Krieg sorgen für Aufregung.

3.000 oder bedeutend mehr kriegsgefangene Taliban-Kämpfer sind seit ihrer Kapitulation Ende 2001 – während einer benennbaren Phase des Afghanistankrieges – unauffindba (Das Massaker, das nicht sein darf). Der irische Fernsehjournalist Jamie Doran legte 2002 seinen Dokumentarfilm „Afghan Massacre: Convoy of Death“ vor, der zahlreiche Hinweise auf Massaker – zum Teil unter Anwesenheit bzw. mit Wissen von US-Militärs – enthielt (Vorwürfe gegen US-Armee weiter ungeprüft). Noch vor der Ausstrahlung des Beitrags im deutschen Fernsehen wurden zwei der Zeugen, die Doran interviewt hatte, ermordet. Offizielle Untersuchungen zu Massengräbern in der nordafghanischen Region Masar-i-Sharif, die spätestens nach Testgrabungen der US-Organisation „Ärzte für Menschenrechte“ und nach Informationen der UN zu erwarten gewesen wären, blieben erst einmal aus. Fünf Jahre später fragt ohnehin niemand mehr, was aus dem Fall eigentlich geworden ist.

Spuren des Massakers in Afghanistan. Foto: Ärzte für Menschenrechte

Die einzige Opferstatistik, die im laufenden „Antiterrorkrieg“ präzise geführt wird, bezieht sich auf US-Soldaten. Bei den Todesopfern unter Zivilisten in islamischen Ländern ist man hingegen auf vage Schätzungen angewiesen, die sich zwischen 30.000 und deutlich mehr als 100.000 bewegen. Ein paar Zehntausende mehr oder weniger, das hält im „Nebel des Krieges“ nicht so genau.

Das Beispiel „Tiger Force“

Besondere Verbrechen an Zivilisten machen das Grauen des Krieges hingegen anschaulicher und bieten den Medien Stoff für eine aktuelle Story. Doch auch sie bleiben manchmal Jahrzehntelang im Grab der Verschleierung verborgen oder werden nie bekannt. Ab dem 19. Oktober 2003 veröffentlichte die US-Tageszeitung The Toledo Blade (Bundesstaat Ohio) nach acht Monate dauernden Recherchen ihre umfangreichen Erkenntnisse über Gräueltaten der Eliteeinheit „Tiger Force“. 1967 sollen Mitglieder dieser 45-Mann starken US-Einheit über einen Zeitraum von sieben Monaten im südvietnamesischen Bergland unschuldige Bauernfamilien gefoltert und mehrere hundert Zivilisten regelrecht abgeschlachtet haben. Man trug Halsketten mit Ohr-Trophäen und warf Granaten auf Unterschlüpfe, in denen sich Frauen und Kinder versteckt hielten. Zitiert wird Tiger-Force-Feldwebel William Doyle: „Selbst konnten wir nur überleben, indem wir andere umbrachten. Denn über Tote brauchte man sich keine Gedanken mehr zu machen!“

Die Vorgesetzten vertuschten. Soldaten mit Gewissensbissen wurden eingeschüchtert. Amtliche Untersuchungen zu den Vorkommnissen waren dann fünf Jahre nach ihrem offiziellen Bekanntwerden im Jahr 1975 stillschweigend eingestellt worden. Für das Militär gab es kein Interesse an einer Strafverfolgung. Bereits 1966 hatte es Hinweise auf auffällige Praktiken der besagten Truppe gegeben. Ward Just berichtete in seinem Buch „To What End“, dass ein Soldat der „Tiger Force“ die Ohren getöteter „Feinde“ per Post an seine Frau geschickt hatte. Michael D. Sallah, Mitch Weiss und die anderen Autoren von The Toledo Blade beriefen sich 2003 bei ihrer Enthüllung über Massenmorde an Zivilisten auf beteiligte US-Veteranen, Aussagen von Vietnamesen und Dokumente der US-Army.

