Schwierigkeiten beim Französischreden in Deutschland

Nach der nicht sonderlich erfolgreichen Demonstration gegen die Sozialpolitik der großen Koalition stellen sich Fragen nach der Perspektive des Protestes

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Viel Gedränge gab es am vergangenen Samstag in der Berliner Innenstadt. Neben den vielen Pfingsturlaubern und den ersten Fußball-Weltenbummlern versammelten sich am frühen Nachmittag bei strömenden Regen zwischen ca. acht- bis zehntausend Demonstranten, die unter dem Motto Schluss mit den Reformen gegen uns die Wirtschafts- und Sozialpolitik der großen Koalition heftig angriffen. In der Öffentlichkeit wurde sofort von einem Misserfolg der Demonstration gesprochen, weil die Zahl der Demonstranten nicht an die Resonanz heranreichte, die die Anti-Hartz-Proteste vor 3 Jahren erreichten. Außerdem wurden auch in den Medien die herunter gerechneten Zahlen der Polizei verwendet, die von lediglich 3.000 Teilnehmern sprach.

Anti-Hartz-Demonstration am Samstag in Berlin. Foto: Anne Allex

Zu der Demonstration, zu der Teilnehmer mit Bussen und sogar aus NRW mit einem Sonderzug anreisten, hatten neben Erwerbslosen- und Studierendengruppen die globalisierungskritische Organisation Attac sowie lokale Untergliederungen verschiedener Einzelgewerkschaften aufgerufen. Hingegen haben sich die Spitzen des DGB und der Einzelgewerkschaften nicht an der Mobilisierung beteiligt. Der Verdi-Vorsitzende Frank Bsirske sagte sogar seinen zugesagten Redebeitrag kurzfristig wieder ab. Offiziell war den Gewerkschaften der Forderungskatalog der Demonstration zu radikal. Aber der Hauptgrund für die Zurückhaltung der Gewerkschaftsspitze liegt in ihrer Rücksichtnahme auf die mitregierenden Sozialdemokraten. Öffentlich gegen Arbeitsminister Franz Müntefering mobil machen wollten die braven Gewerkschafter dann doch nicht.

Hiermit ist nur eines der vielen Probleme beschrieben, vor dem das Protestbündnis stand, das die Demonstration organisierte. So war es gar nicht so einfach, einen Termin für die zentrale Protestaktion gegen die Politik der großen Koalition zu finden. Sie wurde mehrmals verschoben. Mit dem 3.Juni hatte man sich auf den letzten in Frage kommenden Termin vor dem Beginn der Fußballweltmeisterschaft geeinigt.

Neuer Hoffnungsanker SPD?

Die Bundesregierung müsste mit ihren neuesten Vorstößen zur Verschärfung von Hartz IV eigentlich zur Mobilisierung beigetragen haben. Der Bundestag hat am Donnerstag mit den Stimmen der großen Koalition Veränderungen von Hartz IV beschlossen, die vornehmlich in Sanktionen gegen „arbeitsunwillige“ Langzeitarbeitslose bis hin zur Streichung der Gelder und einer stärkeren Bekämpfung des „Leistungsmissbrauchs“ bestehen.

Mittlerweile versuchen die Sozialdemokraten den Eindruck zu verbreiten, dass sie weitere soziale Einschnitte verhindern oder zumindest abmildern wollen. In diesen Sinne wird auch die noch immer anhaltende Kontroverse zwischen den Regierungsparteien in den Medien interpretiert. Einige Bundesländer wollen die im Bundestag beschlossene Hartz IV-Reform im Bundesrat ablehnen, weil sie ihnen nicht weit genug geht.

Führende Unionspolitiker sehen Hartz IV als politisches Erbe von Rot-Grün. Im Unterschied zu den Betroffenen wird von konservativer Seite allerdings suggeriert, dass mit Hartz IV für Erwerbslose paradiesische Zeiten angebrochen seien, die sie mit weiteren Verschärfungen schnellstens beenden wollen. So könnte die SPD auf ihr nicht ganz erfolgloses Wahlkampfkonzept zurückgreifen. Müntefering gäbe dann den Streiter für einen gemäßigten Rückbau des Sozialstaates, der sich gegen die soziale Kälte der Konservativen wehren müsse.

