Der Stoff, aus dem Physiker-Träume sind

Ein uraltes chinesisches Pigment birgt eine Überraschung für die Quantenphysiker

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Vor mehr als 2.000 Jahren mischten chinesische Chemiker ein ganz besonderes Farbmittel mit fantastischen Eigenschaften. Die Terrakotta-Armee des ersten Kaisers von China wurde damit bemalt. Eine Meisterleistung, die nicht nur Archäologen entzückt, denn das so genannte Han-Purpur oder Chinesisch-Violett entpuppt sich zunehmend als ein Stoff, der faszinierende quantenmechanische Eigenschaften hat. Ein neues Experiment beweist, dass das Material unter bestimmten Umständen die dreidimensionale Welt verlässt, um zweidimensional zu reagieren.

1974 entdeckten Bauern in einem chinesischen Dorf in der Provinz Shaanxi Tonscherben und Pfeilspitzen, als sie einen Brunnen bohren wollten. Die Suche nach Wasser endete als archäologische Sensation, denn sie waren auf den Grabhügel des ersten chinesischen Kaisers, Qin Shihuang (259 - 210 v.Chr.), gestoßen und dessen letzte Ruhestätte wurde von tausenden, lebensgroßen Kriegern aus Ton bewacht.

Die Terrakotta-Armee des Kaisers Qin Shihuang marschiert durch eine Landschaft aus Han-Purpur-Kristallen (Bild: National High Magnetic Field Laboratory/John Griffin, Michael Davidson, Marcelo Jaime)

Die Terrakotta-Armee von Xian, der alten Hauptstadt Chinas (aktuelle Ausstellung: Xi'an – Kaiserliche Macht im Jenseits in der Kunst- und Austellungshalle der Bundesrepublik Deutschland), besteht aus Soldaten mit individuellen Gesichtszügen, begleitet von Pferden und Wagen (Emperor Qin’s Terra-cotta warriors and horses museum und Quin-Terrakotta Armee). Die Armee, die dem Kaiser das letzte Geleit gab, steht seit 1987 auf die Liste des Weltkulturerbes der UNESCO.

Die Tonskulpturen waren alle bemalt, aber der aufwändige Lack löste sich schnell ab, nachdem die Stücke aus der feuchten Erde geborgen waren. Die Trockenheit zerstört die aufgebrachten, leuchtend bunten Farben – nur High Tech kann den Prozess aufhalten (Chemists stop flaky fate of terracotta warriors und Das Grabmal des ersten chinesischen Kaisers. Die Konservierung der Terrakotta-Armee als chemische Herausforderung). Dazu kam die nötige Bekämpfung von Schimmelpilzen (Rettung mit Fungiziden, PEG und Acrylester).

Die Analyse der Farbmittel ergab erstaunliches: Die altchinesischen Chemiker bzw. Alchimisten hatten, vermutlich durch Experimentieren, vollsynthetische Pigmente hergestellt. Han-Purpur ist ein Barium-Kupfer-Silikat (BaCuSi2O6), die aus einem Bariummineral wie Schwerspat, einem Kupfermineral wie Malachit oder Azurit und Sand (Quarz) bei großer Hitze (ca.1000 Grad Celsius) hergestellt wurde. Die Experten waren besonders überrascht, dass das Pigment eine Kupfer-Kupfer-Bindung enthält, den chemische Bindungen zwischen Metallen sind – außer in Metallen selbst – etwas ganz besonderes (Zum Jubiläum die Lösung).

Han-Purpur und Quantenphysik

Bereits 2004 war es einem internationalen Team von Wissenschaftlern gelungen, aus dem altchinesischen Pigment ein Bose-Einstein-Kondensat (BEC) herzustellen. Dieser Quantenzustand ist sehr speziell und führt dazu, dass die Atome vorübergehend ihre Eigenständigkeit aufgeben: Sie verhalten sich wie ausgedehnte Wellenpakete und schwingen im Gleichtakt, sozusagen wie ein Superatom (Das ultracoole Superatom). Dieser spezielle Aggregatszustand von Materie tritt bei großer Kälte nahe dem Nullpunkt (0 Kelvin oder -273°C) auf. Han-Purpur geht bereits bei -234°C in ein Bose-Einstein-Kondensat über, wenn zusätzlich ein starkes Magnetfeld ins Spiel gebracht wird (Scientists explore atomic mysteries of ancient pigment und Characteristic BEC scaling close to Quantum Critical Point in BaCuSi2O6).