Das brennende My Lai

Das mit Abstand bekannteste Massaker

Nur zehn Meilen entfernt von den südvietnamesischen Einsatzorten der „Tiger Force“ im Jahr 1967 liegt My Lai. Mit diesem Dorf ist das mit Abstand bekannteste Kriegsverbrechen von US-Soldaten während des Vietnamkrieges verbunden: das Massaker von My Lai, das Mitglieder der Charlie-Company unter der Leitung des 24-jährigen Lieutenant William Calley am 16. März 1968 verübten.

Die anhaltend große Bedeutung des schrecklichen Ereignisses lässt sich vielleicht daran ablesen, dass eine US-Website mit den originalen Dokumentarfotos zu diesem Verbrechen passend zum Irakkrieg der Regierungen der USA und Großbritanniens 2003 aus dem Internet verschwunden war.1 My Lai gehörte zur südvietnamesischen Provinz Quang Ngai, die wegen eines hohen „Vietcong“-Anteils unter der Bevölkerung bereits 1967 zur „freien Feuerzone“ deklariert worden war. Die von Pentagon und Weißem Haus zu verantwortenden Freifeuerzonen suggerierten den Soldaten, sie dürften in den deklarierten Gebieten („kill areas“) jeden Vietnamesen erschießen.

Die US-Militärführung entflammte mit ihrem offiziellen Erfolgsparameter des Leichenzählens (bodycount) unter Kompanien und Soldaten ein perverses Wetteifern um die höchsten Leichenquoten. Unter den GIs wurde mit Blick auf die hohen Zivilistenanteile gewitzelt: „Alles was tot und nicht weiß ist, ist ein Vietcong.“ Die Ansprache von Captain Ernest Medina, mit der Lieutenant Calley und seine Leute am Morgen des Massakers in das Dorf My Lai geschickt wurden, ist von Robert J. Lifton als faktischer „Teil der Trauerfeier für einen gefallen Feldwebel“ bezeichnet worden. Sie ließ nach Angaben von Zeugen vermuten, dass es – per definitionem – vor Ort keine „Zivilisten“ mehr gäbe. Die unbewaffneten Bewohner jeden Alters und Geschlechts wurden dann Opfer eines dreistündigen Blutbades, bei dem vermutlich über 20 Soldaten dem Mordrausch ihres Zugführers Calley folgten. Mehr als 500 Leichen, darunter etwa 350 Frauen, Kinder und Babys sowie zahlreiche Greise, fand man später in Massengräbern bei My Lai.

Der US-Pilot Chief Warrant Officer Hugh Thompson war entsetzt. Er schritt in das Geschehen ein und befahl seiner Helikoptermannschaft sogar, zum Schutz der vietnamesischen Menschen gegebenenfalls auf eigene Soldaten zu schießen. Der Augenzeuge Ronald Haeberle, als Fotograf der Armeezeitung „Stars and Stripes“ zur offiziellen Dokumentation anwesend, behielt nach Ende des Massenmordens achtzehn Farbaufnahmen für sich. Für die offizielle Militärberichtsversion einigten sich die Vorgesetzten auf die erfolgreiche Liquidierung von 128 „Vietcong“-Kämpfern, wobei der unbeabsichtigte Tod von möglicherweise 20 Zivilisten zugestanden wurde.

Erfreulich für die „killratio“: Es gab aufgrund des völlig unbewaffneten „Feindes“ keinen einzigen eigenen Verlust. Einige Soldaten hatten den Massenmordbefehl verweigert oder ihre Folgsamkeit nur vorgetäuscht, andere waren ihm unter Verzweiflungsschreien gefolgt. Ein GI hatte sich absichtlich in den Fuß geschossen, um nicht mitmachen zu müssen. Ein beteiligter Wehrpflichtiger bezeichnete My Lai später ganz arglos als „einfach so ein Nazi-Ding“.

