Am Rande der Ratlosigkeit

Wenn die Studentenzahlen so rasant steigen, wie derzeit prognostiziert wird, droht dem deutschen Bildungssystem der endgültige Kollaps. Überzeugende politische Konzepte sind noch nicht in Sicht

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Bis 2014 wird die Zahl der Studierenden in Deutschland aller Voraussicht nach auf 2,7 Millionen steigen. Das ist erfreulich und auch notwendig, wenn sich die selbsternannte Heimat der Dichter und Denker wenigstens im weiteren Verlauf des 21. Jahrhunderts in Richtung einer modernen Wissensgesellschaft entwickeln, die wichtigsten Ressourcen der Menschen optimal nutzen und international halbwegs konkurrenzfähig bleiben will. Der Anteil der Studienanfänger eines Jahrgangs lag 2005 zwar bei 36,7% und damit knapp 10% über dem Wert von 1995. Im Vergleich zum Durchschnitt aller OECD-Staaten fehlen aber noch über 15%.

So positiv der Anstieg der Studentenzahlen unter diesen Voraussetzungen zu werten ist, so bedenklich erscheint der Umstand, dass er kaum planmäßig herbeigeführt wurde. Der prognostizierte Aufwärtstrend verdankt sich nur sehr bedingt einer grundlegenden Verbesserung der Studienbedingungen, dem Ausbau der Hochschulkapazitäten oder erweiterten Fördermöglichkeiten für den akademischen Nachwuchs. Verantwortlich sind stattdessen die geburtenstarken Jahrgänge, die bis Mitte des kommenden Jahrzehnts die Schulen verlassen, und dann auch die ab 2008 geplante Schulzeitverkürzung auf 12 Jahre mit der unvermeidlichen Folge doppelter Abiturientenjahrgänge.

Auch die neuen internationalen Studiengänge können erhebliche Nebeneffekte auf die Gesamtzahl der Studierenden haben. Denkbar wäre beispielsweise, dass sich viele Jungakademiker nach drei Jahren Studium nicht mit dem Bachelor-Titel begnügen wollen, sondern noch einige Semester drauflegen, um mit dem renommierteren Master bessere Chancen auf dem Arbeitsmarkt zu haben. Die Hochschulrektorenkonferenz ging schon 2003 davon aus, dass die internationalen Masterprogramme „einen besonders hohen Betreuungsaufwand ihrer Studierenden“ erfordern, aktuelle Schätzungen erwarten eine 15%ige Steigerung der Personalkosten, wenn die Bachelor- und Master-Programme effektiv durchgeführt werden sollen.

Zusatzkosten in Milliardenhöhe

Summa summarum erwarten Experten pro Jahr Zusatzkosten im Bereich von mehren hundert Millionen € bis zu deutlich über zwei Milliarden Euro in den kritischen Jahren 2012 bis 2014. Mittlerweile hat sich das Problem auch bei den politisch Verantwortlichen herumgesprochen. Das geplante Kooperationsverbot zwischen Bund und Ländern, das nach dem Willen der CDU zentraler Bestandteil einer Föderalismusreform sein sollte, ist schon wieder Geschichte, da es die einzelnen Landesregierungen noch weiter in den finanziellen Ruin treiben würde. Doch über die Streichung einer falschen Antwort sind die Beteiligten nicht hinausgekommen. Nach wie vor ist vollkommen unklar, wie die Mehraufwendungen finanziert werden sollen, und also folgt man dem Beispiel der Präsidentin der Kultusministerkonferenz (KMK), Ute Erdsiek-Rave, und verbreitet bis auf weiteres jede Menge Optimismus.

Die Bemühungen der Länder um ein ausreichendes Angebot an Studienplätzen müssen durch den Bund unterstützt werden und dieser hat seine Bereitschaft erklärt. Es handelt sich dabei um eine gesamtstaatliche Herausforderung, bei der wir alle Kräfte bündeln müssen. Die bisherigen Verhandlungen mit dem Bund um einen Hochschulpakt stimmen uns in der KMK positiv.