An der Gewerkschaftsbasis und bei den politisch aktiven Menschen werden solchen Vorstellungen wenig Glauben finden. Schließlich ist dort nicht vergessen, wie sehr gerade Müntefering mit der Arbeitsmarktreform Hartz IV verbunden ist. Die Gewerkschaftsspitze allerdings funktioniert genau in dieser sozialdemokratischen Logik. Bei vielen Betroffenen könnte genau das der SPD paradoxerweise wieder Punkte bringen. Bei einem solchen Szenario haben es Menschen und Initiativen, die eine grundsätzliche Kritik an der Politik des Sozialabbaus artikulieren, schwer.

Vor allem können die Organisatoren auch keine Protestagenda aus dem Hut zaubern, mit der sich die gestrige Demonstration als passabler, wenn auch nicht überragender Auftakt für weitere Aktionen darstellen ließe. Ein solches Szenario war vom Herbst 2003 bis zur Einführung von Hartz IV im Januar 2005 noch möglich. In diesem Zeitraum gewann die Bewegung an Dynamik und Stärke, vernetzte sich und wurde zum Faktor in den Medien. Nach dem Auf und Ab der Anti-Hartz-Proteste lässt sich ein solches Protestszenario nicht einfach wiederholen.

Gleichzeitig wird nach neuen Aktionsformen Ausschau gehalten. Schließlich sind zentrale Großdemonstrationen für die Organisatoren ein Kraftakt und nicht beliebig wiederholbar. So gewinnen Aktionsformen des zivilen Ungehorsams an Zustimmung bei den Politisierteren Kreisen der Betroffenen. Dazu gehören die Überflüssigen, die mit weißen Masken vor dem Gesicht, in Nobelrestaurants auftauchen und eine Bedarfsgemeinschaft mit den reichen und vermögenden Gästen bilden oder bei einer Preisverleihung der wirtschaftsliberalen Gesellschaft für soziale Marktwirtschaft ein ungeplantes Koreferat hielten (Der Reform-Glanz schwindet).

Französisch reden!

Auf der zentralen Bühne der Großdemonstration hing die von mehreren Rednern sinngemäß wiederholte Parole „Mit der Regierung französisch reden.“ Damit wurde auf die Erfolge einer breiten Massenbewegung gegen die sozialen Verschlechterungen in Frankreich hingewiesen, die zumindest in Teilen erfolgreich war. Seitdem gehört die Parole „Französisch reden“ zum Standardrepertoire der verschiedenen sozialen Bewegungen.

Bei den Studierendenprotesten der letzten Wochen gab es erste Antworten. Vor allem in den drei Bundesländern Hamburg, Hessen und Nordrhein-Westfalen, in denen aktuell Studiengebühren eingeführt werden sollen, versuchen die Aktivisten die Erfahrungen aus unserem westlichen Nachbarland umzusetzen. Das drückt sich etwa in einer Änderung der Aktionsformen aus.

In den letzten Jahren versuchten die Studierenden unter dem Motto "Lucky Strike" die Entscheidungsträger und die Öffentlichkeit von ihren Forderungen zu überzeugen. Sie sprangen unter dem Motto „Die Bildung geht Baden“ in Brunnen, gaben demonstrativ ihr „letztes Hemd“ oder verteilten Bildungsplätzchen. „Die Öffentlichkeit lobte die Kreativität der Proteste und nahm sie politisch nicht ernst“, so das Resümee eines Berliner Aktivisten.

Bei den aktuellen Protesten hingegen überwogen Blockaden, Besetzungen von Gebäuden, Straßen, Autobahnen und Bahngleisen. Auch unter Aktivisten anderer sozialer Initiativen werden neue Aktionsformen interessiert verfolgt. Auf den angekündigten dezentralen Aktionstagen während der Fußballweltmeisterschaft soll dann der erste Praxistest erfolgen.