Intern riet Captain Medina einem GI dringend von einer Meldung des Vorfalls ab. Einem gänzlich Unbeteiligten, dem 22jährigen Ex-Soldaten Ronald Ridenhour, gelang es, durch eigene Recherchen und zahlreiche Briefe an die höchsten Stellen im März 1969 endlich eine zögerliche Untersuchung des vertuschten Massakers in Gang zu bringen. Erst im November folgten dann ein Zeitungsbericht von Seymour Hersh, die Veröffentlichung der grausigen Haeberle-Fotos und weltweite Empörung. In Den Haag schrieb die Tageszeitung Het Vrije Volk:

Die Amerikaner massakrieren diejenigen, die sie beschützen wollten. Es ist die Bankrotterklärung der Politik der USA in Vietnam.

Gnadenexzess für einen der Beteiligten

Die ganze Hilflosigkeit angesichts des Verbrechens äußerte sich während des My Lai-Prozesses in Fragen der folgenden Art: „Haben die Babys Anstalten gemacht, Sie anzugreifen?“ („Have the babies moved to attack?“) Als einziger Täter wurde im März 1971 Lieutenant William Calley verurteilt, nachdem Augenzeugen vor Gericht zahlreiche seiner grausamen Morde geschildert hatten. Die lebenslange Haftstrafe verbüßte er sehr bald als Hausarrest. Nach dreieinhalb Jahren wurde er von Präsident Richard Nixon vollständig begnadigt.

Ausgerechnet ein Jahr nach Ende des Vietnamkrieges revidierte der Oberste Gerichtshof der USA 1976 seine frühere Auffassung von 1972, die – seit 1967 nicht mehr vollstreckte – Todesstrafe sei verfassungswidrig. Seitdem warteten – im Widerspruch zu internationalen Konventionen des Völkerrechts – in manchen US-Staaten auch auf zwölfjährige Täter oder geistig Behinderte wieder Gaskammer, Todesspritze und andere Hinrichtungsinstrumente. Es drängt sich die Frage auf, ob der Vietnamkrieg der US-Gesellschaft auch an dieser Stelle ein unseliges Gewalterbe hinterlassen hat.

Gleichzeitig zur erneuten Rehabilitierung der Todesstrafe lebte der verurteilte Massenmörder Calley als unbehelligter US-Bürger auf freiem Fuß. An irgendeinen militärischen Ausbildungskurs zu den Genfer Konventionen konnte er sich nicht erinnern. Er hatte My Lai nach der Anklageerhebung „nicht als große Sache“ empfunden, sich – nicht ganz ohne Grund – auf zweideutige Befehle berufen und als Patriot sogar autobiographische Berichte veröffentlicht. Er bekannte:

Ich war gerne in Vietnam. Ich wusste, ich kann hier getötet werden, aber ich konnte auch mehr erleben als in Amerika. Denn in Vietnam musste ich immer voll dabei sein.

„So etwas passierte fortlaufend“

Unter den zehntausend Fanpostbriefen an William Calley waren zahlreiche Zuschriften von Soldaten, die sich dazu bekannten, in früheren Kriegen ähnlich Dörfer „durchkämmt“ zu haben wie Calleys Truppe in My Lai.

Am 30.9.1999 berichtete die New York Times über ein viel älteres Massaker an bis zu dreihundert Zivilisten durch US-Soldaten in Südkorea, an einer Brücke nahe No Gun Ri im Juli 1950. Der 1974 in Teilen veröffentlichte Peers-Untersuchungsbericht der US-Regierung verweist neben My Lai auf Massaker an dreißig weiteren Orten Vietnams, die – wie die Kriegsverbrechen der Tiger Force-Einheit im Jahr 1967 – größtenteils ungeahndet blieben. Am 25.2. 1969, so erstmals ein Artikel in der New York Times vom April 2001, töteten Mitglieder eines Navy SEAL-Teams unter dem Kommando von Bob Kerrey, dem späteren demokratischen Senator von Nebraska, mehr als ein Dutzend unbewaffneter Frauen und Kinder im kleinen südvietnamesischen Dorf Thanh Phong.2 Am 19. Februar 1970 wurden 16 Frauen und Kinder im vietnamesischen Dorf Son Thang von Mitgliedern der 1st Marine Division im Rahmen einer „search-and-destroy“-Mission erschossen. Zwei beteiligte Marines, zu langen Haftstrafen verurteilt, verbüßten letztendlich ein Jahr Gefängnis.