Ute Erdsiek-Rave

Fast überflüssig zu erwähnen, dass der Hochschulpakt 2020 bis heute nicht mehr ist als eine Absichtserklärung, die nach Problembewusstsein und energischen Lösungsstrategien klingt, aber vorerst keine praktischen Maßnahmen vorsieht. Bund und Länder wollen sich den künftigen Herausforderungen „in veränderter föderaler Aufgabenteilung gemeinsam stellen“, heißt es da und verweist den kommissionserprobten Interessenten ansonsten an die obligatorische Staatssekretärs-Arbeitsgruppe, die immerhin schon mit der Erarbeitung eines konkreten Vereinbarungsentwurfs beschäftigt sei.

In der Realität bedeutet das wenig. Die meisten Bundesländer bereiten sich durch geduldiges Abwarten auf ihre neue hochschulpolitische Verantwortung vor. Oder sehen in der Einführung von Studiengebühren ein probates Mittel, „um mit zusätzlichen Lehrkräften eine bessere Betreuung von Studierenden zu erreichen, um die technische Ausstattung zu verbessern oder zusätzliche Bücher in den Bibliotheken anzuschaffen.“ So formulierte es Hamburgs parteiloser Senator für Wissenschaft und Gesundheit, Jörg Dräger, in einem offenen Brief, der bei den Studentinnen und Studenten der Hansestadt auf wenig Gegenliebe stieß.

Vorausschauende Planungen haben Seltenheitswert

Immerhin hat Baden-Württemberg schon einmal ausgerechnet, dass in den kommenden Jahren 16.000 neue Studienplätze geschaffen und Investitionen in möglicherweise neunstelliger Höhe getätigt werden müssten.

Auch Rheinland-Pfalz will das Problem perspektivisch angehen. Hier ist die Anzahl der Studierenden in den zehn Jahren zwischen 1994 und 2004 um 22% gestiegen. Im vergangenen Wintersemester wurde mit 101.516 Studentinnen und Studenten erstmals die 100.000-Grenze übersprungen. Der zuständige Staatsminister Jürgen Zöllner darf schon allein deshalb mit einem weiteren Zuwachs rechnen, weil sein Land vorerst keine Studiengebühren einführen will und damit für den akademischen Nachwuchs in benachbarten Bundesländern noch attraktiver wird.

Im Gegensatz zu den meisten anderen Fachministern hat sich Zöllner allerdings schon Gedanken gemacht, wie auf die veränderte Situation der nächsten Jahre reagiert werden könnte. Von 2005 bis 2009 sollen den Universitäten und Fachhochschulen des Landes im Rahmen des Programms „Wissen schafft Zukunft“ 125 Millionen € zusätzlich zur Verfügung gestellt werden. Außerdem ist ab 2007 eine bundesweit einmalige, studienplatzbezogene Finanzierung der Bildungseinrichtungen vorgesehen, die auf einer leistungs- und belastungsorientierten Mittelzuweisung basiert.

Das zuständige Bundesministerium setzt dagegen vorwiegend auf Prestigeprojekte, die den Forschungsstandort Deutschland voranbringen sollen. Im gerade verhandelten Haushaltentwurf 2006 sind für das Bundesministerium für Bildung und Forschung 8,003 Milliarden Euro vorgesehen, mit denen unter anderem die Exzellenzinitiative Spitzenuniversitäten, der Pakt für Forschung und Innovation oder ambitionierte Vorhaben in den Bereichen Lebenswissenschaften, Neue Technologien und umweltgerechte nachhaltige Entwicklung unterstützt werden sollen. Außerdem beteiligt sich der Bund an den Baukosten für wissenschaftliche Großgeräte wie PETRA III oder X-FEL und fördert die naturwissenschaftliche Grundlagenforschung insgesamt mit 94 Millionen Euro.