Jetzt hat ein internationales Team von Wissenschaftlern noch exotischeres beobachtet. In der aktuellen Ausgabe des Wissenschaftsmagazins Nature berichten Suchitra Sebastian von der Stanford University und Kollegen vom Los Alamos National Laboratory, dem National High Magnetic Field Laboratory in Tallahassee und der University of Tokyo über eine Reduktion der Dimensionen, wenn Han-Purpur den so genannten quantenkritischen Punkt überschreitet (Dimensional reduction at a quantum critical point). Dieser Moment des Übergangs (Quantum criticality) bei Tiefsttemperatur von einem Zustand in den anderen verändert die Welt des chinesischen Pigments von 3D zu 2D.

Die Wissenschaftler erklären das exotische Verhalten von Han-Purpur im BEC anhand des Rubik-Zauberwürfels (Bild: Stanford University)

Die Forscher vergleichen den Vorgang mit einem Rubik-Zauberwürfel, dessen 54 verschieden gefärbte Teiloberflächen sich in der Hand eines Könners schnell geordnet in sechs Würfelseiten mit jeweils einheitlicher Farbe verwandeln. So wie bei diesem Drehpuzzle verändert sich Han-Purpur bei extremer Kälte und in einem starken Magnetfeld von einem nicht magnetischen, ungeordneten Nichtleiter in ein magnetisches, geordnetes Kondensat. Die Komponenten, die Rubiks einzelnen Würfelflächen entsprechen, sind dabei die Spins, die Kreiselbewegungen der Elektronen, die entweder als links- oder rechtsdrehend ("up" oder "down") bezeichnet werden.

Beim Phasenübergang erreicht das Pigment den kritischen Quantenpunkt und erreicht in seinem neuen, vereinten Verhalten das zweidimensionale Flachland. Individuell bleibt jedes Teilchen zwar dreidimensional, kollektiv interagieren die Spins aber nur in zwei Dimensionen. Einer der beteiligten Wissenschaftler Ian Fisher von der Stanford University erklärt:

Wir haben bewiesen – zum ersten Mal –, dass das kollektive Verhalten in einem dreidimensionalen Substrat tatsächlich zweidimensional erfolgen kann. Eine niedrige Dimensionalität ist ein Schlüssel-Bestandteil vieler exotischer Theorien, die vorgeben verschiedene, bislang kaum verstandene Phänomene erklären zu können, darunter die Hochtemperatur-Supraleitung. Aber bislang gab es keine klaren Beispiele einer „dimensionalen Reduktion“ in realen Materialien.

Der Effekt tritt auf, wenn ein Magnetfeld mit einer Stärke von 23 Tesla (800.000 mal stärker als das Erdmagnetfeld) angelegt wird und Temperaturen von 1 bis 3 Kelvin (-270…272°C) herrschen. Der Zustand des Bose-Einstein-Kondensats wird erreicht. An diesem quantenkritischen Punkt beeinflussen die Pigment-Partikel den Spin ihrer Nachbarn nicht mehr gegenseitig von oben nach unten, rechts und links (und umgekehrt), sondern sozusagen nur noch im Flachland, denn die magnetischen Wellen rollen nur noch auf einzelnen Gitterebenen – faktisch zweidimensional. Teammitglied Marcelo Jaime vom Los Alamos National Laboratory ist von dem wissenschaftlichen Durchbruch begeistert:

Wie es oft in der Wissenschaft passiert, haben wir etwas gefunden, nachdem wir gar nicht gesucht haben. Zu unserer großen Überraschung stellten wir fest, dass bei ausreichend niedriger Temperatur der Übergang in einen neuen magnetischen Zustand in einer unerwarteten Weise vor sich geht.

Potenzielle praktische Anwendungen von Bose-Einstein-Kondensaten sehen die Forscher in künftigen Quantencomputern (Stabile Schrödinger-Katzen) und in der Entwicklung von hoch empfindlichen Messinstrumenten.