In der Nähe von My Lai hatten die Quäker eine Klinik und erfuhren deshalb sehr bald vom Massaker am 16. März 1968. Sie gaben Berichte darüber erst gar nicht weiter, schreibt Noam Chomsky in seinem Buch „War Against People“, „weil so etwas fortwährend passierte“. Der Journalist Seymour Hersh konnte 1969 mit seinem My Lai-Bericht zunächst bei keiner Zeitung landen, weil seine Recherchen nicht als etwas Besonderes empfunden wurden. Mit Blick vor allem auf den technischen Overkill des US-Luftkrieges möchte Chomsky das von den Medien später so hoch angesiedelte Massaker im Gesamtzusammenhang sogar nur wie eine „Fußnote“ zum offiziellen Kriegsverbrechen bewerten.

Tatsächlich hat der oberste Befehlshaber, General Westmoreland, diese – zufällig bekannt gewordene – blutige „Fußnote“ rückblickend dazu missbraucht, um von der eigenen brutalen Kriegsführung abzulenken. Zwischen dem Mord aus nächster Nähe und dem Auslöschen ganzer Dörfer oder Landschaften aus einem fernen Piloten-Cockpit sieht er offenbar keinen Vergleichspunkt3:

Ich erinnere mich sehr gut. Es war eine Tragödie. Als ich davon hörte, habe ich sofort ein Verfahren gegen die Verantwortlichen eingeleitet, und es wurden ja auch einer oder [!] zwei verurteilt. My Lai war eine tragische Entwicklung, die unserer Politik widersprach.

Wann aber will der General „davon gehört“ haben, wie gut ist seine – bereits im Zitat zweifelhaft dokumentierte – Erinnerung, und wer sind die wirklich Verantwortlichen?

Das Thema „My Lai“ im Film

Sehr früh hat Joseph Strick seinen Dokumentarfilm „Interviews with My Lai Veterans“ (USA 1970) gedreht. Doch über das Massaker selbst gibt es trotz seiner gesellschaftlichen Brisanz und des umfangreichen „Materials“ keinen eigenständigen Spielfilm. Zu nennen ist aber unbedingt Soldier Blue (Wiegenlied vom Totschlag), ein subversiver Versuch ausgerechnet aus dem Westerngenre, der 1969 ins US-Kino kam. Der Film von Regisseur Ralph Nelson bezieht sich auf das Sand Creek Massaker (1864) an Indianern und schildert, wie ein Yankee-Soldat im Angesicht des Völkermordes den überheblichen Glauben an die Höherwertigkeit der weißen Zivilisation ablegt. Soldier Blue wurde von vielen Rezipienten als verdeckte Kritik an Vietnam und speziell als Parabel auf „My Lai“ verstanden. Den langwierigen Prozess gegen den einzigen Verurteilten hat Stanley Kramer 1975 in der Reihe „Judgement“ für den Fernsehsender ABC unter dem Titel The Court-Martial of Lt. William Calley verfilmt.

Im Coppolas Vietnamklassiker Apocalypse Now (1979) gibt es zumindest zwei Bezüge auf Massaker: TV-Kameras filmen Leichenberge in einem südvietnamesischen Dorf. Die überlebenden Bewohner vernehmen aus einem Megaphon die Parole der US-Armee: „Wir sind hier, um euch zu helfen!“ Der befehlshabende US-Captain Kilgore lässt seine Hubschrauber ein weiteres Charly-Dorf anfliegen, das neben einer gefürchteten Gefechtsstellung der Nationalen Befreiungsfront einfache Reisbauern und Kinder beherbergt. Die Geschosse prasseln aus der Höhe unterschiedslos hernieder. Zum richtigen „Aufräumen“ ordert Kilgore noch ein ganzes Flugzeuggeschwader, denn er liebt „den Geruch von Napalm am Morgen“. Die ganze Aktion soll übrigens die Bahn frei machen für ein sportliches Surf-Event – inmitten der phänomenalen Zweimeterwellen am Ort!