Das ist aller Ehren wert, schürt aber auch den Verdacht, dass sich die Bundesministerin für Bildung und Forschung, Annette Schavan (CDU), gar nicht erst mit einem Gesamtkonzept beschäftigen will. Die ganze Aufmerksamkeit gilt den vermeintlichen Spitzenuniversitäten, Exzellenzclustern, internationalen Forschungsprojekten und akademischen Führungskräften, die das angeschlagene Image der deutschen Bildungslandschaft aufpolieren sollen.

Die durchschnittlichen Lehramts-, BWL- oder Sportstudenten können offenbar sehen, wo sie bleiben, sich Hörsäle und Professoren in Zukunft mit noch mehr Kommilitonen teilen, in den Unibibliotheken noch ein paar Jahre länger auf die wichtigsten Neuerscheinungen warten und sich im übrigen fragen, ob sie nicht doch besser Autoschlosser oder Maler und Lackierer geworden wären.

Umfassender Reformbedarf auf allen Ebenen

Die Berliner Abteilung der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft hat unlängst noch einmal darauf hingewiesen, dass die Herausforderungen, vor den Universitäten und Fachhochschulen in Zukunft stehen, nicht mit Teillösungen oder kosmetischen Korrekturen bewältigt werden können. Allein die Neuorganisation der Personalstruktur erfordert Grundsatzentscheidungen und umfassende, weitsichtige Planungen, die dem Umstand Rechnung tragen, dass alle Studentinnen und Studenten Anspruch auf qualitativ hochwertige Unterrichtseinheiten und ein Mindestmaß an persönlicher Betreuung haben.

Deshalb ist es nach Einschätzung der GEW „nicht länger hinnehmbar“, wenn einzelne Fachhochschulen bereits bis zu 50% ihrer Lehrverpflichtungen durch (schlecht bezahlte) Lehrbeauftragte wahrnehmen lassen. Stattdessen fordert die Gewerkschaft, das gesamte Personal einschließlich der Professorinnen und Professoren künftig im Angestelltenverhältnis zu beschäftigen, ein neues Verständnis von wissenschaftlicher und künstlerischer Arbeit, die eben nicht nur von Professoren geleistet werden kann, zu entwickeln und eine konsequente Ausgabenkritik auf allen Ebenen zu üben. In der Tat umfasst der Reformbedarf alle Ebenen und verträgt sich schlecht mit den gängigen Tabus und Halbherzigkeiten.

Eine Reform der Personalstruktur, die sich den Anforderungen und Aufgaben der Hochschulen stellt, ist ohne zusätzliche finanzielle Mittel und ohne eine Ausweitung des Stellenrahmens nicht realisierbar. Das betrifft vor allem die Ziele der Aufnahme von mehr StudienanfängerInnen und der besseren Betreuung der Studierenden. Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass die Arbeitsbelastung des vorhandenen Personals bereits jetzt vielfach zumutbare Grenzen überschritten hat.

GEW Berlin

Derzeit deutet wenig darauf hin, dass Bund und Länder dieser Aufgabe, die neben einem langen Atem die Bereitschaft erfordert, sich auch auf kleine und unscheinbare Arbeitsschritte einzulassen, gerecht werden können. Die öffentliche Diskussion trägt durch Begriffe wie „Studentenberg“ allerdings auch nicht dazu bei, den wissenschaftlichen Nachwuchs als Zukunftschance zu begreifen und ihm gleichzeitig ebensolche zu eröffnen. Er spiegelt vielmehr genau die Passivität und Ratlosigkeit wieder, mit der die deutsche Bildungspolitik den Anstieg der Studentenzahlen schon in früheren Jahrzehnten über sich ergehen ließ.

Aus den Folgen, die keineswegs auf katastrophale Ergebnisse bei internationalen Leistungsvergleichen begrenzt sind, sondern auch psychologische, wirtschaftliche und soziale Entwicklungen tangieren, haben die Verantwortlichen bislang nichts gelernt.