Einen direkteren Bezug auf die Geschehnisse in My Lai enthält Jahre später der Film Platoon (USA 1986). Oliver Stone berücksichtigt Details wie den vorangegangenen Tod von Mitgliedern der beteiligten Kompanie und den versuchten Widerstand einiger US-Soldaten gegen das Verbrechen. Doch im Licht der fürchterlichen Fakten ist seine deutlich intendierte Anspielung auf das Massaker schwer zu ertragen. In Platoon sieht der Zuschauer Soldaten, die im Rahmen der üblichen „Search & Destroy“-Aktionen zur Identifizierung von „Vietcongs“ in unkontrollierte mörderische Gewalt verfallen. Vergewaltigungen von Frauen zeigt Stone „nur“ als abgewehrten Vergewaltigungsversuch.

Dass es während des Verbrechens keinen einzigen der – angeblich – gesuchten „Vietcong“-Kämpfer im ganzen Dorf gab, wird jedoch nicht deutlich. Explodierende Sprengstoff-Depots im Dorf, so Stefan Reinecke (Hollywood goes Vietnam, 1993), dienen als Drehbuch-Konstrukt zur nachträglichen Rechtfertigung der US-Strafaktion. Durch Zeugenaussagen verbürgte historische Szenen wie die Exekution einer betenden Frauengruppe vor dem Dorftempel, die Massenerschießung von zusammengepferchten Bewohnern auf dem Dorfplatz, die Leichenberge im Dorfgraben von My Lai, die Ermordung von sich gegenseitig schützenden Kindern oder das Niedermetzeln von Babys sind für die künstlerische Verarbeitung des Geschehens nicht von Interesse. Wenn der Drehbuchautor und Regisseur von Platoon die Opferzahl von My Lai in einem Interview für den vom Militär unterstützten Dokumentarfilm Tour Of The Inferno: Revisiting Platoon (USA 2001) mit „120 oder 130 Zivilisten“ beziffert, zeigt auch das seine nur ungefähren Vorstellungen über den Tathergang.

Das von einem Kulturschaffenden zu erwartende Verstehen wird vom Veteranen Stone eindeutig überstrapaziert. Leider spiegelt er damit auch eine Entwicklung innerhalb der Gesellschaft wider, an die sich sein Werk richtet. Während das My Lai-Massaker Ende 1969 für kurze Zeit ein Aufschrecken in den USA bewirkt hatte, war bereits 1971 in mehreren Umfragen eine deutliche Mehrheit der US-Bevölkerung zumindest mit der individuellen Verurteilung von Lieutenant Calley nicht einverstanden.

Der Protest gegen die kriegsführende Machtelite äußerte sich hier in der diffusen Solidarisierung mit einem Kriegsverbrecher von unterem Rang, dessen unbeschreibliche Grausamkeit bekannt war. Tatsächlich hatte man ja auch nicht einen einzigen beteiligten Vorgesetzten zur Rechenschaft gezogen. Politiker wiederum konnten durch Sympathien für das „Opfer“ Calley beim Volk Punkte sammeln. Dies lieferte eine weitere Vorlage für die reaktionären Vietnam-Geschichtskonstruktionen der Reagan-Ära (1981-1989). Mit selbstherrlicher Pose wurden alle moralischen „Komplexe“ hinweg gefegt und die USA selbst zum eigentlichen Opfer stilisiert. Die besagten Umfragen zeigten aber auch, dass für viele zwischen dem vorsätzlichen Mord an Zivilisten und dem offiziellen Vietnamkrieg überhaupt kein sauberer Unterschied mehr auszumachen war. Für den Chef der Pentagon-Filmförderung ist noch heute sogar die sehr abgemilderte Darstellung eines Massakers im Vietnamfilm „Platoon“ unannehmbar.4

Casualties Of War

Auffällig ist, dass ein Vergewaltigungsmordfall in Vietnam, der vielleicht eher als individuelles Kriegsverbrechen und nicht als Ausdruck einer planmäßig herangezüchteten Gewaltbereitschaft erscheinen konnte, mit einem eigenen Titel ins US-Kino kam. Der Film Casualties of War (USA 1989) von Brian de Palma bezieht sich auf eine authentische Geschichte, die von Daniel Lang erstmalig Oktober 1969 – also noch vor Publikwerden des My Lai-Massakers – im „The New Yorker Magazine“ veröffentlicht worden ist.

Schon neunzehn Jahre vor diesem späten Gedenken im Spielfilm hatte der Münchener Filmemacher Michael Verhoeven den traurigen Stoff über Gräuel in einem Krieg für die „Freiheit“ Südostasiens in seinem Schwarz-Weiß-Film O. K. (BRD 1970) aufgegriffen. Das Verbrechen ließ er mit US-Uniformen im Bayrischen Wald nachspielen. Die symbolträchtige Provokation führte zu einem großen Eklat und schließlich zum Abbruch der Berliner Filmfestspiele 1970.

Brian de Palma vermittelt das Kriegsverbrechen vor allem als Frage persönlicher Integrität unter Gruppenzwang und als zu überwindendes Vietnamtrauma: Der US-Soldat Eriksson ist erst seit drei Wochen in Vietnam und hat die geltenden Spielregeln noch nicht begriffen. Er sucht respektvollen Kontakt zu den Vietnamesen, spielt mit Kindern und hilft einem alten Mann beim Pflügen. Brownie, der Spaßmacher der Truppe, wird kurz darauf aus dem Hinterhalt angeschossen und tödlich verwundet. Für die US-Soldaten ist klar, dass alle im Dorf – auch Kinder und Frauen – vom Hinterhalt wussten: „Die Schlitzaugen sind der letzte Abschaum, wie Küchenschaben!“ „Ich hasse dieses miese, gottverdammte Land. Man sollte es in die Luft pusten und einbetonieren!“ Der Wunsch an die nachrückenden Soldaten lautet: „Brennt dieses Kuhkaff nieder!“

Nach der Heimkehr ins Lager macht Sergeant Meserve seiner kleinen Truppe mit Blick auf einen anstehenden Erkundigungsmarsch detaillierte Vorschläge, wie man den herrschenden sexuellen Notstand beheben könnte. Noch in der Nacht bricht der Trupp vorzeitig zu seiner Mission auf und entführt unter dem Weinen der Angehörigen die junge Vietnamesin Oahn aus einem abgelegenen Bauerndorf. Das völlig willkürlich zur „Vietcong“-Kollaborateurin erklärte Mädchen wird auf dem Marsch misshandelt, unzählige Male vergewaltigt und später aus Angst vor Entdeckung der Tat ermordet. Allein Eriksson entzieht sich dem Gruppendruck und verweigert seine Teilnahme an dem Verbrechen. Er gilt jetzt – unter offenen Morddrohungen – ebenfalls als „mieser Vietcong-Sympathisant“. Die mitleidslosen Täter sehen sich selbst in bester Dschingis-Kahn-Tradition. Sie huldigen unverhohlen einem sexualisierten Gewaltideal, in dem der „Schwanz“ als die eigentliche Waffe eines Mannes gilt.

Erikssons offene Überzeugung „Das hier ist nicht die Army!“ lässt ihn zu einem unerwünschten Zeugen werden, der beseitigt werden soll. Die Vorgesetzten raten ihm – zum Teil unter massiven Drohungen, alles auf sich beruhen zu lassen. Sein erster Gesprächspartner in der Hierarchie bagatellisiert: „Beruhigen Sie sich mal wieder und versuchen Sie, die Sache zu vergessen. An der Front muss man eben mit so was rechnen!“ Ein ranghöherer Captain setzt Eriksson unter Druck:

Ich hoffe, Sie sind sich im Klaren, wie ernst es ist. Ein derartiger Zwischenfall kann eine internationale Krise hervorrufen ... Diese Männer haben Scheiße gebaut. Wenn Sie Anzeige erstatten, ist dem Mädchen damit vielleicht irgendwie geholfen? ... Erzählen Sie mir nichts von Schreien. Ich habe schon sehr viele Schreie in diesem Land gehört. Meist waren es Schreie von verwundeten amerikanischen Jungs ... Niemand will Sie von irgendetwas abbringen. Aber eins sollten Sie nicht vergessen: dass unsere Militärgerichte nachsichtig sind, und die Gerichtsinstanzen in den Staaten sind noch nachsichtiger.

Den Tätern ruft Eriksson schließlich nach einem Anschlag auf sein Leben resigniert zu: „Ich habe es jedem hier erzählt, und allen ist es egal!“ Ein Sergeant, methodistischer Kaplan, sucht abends das Gespräch mit dem betrunkenen Eriksson. Dieser erzählt dem Geistlichen die Geschichte mit einem Selbstvorwurf: „Ich habe es nicht verhindert!“5

Es kommt zu Ermittlungen am Tatort und zum Kriegsgerichtsverfahren. Die Angeklagten halten sich für unschuldig und meinen, dass ihre Verurteilung nur dem „Vietcong“ dienen würde: „Viele sind in Vietnam gestorben. Es ist nun mal unsere Pflicht. Man tötet oder wird getötet.“ Die Anklage stellt fest: „Dann ist es wohl allgemein üblich, dass Armeeangehörige der Vereinigten Staaten sexuelle Beziehungen zu ihren Gefangenen haben und sie danach ermorden?“ Es kommt zur Verurteilung wegen Vergewaltigung und Mord, in einem Fall zu lebenslanger Haft.

Der gesamte Film zeigt als Rückblende die Erinnerungen des in seinem Trauma befangenen Eriksson. Er sitzt in den USA im Zug einer jungen Asiatin gegenüber, die ihn ohne Wissen um seine inneren Bilder tröstet: „Sie haben schlecht geträumt. Vergessen Sie es. Es ist vorbei.“ Einst hatten die Eltern der ermordeten Vietnamesin ihrer Tochter einen Schal mit auf den Weg gegeben. Jetzt überlässt Eriksson der Asiatin im Zug einen anderen Schal. Damit endet diese späte Geschichte über Gute und Böse in der US-Army sehr versöhnlich. Das individuelle Kriegsverbrechen ist abgekoppelt von der moralischen Frage nach dem Verbrechen der offiziellen Kriegsführung in Vietnam. Stefan Reinecke resümiert sehr treffend: „Der Alb der Vergangenheit ist gebannt, alles war nur eine Nachtmar, und die Opfer erteilen ungefragt die Absolution.“ (Hollywood goes Vietnam, S. 132)

Übrigens: Zur Logistik des Vietnamkrieges gehörte ein umfangreiches Prostitutionswesen. Über sexuelle Dienstleistungen für Soldaten im Rahmen des gegenwärtigen „Antiterrorkrieges“ in islamischen Ländern liegen merkwürdigerweise so gut wie keine Berichte vor.

Warum Vergleiche mit Vietnam zulässig und wünschenswert sind

Insgesamt leisteten rund drei Millionen US-Amerikaner ab 1961 in Vietnam Kriegsdienst, nach 1965 zumeist in Einsätzen von einem Jahr. Der Altersdurchschnitt der Wehrpflichtigen betrug etwa 19 Jahre. Auf dem Höchststand im März 1969 zählte die US-Army 543.000 Mann vor Ort. Der Krieg kostete das Leben von 58.167 zumeist sehr jungen US-Amerikanern. Zwischen „1961 und 1975 fielen etwa zwei Millionen Vietnamesen dem Krieg zum Opfer, hinzu kamen 300.000 Vermisste. Mehre hunderttausend Kambodschaner und Laoten verloren ebenfalls ihr Leben.“6

Mit Blick auf diese Zahlen ist zumindest gegenwärtig ein pauschaler Vergleich zwischen dem „Antiterrorkrieg“ der USA (Afghanistan, Irak) und dem Krieg in Vietnam unzulässig. Gleichwohl gibt es zutreffende Vergleichspunkte wie vorsätzliche Kriegslügen der US-Regierung, die Illusionen hinsichtlich der „Erfolgsmöglichkeiten“ einer nur militärisch-technologischen Überlegenheit, das fehlende Verständnis für einen anderen Kulturkreis, die nicht absehbare zeitliche Ausdehnung eines ursprünglich „kurzen Militäreinsatzes“, die Vermengung von US-Militärpräsenz und Bürgerkrieg oder die Gefahr der Destabilisierung einer ganzen Region.

Auch für die US-Berufssoldaten im Irak gilt, was Robert J. Lifton über die Wehrpflichtigen in Vietnam geschrieben hat: „Nur verzweifelte Menschen begehen Gräueltaten – im Fall von My Lai Männer, die ebenso in den unlösbaren Widersprüchen eines absurden Krieges wie in den tödlichen politischen Illusionen ihres Staates gefangen waren.“7 In Vietnam ergaben sich die allermeisten US-Kriegsverbrechen aus den Strategien von Militär und Geheimdienst. Im Rahmen von „Enduring Freedom“ hat die US-Administration schon früh die Genfer Konventionen in Frage gestellt. Der Folterskandal von „Abu Ghureib“, Ergebnis solcher Tabubrüche, wurde dann aber auf individuelle Täter abgewälzt.

Wie in Vietnam wird den im Irak eingesetzten US-Soldaten von der Politik das Selbstbild vermittelt, Freiheitsbringer zu sein. Vor Ort jedoch stoßen die Soldaten auf eine Bevölkerung, die sie mehrheitlich nicht länger im Land haben möchte. Wegen der ständigen Anschläge verfestigt sich im US-Militär eine Angst, die durchaus nicht nur paranoid ist. Viele Erschießungen von harmlosen Zivilisten durch US-Soldaten gehen auf diese Angst zurück. Die Wut auf Menschen, die den eigenen aufopfernden Dienst gar nicht schätzen, steigert sich nach dem Tod von Mitsoldaten zum Bedürfnis nach Rache. Ein Bericht des Vietnamveteranen Terry Reed8 zeigt durchaus Parallelen zum aktuell diskutierten Massaker von Haditha:

Mich lockte der Krieg alle drei bis fünf Tage in einen Hinterhalt, und auf der Strecke blieben massenhaft verwundete GIs. Dann zahlten wir es dem Feind sofort heim, fielen über irgendein unschuldiges Dorf her, machten alles nieder und richteten unter den Einwohnern ein Blutbad an

Diesem Muster, das auch dem Dorf My Lai zum Verhängnis wurde, entsprechen offenbar auch die jetzt bekannt gewordenen Vorgänge von Haditha. Dem Massaker an Zivilisten im November letzten Jahres ging der Tod eines US-Marineinfanteristen durch eine Bombenexplosion voraus!

Für die Opposition innerhalb der Vereinigten Staaten ist ein hinkender Vergleich mit Vietnam allemal besser als gar keiner. Die Anti-Vietnamkrieg-Bewegung, erfolgreich vor allem durch das Bündnis von Soldaten und Pazifisten, birgt historisch die wichtigste Widerstandserfahrung der Menschen in den Vereinigten Staaten. Die Impulse aus dieser Bewegung haben auch in Europa die politische Kultur nachhaltig verändert. Wer heute neue Kriegspläne vereiteln will, kann auf die Losung „Remember Vietnam!“ kaum verzichten. Jede US-Administration weiß um gefährliche Erinnerungen an Vietnam. Eine Mehrheit der Mehrheit, die schon jetzt in den USA den Irakkrieg als falsch bewertet, glaubt wohl noch immer irgendwie an eine „moralische Mission“. Weitere Enthüllungen nach Art von „My Lai“ könnten aber dazu führen, dass der Protest wirklich eine „kritische Masse“ erreicht und den Kurs der Bush-Administration beeinflusst.

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